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Die Tragödie des Episodischen: Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy
Die Tragödie des Episodischen: Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy
Die Tragödie des Episodischen: Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy
eBook476 Seiten5 Stunden

Die Tragödie des Episodischen: Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy

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Über dieses E-Book

Im dominierenden chronologisch-linearen Zeitmodell des abendländischen Denkens ereignen sich Geschehnisse immer schon aus einer übergeordneten zeitlich-chronologischen Ordnung heraus und fallen in die linear verfasste Zeit ein. Damit trifft eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension innerhalb der Erzählung auf eine geschlossene, zirkuläre Zeitstruktur, deren unauflösbarer Widerstreit im theoretischen Fokus dieser Arbeit steht. Mit Rekurs auf theoretische Arbeiten von Ricoeur und Bachtin wird aufgezeigt, dass es sich bei diesem Widerstreit in modaler Hinsicht um den zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufalls handelt.

In einer anschließenden Lektüre des Romans Tristram Shandy (1759-1767) von Laurence Sterne, insbesondere der Erzählung von Onkel Toby, zeigt die Arbeit im Weiteren auf, inwiefern sowohl das Genre der Tragödie als auch das der abenteuerlichen Romanze im Text zwei konkrete gegnerische Widerlager bilden, mit deren gegenseitiger Konfrontation die narrativen Manifestationen der Aporien von Zeit und Kontingenz minutiös ausgeleuchtet werden können. Es wird rekonstruiert, inwiefern der Roman sowohl das Etablieren von einfachen Erzähllinien als auch ihr Scheitern erzählt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080081
Die Tragödie des Episodischen: Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy
Autor

André Schwarck

André Schwarck studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie Universität Kiel.

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    Buchvorschau

    Die Tragödie des Episodischen - André Schwarck

    Bibliographie

    1. Zufall und Kontingenz in der Narratologie

    1.1 Einführung

    1.1.1 Das Denken ‘der Zeit’

    Musste man die Zeit denken? Mit dieser Frage versucht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in seiner Schrift Über die ‘Zeit’ einen Standpunkt einzunehmen, der es ihm erlaubt, das okzidentale Denken der Zeit von einem Außerhalb (13) zu betrachten. Dieses ‘Außerhalb’, so glaubt er, könnte das chinesische Denken sein, denn China, so Jullien, habe zwar den jahreszeitlichen ‘Moment’ und die ‘Dauer’ gedacht, nicht aber eine Hülle, die sie beide enthielte und welche die homogen-abstrakte ‘Zeit’ wäre (10).¹ Wenn der europäische Philosoph seinen Blick auf China richtet, so hofft Jullien, dann frage er sich womöglich, was das für ein Denken sei,

    das weder die ‘Körper’ in ‘Bewegung’ gedacht hat, also das, was Ausgangspunkt unserer Auffassung von physikalischer Zeit, von der ‘Zahl der Bewegung’ ist, noch das, woraus die Metaphysik entsteht, nämlich die Entgegensetzung von Zeitlichem und Ewigem oder Sein und Werden, und dessen Sprache es schließlich durch Verzicht auf Konjugation vermeidet, Zeiten, also Futur, Präsens und Vergangenheit, gegeneinander zu stellen?

    Julliens primäre Absicht besteht offenbar darin, nach einer Alternative zum bzw. im Denken der Zeit zu fragen (10). In obigem Zitat führt er die für ihn wichtigen drei Ebenen (15) des okzidentalen Verständnisses der Zeit auf, mit denen die westliche Philosophie sich in ihrem Denken der Zeit eingerichtet habe: die der Physik, wo die Zeit dazu dient, die Bewegung zu denken; die der Metaphysik, wo das Zeitliche in Opposition zum Ewigen aufgefaßt wird; die Grammatik, wo die Zeit durch die unterschiedlichen Tempora der Konjugation definiert wird (15). Jullien zufolge sind diese drei Grundvorstellungen so verschiedenartig und inkommensurabel, dass die unvermeidlichen Aporien, die sich in ihrem reflexiven Übereinanderblenden einstellen, mittlerweile zu Gemeinplätzen des philosophischen Denkens geworden sind:

    Wenn ich mir aber die Mühe gemacht habe, diese Gemeinplätze erneut durchzugehen, dann um zwei Dinge zu zeigen oder vielmehr zu verbinden: einerseits das von aller Welt Gewußte […], nämlich daß die Zeit, trotz ihrer scheinbaren, durch althergebrachten Gebrauch gestützten Evidenz, philosophisch notwendigerweise ein enigmatischer Ort ist; und andererseits, daß unsere Diskurse über sie sehr schnell zu erstarren pflegen. […] Diese verschiedenen Furchen, zwischen denen sich die Frage der Zeit entfaltet hat, erweisen sich als ausgetretene Pfade, als Routine – als Gewohnheit. (17)

    Die vorliegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Zeit und Erzählung werden sich ebenfalls entlang dieser Furchen bewegen. Und zwar insofern, als mit der im Hauptteil vorgelegten Lektüre von Laurence Sternes Tristram Shandy diese verschiedenen Ebenen des linear-chronologischen Denkens der Zeit bewusst übereinander geblendet werden sollen. Analog zu Jullien ließe sich nämlich für das Denken der Erzählung fragen: Müssen Ereignisse erzählt werden? Paul Ricœur hat bekanntlich genau diese Frage in einem anthropologischen Sinne bejaht, insofern er daran glaubte, dass nur die Erzählung, aufgrund ihrer spezifischen narrativen Verfasstheit, den Aporien des Zeitdenkens eine Antwort zu geben vermag. Diese von Ricœur vollzogene Zusammenstellung von Zeit und Erzählung wird in den folgenden theoretischen Überlegungen einen wichtigen Leitgedanken darstellen. Mit Ricœur soll die Annahme geteilt werden, dass die von Jullien aufgezählten unterschiedlichen Sichtweisen der Zeit in der ‘Erzählung’ ihr aporetisches Potenzial entfalten, weil sie in diesem Medium immer schon aufeinander bezogen sind, ohne ihre Widerstreitigkeit dabei zu verlieren. Vorgreifend könnte mit Rekurs auf Jullien die ‘Erzählung’ auch als eine Art kulturelles Artefakt bezeichnet werden, das in seinem Gebrauch stets den Anlass gegeben hat, den von ihm beschriebenen Übergang von enigmatischem Phänomen zu routinierter Reflexion der Zeit immer wieder zu vollziehen. Die Erzählung wäre demnach ein Ort, in dem sich die von Jullien bezeichneten ausgetretenen Pfade immer wieder hartnäckig miteinander verschränken und eine Reflexion der Zeit stets aufs Neue provozieren. Dies wäre für sich genommen wohl noch keine genuin neue Erkenntnis. Die narratologische Forschung hat sich schließlich spätestens sei Genette vornehmlich mit grundlegenden temporalen Konstellationen beschäftigt, und die Literaturgeschichte des Romans ist immer wieder als eine Art Reflexion des Genres auf seine eigene temporale Verfasstheit beschrieben worden.

    Das grundlegende Desiderat jedoch ergibt sich aus der nahezu ausschließlichen Vernachlässigung modaler Verhältnisse. Weder Jullien noch Ricœur stellen die von ihnen konstatierten aporetischen Spekulationen der Zeit in einen näheren Zusammenhang zur modalen Kategorie der Kontingenz. Eben dies unterlässt auch die traditionelle narratologische Forschung. Wenn etwa Ricœurs Annahme stimmen sollte, dass die Erzählung immer schon aporetische Strukturen der Zeit auf ihre Weise reflektiert, dann kann dies nur hinreichend erfasst werden – so die grundlegende These der vorliegenden Arbeit –, wenn diese Aporien auch in Hinsicht auf eine basale modaltheoretische Dimension beschrieben werden. Das chronologisch-lineare Zeitmodell des abendländischen Denkens ist immer auch schon eines, in dem sich Ereignisse aus einer übergeordneten zeitlichchronologischen Ordnung heraus (als eine Hülle der Zeit, um es mit Jullien auszudrücken) ereignen und in die linear verfasste Zeit (der Bewegung) einfallen. Eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension trifft innerhalb der Erzählung schon immer auf eine geschlossene, eher zirkuläre Zeitdimension, deren unauflösbarer Widerstreit nur mit einer ereignishaften Verschränkung noch näher zu bestimmender modaler Bestimmungen erfasst werden kann. Ganz gleich, welche Dichotomien in der Erzählung antagonistisch aufeinandertreffen ob Sukzession vs. ‘fließende Bewegung’, Kontinuität vs. Diskontinuität, Irreversibilität vs. Reversibilität oder Indeterminiertheit vs. Determiniertheit, es ist immer der modal-temporale Widerstreit zweier gänzlich unvereinbarer Entitäten, die gleichwohl auf einander bezogen werden müssen. Es ist der Widerstreit zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufall. Onkel Toby wird im Tristram Shandy an einer zentralen Stelle seines eigenen Schicksals ganz unbedarft und naiv sagen —’twas a matter of contingency, which might happen, or not, just as chance ordered it (693).

    1.1.2 Kontingenz und Narratologie

    Die vorliegende Arbeit geht von der grundlegenden Annahme aus, dass es sich bei einer Erzählung um ein Ordnungsmodell von einzelnen zeitlichen Ereignissen handelt. Das setzt wiederum voraus, dass mit der Verhandlung von einzelnen Ereignissen im Sinne offener Eventualitäten und einem wie auch immer verfassten übergeordneten Ordnungsprinzip zwei absolut unterschiedliche Dimensionen die Erzählung prägen. Diesen wohl unstrittigen Zusammenhang erläutern etwa Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie anhand der von ihnen vornehmlich vorgestellten Ansätze strukturalistischer Provenienz. Demnach bestimmen auch Vertreter solcher Ansätze innerhalb der Erzähltheorie die Aspekte der zeitlichen Ordnung und der erzählten Abfolge von Ereignissen als die beiden konstitutiven Aspekte einer Erzählung. Dabei wird Letztere meist nicht nur in ihrer reinen Sequenzialität erfasst, vielmehr soll an der zu beschreibenden Folge bzw. Verknüpfung der erzählten Ereignisse eine spezifische ‘Veränderung’ – ein ‘change of states’–ablesbar sein. Traditionell werden hierbei bekanntlich nicht nur temporale, sondern meist auch kausal motivierte Verknüpfungsprinzipien bei der Erstellung analytisch-narratologischer Kategorien und Begriffe berücksichtigt. Sieht man einmal von kausalen Zusammenhängen ab und betrachtet hinsichtlich der begrifflichen Beschreibung eines narrativen Ereignisses primär temporale Verknüpfungsprinzipien wie ‘Anfang’ und ‘Ende’ oder ‘früher’ und ‘später’, dann fällt laut Martinez und Scheffel auf, dass solche Begriffe nur verwendet werden können, wenn eine epistemische (oder auch kognitive) Position eingenommen wird, die dem beschriebenen Ereignis gegenüber zukünftig (121) ist. Das gesamte Geschehen der erzählten Welt kann als bereits ‘vergangen’ bezeichnet werden, insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst und im Präteritum erzählt wird, als chronologische Gestalt, in welcher bereits der Anfang sinnhaft auf das Ende bezogen ist (119). Trotz dieser offenbar konstitutiven ‘Geschlossenheit’ einer jeden Erzählung lässt sich aber auch beobachten, dass die meisten Texte ihre größte Spannung dann entfalten, wenn sie das dargestellte Geschehen als ein offenes und gegenwärtiges erfahrbar machen. Dem Leser wird es mehr oder weniger ermöglicht die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen (119) zu verstehen. Für ihn stellen sie dann potenziell Handelnde dar, die als Unwissende in eine offene Zukunft blicken, die sie jedoch ihren eigenen Möglichkeiten gemäß zu beeinflussen suchen. Matias Martinez und Michael Scheffel nennen diese vermeintlich paradoxe Struktur geschlossener und offener Ordnungen die doppelte Zeitperspektive des Erzählens (119).²

    Spätestens seit Genettes triadischer Einteilung der Erzählung in histoire, discours und narration schienen die analytisch-heuristischen Grundlagen aufgestellt zu sein, um die theoretischen Komplikationen dieser beiden perspektivisch konträren zeitlichen Ordnungen beschreiben zu können. Jedoch wurde in grundlegenden Gegenstandsbestimmungen der Erzähltheorie oftmals das Verhältnis von histoire- und discours-Ebene zum ausschlaggebenden Kriterium des ‘Narrativen’ erklärt. Dabei war für die histoire meist der die chronologische Geschlossenheit suggerierende Strukturbegriff ausschlaggebend. Die discours-Ebene wurde hingegen mit Begriffen wie Repräsentation oder Medium erfasst und somit indirekt auf die histoire-Ebene bezogen, wenn nicht gar aus ihr abgeleitet, je nachdem wie stark in ihr das anachronistische Ordnungspendant der histoire gesehen wurde.³ Dies geschah nach Ansicht einiger Kritiker vor allem zuungunsten der als temporal vorgängig gedachten Ebene der Narration, die in der Trias von Genette als diejenige Dimension erscheint, mit der die als ‘offen’ und ‘ereignishaft’ wahrgenommenen erzählten Ereignisse am angemessensten erfasst werden können. Die entscheidende Kategorie, auf die sich diese Kritiker dabei berufen, ist der modale Begriff der ‘Kontingenz’. Zwei argumentative Beispiele, die das Anliegen einer solchen Kritik demonstrieren, seien hier kurz vorgestellt.

    Eine vehemente Kritik gegen die strukturalistische Erzähltheorie führt David Wellbery in seinen Aufsätzen Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs und dem englischsprachigen Contingency (beide 1992) aus, in denen er ein ausdrückliches Plädoyer für die Berücksichtigung des Kontingenzbegriffs in der Erzähltheorie vorträgt. Seiner Meinung nach gibt es innerhalb der Erzählforschung einen umfassenden Konsens darüber, dass das Feld des Narrativen in seiner Einheit durch den Begriff der ‘Handlung’ gewährleistet sei und diese wiederum in ihrer inneren Struktur die Form eines Satzes habe. Diese Bestimmung sei nun ihrerseits als zirkulär anzusehen, da sowohl der ‘Satz’ als auch die ‘Handlung’ nichts anderes seien als die zeitlich-lineare Entfaltung einer Intention oder eines Projekts, die am Ende das verwirklicht, was am Anfang schon vorgesehen war (Relevanz des Kontingenzbegriffs, 167). Demnach würde allem, was im Verlauf der Narration vorkäme – und es ist genau diese Ebene, deren theoretische Implikationen er vernachlässigt sieht – durch eine gewisse Ökonomie ein vorbestimmter Platz zugewiesen und so die narrative Zeit aus dem überzeitlichen Standpunkt einer Vor- und Rücksicht organisiert (167). Dieser logifizierten Zeitvorstellung und zirkulären Theorie des Narrativen setzt Wellbery eine achrone Ordnung der Kontingenz entgegen. Polemisch fordert Wellbery die Zirkularität der Handlungsdefinition aufzubrechen und das Narrative auf sein Anderes zu öffnen; auf die Dimension des jäh eintreffenden Zufalls (167). Mit der bekannten poststrukturalistischen Argumentation, dass ein theoretisch erfasster Einheitsbegriff seine vermeintliche Geschlossenheit nur aufrechterhalten kann, indem das durch ihn ‘Ausgeschlossene’ zur Möglichkeitsbedingung eben dieser Geschlossenheit avanciert, postuliert er weiter: Narrative Ordnung ist nur als begrenzte möglich, begrenzt durch eine Nicht-Narrativität, die aus einem Feld disjunktiver Möglichkeiten diese eine selegiert […] Ohne eine solche Selektion gäbe es keine Ereignisse, die sich in narrativen Sequenzen verketten ließen, aber diese Selektion selber – die Tatsache, dass dies und nicht etwas anderes geschieht – gehört keiner Chrono-logik an (168).

    Eine ähnliche, wenn auch von einem weitaus traditionelleren Standpunkt aus argumentierende Kritik einer solchen ‘geschlossenen’ Theorie des Narrativen findet sich in den Arbeiten des amerikanischem Slavisten G.S. Morson.⁴ Er sieht in den traditionellen poetologischen Konzepten die Tendenz, das Kontingente stark zu marginalisieren bzw. gänzlich aufzuheben. Für ihn sind ‘Struktur’ und ‘Geschlossenheit’ zwar unbestreitbare Gegebenheiten von Erzählungen, jedoch geht es ihm in seinen Untersuchungen vorwiegend darum, das Bestreben literarischer Texte aufzuzeigen, die Zeit, trotz der Tendenz narrativer Geschlossenheit, als eine offene Dimension zu präsentieren. Dabei hebt er hervor, dass auch in der poetologischen Tradition Bedeutung in Erzählungen immer im Zusammenhang mit dem Herauslesen der jeweiligen Ereignishaftigkeit (eventfulness) verbunden wurde (Sideshadowing and Tempics 600). Jedoch wird ihm zufolge durch die synchrone Struktur der Werke die offene Zeit derart verräumlicht, dass wirkliche ‘eventfulness’ nur noch im übertragenen Sinne für die Figuren des Textes fortbestehe. Infolgedessen wird die Zeit auf eine solche Weise symmetrisiert, dass jedes Ereignis in einem festen und funktionalen Verweisungszusammenhang zu anderen Ereignissen stehe. Die von Morson herangezogene Gegenfolie ergibt sich aus den zeitlich-modalen Verhältnissen des wirklichen Lebens. But in Life, and for most novelistic characters, time is asymmetrical. While the past is fixed, the future is experienced as open and the present possesses real presentness, in which the weight of chance and choice may lead to many different outcomes (600). Dieses Idealbild des offenen und kontingenten wirklichen Lebens wird dann bei Morson im Sinne eines spezifischen realism wieder an die Texte herangetragen. Der Autor muss entsprechend die geschlossenen Strukturen der Erzählung immer schon durch sein künstlerisches Können überwinden; mustergültig habe dies etwa Dostojewskij gezeigt, der sich Morson zufolge als ein extreme devotee of realism der Aufgabe verpflichtet habe to represent the radical contingency of the world (599). Im Gegensatz dazu wendet sich Morson gegen einen affirmativen und normierenden Gebrauch geschlossener Strukturen seitens der Romanautoren. Um dem entgegenzuwirken, entwickelt er eine Lesetechnik – die er mit dem Neologismus tempics bezeichnet – welche die Implikationen, die von den Phänomenen ‘Zeit’ und ‘Kontingenz’ ausgehen, bei der Lektüre berücksichtigt (as a way of reading that takes time and contingency seriously [599]).

    Sowohl anhand Wellberys dezidierter Forderung nach einer Berücksichtigung des ‘achronischen Zufalls’ – bei einer noch ausstehenden Etablierung poststrukturalistischer narratologischer Theoreme innerhalb der Erzähltheorie – als auch anhand von Morsons eher pragmatisch bezogener Lektürekonzeption der tempics sollte deutlich geworden sein, inwiefern die theoretische Reflexion der konträren Ebenen offenen und geschlossenen Erzählens zu fundamentalen und komplexen erzähltheoretischen Grundfragen führen kann. Insbesondere bei Wellbery ist zu erkennen, dass die Parteinahme für die Berücksichtigung der narrativen Darstellung gegenwärtiger, offener und dem Zufall ausgesetzter Momente bei der narratologischen Analyse unmittelbar zu meta-narratologischen Überlegungen verleitet, die die Grenzen der theoretischen Beschreibbarkeit des Narrativen überschreiten. Um dem geschlossenen Ordnungsbegriff der Handlung etwas entgegen-zusetzen, verlässt Wellbery die narrative Ordnung der Erzählung und wendet sich der ihr vorausgehenden Ebene der Selektion der narrativen Elemente zu. Doch es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Selektion der erzählten Ereignisse kontingent ist, da die Wahl eines jeden ausgewählten Erzählereignisses auch anders hätte ausfallen können. Wellbery wendet sich also von außen der chronologischen Ordnung zu, um den Kontingenzbegriff zu statuieren.

    Ähnlich verfährt auch Morson. Auch wenn seine Befunde über das Verhältnis zwischen offener und geschlossener Dimension des Erzählens zum Teil sehr aufschlussreich sind, insofern sie wechselseitige Spannungen innerhalb der Erzählung erläutern, so versucht auch er außerhalb der Erzählung eine Art Gegenrezept gegen die sich durchsetzende geschlossene Dimension des Erzählens zu finden. Ein solches vermutet er in den ‘realen Verhältnissen von Zeit und Kontingenz des wirklichen Lebens’. Das wahre Leben bildet sozusagen seinen (manchmal recht ideologischen) Ausgangspunkt, mit dem er sich gegen die Erzählung und ihre geschlossene Struktur wendet.⁵ Dies wirkt zuweilen ein wenig naiv, und Morsons Lektüren erscheinen gelegentlich wie eine Art kontingenztheoretischer Denkmalpflege, bei der es ihm vornehmlich um pragmatische Fragen des Umgangs mit der Literatur geht. So preist er etwa die Werke von Autoren, die ohne vorgefertigten Plan in einzelnen, seriellen Produktionsschritten entstanden sind und so eine spezifische Ausgangsoffenheit der Geschichten aufzeigen.⁶

    Den im folgenden von mir ausgeführten Reflexionen liegt die Prämisse zugrunde, dass mit dem klassischen Erzählmodell, welches sich literaturgeschichtlich vor allem im Genre des Romans durchgesetzt hat, die Fragen von Zeit und Zufall bzw. Kontingenz immer schon konzeptionell angelegt sind, insofern die doppelte Zeitperspektive des Erzählens die traditionellen Aporien des Denkens der Kontingenz und der Zeit auf eine noch genauer zu erläuternde Art und Weise medial verhandelt. Sowohl temporale als auch modale Offenheitskonzepte werden erst in einer spezifischen Auseinandersetzung mit der geschlossenen Ebene innerhalb der Erzählung erzeugt und müssen deshalb auch narrativ etabliert werden. Angesichts dieser Prämisse wirken Versuche, die offene Dimension entweder erzähltheoretisch durch von außen herangetragene theoretische Modelle zu erhalten oder durch literarische Pflegemaßnahmen im pragmatischen Umgang mit diesen Erzählungen zu konservieren, relativ ausweglos. Vielmehr gilt es zunächst, die inneren Mechanismen des traditionellen Erzählmodells daraufhin zu beleuchten, inwiefern sich in ihnen die aporetischen Grundfragen von Zeit und Kontingenz narrativ wiederfinden lassen (vgl. Abschnitt 1.2). In einem zweiten Schritt sollen dann die wichtigsten Aporien und Probleme im Denken von Kontingenz und Zeit – vor allem auch in ihrer gegenseitigen Verschränkung – skizziert werden (vgl. Abschnitt 1.3). Zuletzt gilt es dann, deren Niederschlag im traditionellen Erzählmodell anhand von zwei spezifischen Beispielen aufzuzeigen. Hierfür wurde das aristotelische Tragödienmodell gewählt, wie es in der Lektüre von Paul Ricœur zum Ausdruck gebracht wird, sowie der abenteuerliche Liebesroman (Romanze), wie ihn Bachtin in seiner griechischen Urform zu Beginn seiner romantheoretischen Schrift Chronotopos beschrieben hat (vgl. Abschnitt 1.4).

    Im abstrakten Sinne können diese beiden Beispiele nur sehr grob die möglichen Ausprägungen bzw. Koppelungen aufzeigen, nach denen sich modaltheoretische und temporale Aporien in der narrativen Umgebung des traditionellen Erzählmodells zeigen. Aber sie dienen zugleich in einem sehr konkreten Sinne zur Einführung der anschließenden Lektüre des Tristram Shandy. Denn wie noch ausführlich zu beschreiben sein wird, bilden sowohl das Genre der Tragödie als auch das der abenteuerlichen Romanze für Laurence Sterne die konkreten Widerlager, mit deren gegenseitiger Konfrontation er die narrativen Manifestationen der Aporien von Zeit und Kontingenz sowie deren spezifische Bindung an die doppelte Zeitperspektive des Erzählens in seinem Roman minutiös auszuleuchten vermochte.

    1.2 Der Zufall als die Aporie der Kontingenz

    1.2.1 Kontingenz und Zufall in der Metaphysik

    In der Philosophie wurde der Begriff ‘Kontingenz’ seit Aristoteles vornehmlich ontologisch bzw. logisch aufgefasst und stand lange Zeit in der Domäne modallogischer Zusammenhänge. In der antiken Überlieferung lautet die Definition: ‘Contingens est, quod potest non esse’ und ‘contingens est, quod potes aliud esse’. Kontingenz ist […] das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können (Gravenitz, Marquardt XI). Modallogisch wird Kontingenz also zum einen vom Begriff der Notwendigkeit begrenzt. Eine andere Abgrenzung erfolgt durch den Begriff der Unmöglichkeit.⁷ Eine klassische (ontologische) Formulierung lautete dann etwa: Wenn das notwendig Seiende und das unmöglich Seiende kategorisch ausgeschlossen sind, so bleibt der Kontingenz modal sowohl die Möglichkeit des Seins als auch die des Nichtseins inhärent. Es gibt also in Hinsicht auf die Modalität der Möglichkeit im Falle der Kontingenz eine doppelte: diejenige zu sein und diejenige nicht zu sein.

    Das philosophische Kernproblem dieser doppelten ontologischen Statusbestimmung des Möglichen wird dann akut, wenn das Mögliche auf Wirkliches bezogen wird. Zum einen, weil dann die ursprüngliche Abgrenzung zum Notwendigkeitsbegriff verschiedene Auslegungen desselben Sachverhalts ermöglicht, zum anderen, weil mit der Vorstellung der Verwirklichung des Möglichen eine temporale Dimension bzw. Relationierung berücksichtigt werden muss. Ein erster grober temporaler Zusammehang zwischen Wirklichkeit und Kontingenz kann mit Aristoteles betrachtet werden. In De Interpretatione arbeitet er den Zeitbezug der oben genannten zweiseitigen Möglichkeit heraus. Nur hinsichtlich des Zukünftigen kann gesagt werden, dass es sowohl sein kann als auch nicht sein kann. Vorgerückt in die Gegenwart, ist es entweder oder es ist nicht. Es müsste aber nicht sein, wenn zuvor die doppelte Möglichkeit bestand (zit. n. Wetz 28). Die Grundfrage, die sich stellt, sobald Mögliches von der Zukunft in die Gegenwart ‘vorrückt’, ist, wie bzw. ob ein Zusammenhang zwischen der doppelten Möglichkeit des Seins der Kontingenz und dem faktisch einfachen Sein des Wirklichen gedacht werden kann. Aristoteles bindet eindeutig das in der Gegenwart faktisch Gegebene an die in der Zukunft existierende Kontingenz zurück. Für ihn hätte das Wirkliche auch nicht sein müssen, solange es vorher kontingent war. Dies wird, wie bereits erwähnt, zum klassischen Auslegungsfall in der Geschichte avancieren. Gegenwärtiger und zukünftiger Moment werden darin über den Möglichkeitsbegriff reflexiv aufeinander bezogen. Flankiert wird diese modal-ontologische Verschränkung durch den zugrunde liegenden Notwendigkeitsbegriff, der im entsprechenden Szenario der Verwirklichung die (einzige) Alternative zur zweiseitigen Möglichkeit der Kontingenz darstellt. Hier sichert die Notwendigkeit ein rationales und somit auch epistemologisch begründbares Werden von Zukunft zur Gegenwart ab. Demnach muss das notwendig Seiende sein, weil es Gründe dafür gibt, die sein Sein begründen, ganz gleich, ob diese logischer, mathematischer, kausaler, naturwissenschaftlicher oder theologischer Natur sind.

    In der Geschichte des abendländischen Denkens wird dieses Tandem von der Vorstellung der Kontingenz als einer doppelten Möglichkeit des Seins und einer rationalen Notwendigkeit durch den Begriff des Zufalls zusammengehalten und tradiert. Der Zufall, verstanden als das Moment des Verwirklichens der Kontingenz, bindet einerseits das faktisch Gegebene an einen offenen Möglichkeitsraum und wird – wie es weiter unten noch zu erläutern gilt – vor allem für die Entwicklung pragmatischer Denkkonzepte wie Handlung, Individualität, Subjektivität oder Freiheit attraktiv bleiben. Andererseits kann der Zufall in der Geschichte des metaphysischen und epistemologischen Denkens auch als irrational (d.h. ‘nicht notwendig’) domestiziert werden. Auch hierfür legte Aristoteles die entsprechende Richtschnur aus: "Zufall im strengen Sinne ist […] dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig eröffneten Raumes [der Kontingenz] tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt (Bubner 7, Herv. i. Orig.). Spinoza wird Kausalität dogmatisieren und alle vermeintlichen Zufälle mit epistemologisch potenziell erklärbaren Notwendigkeiten gleichsetzen: Der Begriff Zufall sei nur ein Ausdruck für ein dem Menschen nicht mögliches Durchschauen bestehender Zusammenhänge, ein ‘asylum ignorantiae’. Bei eindringender Erkenntnis der Sachlage weiche das vermeintlich Zufällige aber ganz dem Notwendigen" (Wetz 33). Im Gegensatz zu der Aristotelischen Tradition wird Nietzsche, wie Franz Josef Wetz heraushebt, die Bezüglichkeit des Faktischen zu einer zweifachen Möglichkeit des Seins verneinen und folglich auch einen gänzlich anderen Notwendigkeitsbegriff veranschlagen:

    Genaugenommen schütteln ‘die eisernen Hände der Notwendigkeit […] den Würfelbecher des Zufalls’, meint Nietzsche. Jedoch versteht der unter Notwendigkeit weder Kausalnotwendigkeit noch Wesensnotwendigkeit, aber auch nicht logische Notwendigkeit oder irgendeine andere Folgenotwendigkeit. Für ihn bedeutet Notwendigkeit absolute Faktizität, derzufolge nur das wirklich werden kann, was wirklich ist und wirklich wird, weil es die Möglichkeit, nicht wirklich zu werden, einfach nicht gibt (33).

    Die Geschichte der Kontingenz ist also vorwiegend durch das metaphysische Mysterium der Verwirklichung des Möglichen bestimmt. Allerdings stellt sich dann die entsprechende Grundfrage, inwiefern die Kontingenz als zweiseitige Seinsdimension, in der beide Seiten als präsent gedacht werden, neben der binären Variante des Möglichen, das immer schon auf das privilegierte Alternativkonzept einer absolut rationalen Notwendigkeit beruht, bezogen werden kann. Denn sowohl die zweifache Möglichkeit des Seins der Kontingenz als auch das einfache und begründbare Sein der (rationalen) Notwendigkeit müssen sich im faktisch Gegebenen denken lassen.⁸ Eine vermeintliche Lösung weist die Vorstellung des Zufalls auf, der als ein sich ereignender Übergang vom Möglichen zum Faktischen zumindest im Aristotelischen Denken eine Klammer zwischen dem faktisch Gegebenen und der Kontingenz bildet und zugleich die Vorstellung einer rationalen Notwendigkeit konsolidiert. Demzufolge stellt die Geschichte des Zufalls innerhalb dieser theoretisch-philosophischen Tradition (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Logik etc.) eine Geschichte der Domestizierung des Zufalls dar. Solange er auf einen als absolut gesetzten rationalen Notwendigkeitsbegriff ausgerichtet werden kann, kann der Zufall selbst als irrationales Moment im theoretischen Denken marginalisiert werden.

    1.2.2 Kontingenz und Handlung

    Ganz anders wirkte sich das begriffliche Potenzial des Zufalls in der praktischen Philosophie aus. Hier wirkte weniger seine Irrationalität als seine Bindung an die Möglichkeitsdimension der Kontingenz, insbesondere dann, wenn es um Fragen des menschlichen Handelns ging. Auch in diesem Zusammenhang stellte Aristoteles die grundlegenden Weichen, indem er bemerkte, dass die Eigenart desjenigen Feldes, in dem der Zufall regiert, auch dasjenige kennzeichnet, in dem unser Handeln allein tätig werden kann (De Interpretatione, Kap.9). Beides, sowohl der Bereich des Zufalls als auch die Sphäre des Handelns, hätten eines gemeinsam, nämlich "daß alles auch anders sein kann (Bubner 6, Herv. i. Orig.). Demnach öffne sich beim Handeln für den Einzelnen gleichsam ein Raum, der sich ontologisch erschließt, in dem das Auch-anders-sein-Können regiert. Das Subjekt findet sich in diesem Raum zuallererst als ein handelndes wieder, da es erst dort Alternativen zum Handeln erhält, wo nicht alles Faktische schon immer notwendig ist. Andererseits begegnet es in seinem Handeln – wie Aristoteles ja bereits bemerkt hat – immer auch den zufälligen Ereignissen, also äußeren Veränderungen, die aus seiner Sicht grundlos sind und denen es ausgeliefert ist. Mit Haug lässt sich auch sagen: Dieser Raum des Kontingenten ist objektiv der Spielbereich des Zufalls, subjektiv der Bereich der freien Wahl (151). Wenn unter Kontingenz also ein Raum offener Möglichkeiten verstanden wird, dann ist Zufall das, was sich in diesem Raum unter der Prämisse völliger Willkür (mag diese auch nur scheinbar sein) ereignet (151). Obwohl der faktisch gegebene Zufall den Menschen erst an den Möglichkeitsraum der Kontingenz zu binden vermag, wird er paradoxerweise zugleich als Widerpart des menschlichen Handelns konstruiert. Denn mit der Vorstellung eines freien und intentional gerichteten Handelns wird der objektive Zufall zum Agenten der Beliebigkeit, der gegen das handelnde Subjekt ausgerichtet wird. Und wenn sich Veränderungen in diesem Raum der Potenzialität unter dem subjektiven Zeichen der Freiheit und dem objektiven Zeichen des Zufalls manifestieren, dann stellt sich für das Subjekt ein Problem, welches M. Makropoulos als Interferenzproblem" bezeichnet.⁹ Als interferierende Instanz der Willkür kann der Zufall wieder an die irrationale Instanz gebunden werden, die er in der theoretischen Philosophie bereits eingenommen hat.

    Auch wenn es an dieser Stelle nur kurz angedeutet werden kann, so sieht man, dass sich die Geschichte des philosophischen Denkens der Kontingenz in der metaphysischen Tradition zum einen anhand der Abgrenzung zum Begriff der Notwendigkeit beschreiben lässt, zum anderen anhand der Dominanz der inneren Bezüglichkeit zwischen möglicher Kontingenz und faktischer Gegenwart. Im folgenden Abschnitt zum Zeitproblem wird Letztere als spezifische modal-temporale Relation noch entsprechend zu konkretisieren sein. In pragmatischen Handlungskonzeptionen erschließt der Zufall für den handelnden Menschen eine an der Kontingenz ausgerichtete Möglichkeitsdimension, wird aber dennoch in der Form eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses als objektiver Antagonist eines subjektiv-intentional ausgerichteten Handelns wahrgenommen.

    Wichtig für die folgenden Betrachtungen ist die Beobachtung, dass sich insbesondere anhand der zuletzt beschriebenen Konstellation in der praktischen Philosophie aufzeigen lässt, inwiefern der Zusammenhang von Kontingenz und Zufall im philosophischen Denken mehr oder weniger immer schon als ‘Ereignis’ verstanden wurde; auch in der metaphysischen Dramaturgie der Verwirklichung des Möglichen ist es immer Einzelnes, das sich aus mehreren Möglichkeiten konkretisiert. So zeichnet sich bereits mit diesen Skizzen deutlich ab, dass die metaphysische Tradition Kontingenz und Zufall immer schon im Rahmen des chronologischlinearen Zeitmodells gedacht hat. Zeigt sich das Konfliktpotenzial von Kontingenz und Zufall erst, wenn die temporale Dimension mit herangezogen wird, so provoziert umgekehrt die mit der Kontingenz einhergehende modale Unterscheidung von Möglichkeit und Notwendigkeit per se das Denken über zeitliche Verläufe. Denn den einzig denkbaren Punkt, mit dem die Differenz beider konstatiert werden kann, bildet die Vorstellung eines zeitlich gegenwärtigen Moments, als eine Art Umschaltpunkt von Möglichkeit zur faktisch notwendigen Wirklichkeit. Diesen Zusammenhang gilt es im folgenden Abschnitt deutlicher herauszuarbeiten.

    1.3 Aporien der Zeit

    1.3.1 Irreversibilität vs. Zeitumkehr

    Es bedarf nicht unbedingt eines Blicks auf das chinesische Denken, um zu konstatieren, dass die philosophische Tradition des Abendlandes verschiedene heterogene Modelle der Zeit konzipiert hat. Dessen ist sich offenbar auch ‘der Westen’ bewusst. In der jüngsten Vergangenheit zeichnet sich aber zugleich die Tendenz ab, dass angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaftsbereiche ein erhöhter Bedarf besteht, die unterschiedlichen Zeitkonzepte aus Natur- und Kognitionswissenschaften sowie aus Human-, Sozial-, Geschichts-, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften aufeinander abzustimmen. Und obwohl es vermehrt Ansätze gibt, den Zeitaspekt als ein[en] neuen[n] archimedische[n] Punkt (Sandbothe Verzeitlichung der Zeit 41) auszumachen und die unterschiedlichen Ansätze zu vereinheitlichen, gibt es immer noch Anlass, absolut inkommensurable Zeitkonzepte zu konstatieren. Im Groben verläuft diese Differenz zwischen naturwissenschaftlichen Ansätzen, in denen die Zeit ausschließlich objektiv bestimmt ist und im Sinne eines koordinativen Meßkriteriums in die entsprechenden theoretischen Modelle eingeht, und den traditionell philosophischen sowie geschichtstheoretischen Zeitkonzepten, in denen eine subjektiv bezogene Auffassung (einer Gegenwart) Bestand hat, die einen gerichteten Zeitverlauf aufweist und von der grundlegenden Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet ist.

    Eine Art Gipfel der Unvereinbarkeit dieser beiden Ansätze lässt sich in den jüngsten Diskussionen erkennen, die durch die Zeitkonzeptionen der modernen Physik ausgelöst wurden, insbesondere denen, die der statistischen Mechanik zugrunde liegen. Das umstrittene Kernproblem stellt die Frage nach der Irreversibilität, also der Gerichtetheit der Zeit dar. In den betreffenden Gesetzen, welche die moderne Physik aufgestellt hat (den grundlegenden Bewegungsgleichungen in der Physik), hat die Zeit nämlich keine ausgezeichnete Richtung. Hier gilt das Invarianzprinzip der Zeitumkehr (Kornwachs 29), um entsprechende Prozesse als reversible Vorgänge zu beschreiben. Dabei wird die intuitive Annahme, dass es eine Gerichtetheit der Zeit gebe, gänzlich verneint. Doch auch Physiker beobachten, dass Kaffee sich häufiger abkühlt als erwärmt (um ein häufig zitiertes Beispiel zu nennen), weshalb es auch innerhalb der Physik Bemühungen gab – wie das bekannte Beispiel des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik belegt –, eine Gerichtetheit der objektiven Zeit (auch als Anisotropie bezeichnet) zu erklären. Von Brisanz waren und sind aber vor allem diejenigen Diskussionen um die Irreversibilität der Zeit, in denen philosophisch intuitive Befürworter der Existenz einer subjektiv verfassten Zeit von Vergangenheit und Zukunft gegen die vermeintlich umkehrbare Zeit von ‘früher’- und ‘später’-Relationen in Stellung gebracht wurden. So behauptete etwa Carl Friedrich von Weizsäcker, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nur unter der Voraussetzung einer ontologisch fixierten Vergangenheit und einer ontologisch offenen Zukunft begründbar (Friebe 189-90) sei. Deren Existenz hat McTaggart wiederum in seinem Aufsatz über die ‘Irrealität der Zeit’ verneint. Da auf seinen Beitrag zur Debatte die bis heute noch verwendete Unterscheidung zwischen ‘A-Theorie’ und ‘B-Theorie’ der Zeit zurückgeht, die zugleich für die folgende Lektüre von Tristram Shandy von Belang ist, soll seine Argumentation kurz vorgestellt werden:

    Die Positionen in der Zeit unterscheiden sich – so wie die Zeit uns prima facie erscheint – in zwei Hinsichten. Jede Position ist früher als einige oder später als einige der anderen Positionen, und jede Position ist entweder vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. Die Unterscheidungen der ersten Klasse sind permanent, diejenigen der letzteren jedoch nicht. Wenn M jemals früher als N ist, dann ist es immer früher. Aber ein Ereignis, das jetzt gegenwärtig ist, war zukünftig und wird vergangen sein. […] Der Kürze halber werde ich die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weiter entfernten Zukunft verlaufen, als ‘A-Reihe’ bezeichnen. Die Reihe der Positionen, die von früher bis später verlaufen, werde ich ‘B-Reihe’ nennen. (67f.)

    McTaggart unterscheidet bei der Zeiterfahrung eine perspektivische A-Reihe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eine objektive B-Reihe von früher, gleichzeitig und später.¹⁰ Die letztere kann immer nur bei einem Ereignis in Relation zu einem anderen verwendet werden, weshalb ihr Verständnis auch vornehmlich in wissenschaftlich-koordinativen Zusammenhängen dominiert. Die AReihe hingegen ist nur in einem pragmatischen Zusammenhang zu verwenden, entspricht also der subjektbezogenen, alltäglichen indexikalischen Zeitbestimmung (Th. Müller 9). McTaggart behauptet, die Widersprüchlichkeit der A-Reihe nachweisen zu können. Allein die B-Reihe sei widerspruchsfrei, aber die Existenz der Zeit setze die Existenz der A-Reihe voraus. Somit könne es Zeit nicht geben (Th. Müller 9). Die Frage, welche Sicht der Zeit tatsächlich grundlegend sei, ist bis heute nicht geklärt. Müller fasst den Stand der Kontroverse wie folgt zusammen: "Trotz der vielen Publikationen zum Thema […] scheint die Diskussion zu einer Pattsituation geführt zu haben, in der sich eher grundsätzliche Intuitionen gegenüberstehen als Argumente, und wie [Arthur] Prior bemerkt hat, gilt:

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