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"dunkel war der Rede Sinn": Zur Poetologie von Schillers Balladendichtung
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"dunkel war der Rede Sinn": Zur Poetologie von Schillers Balladendichtung
eBook599 Seiten7 Stunden

"dunkel war der Rede Sinn": Zur Poetologie von Schillers Balladendichtung

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Über dieses E-Book

Friedrich Schillers Balladen gehören zu den vermeintlich bekanntesten Texten der deutschen Literatur. „Bekannt“ sind sie als kunstvolle, aber leicht zu erschliessende Erzählgedichte, die eine eindeutige Moral propagieren. Einer solchen eindimensionalen Fixierung von Schillers Texten werden in diesem Band sieben Einzelanalysen entgegengestellt, die Schillers Balladen als hochgradig autoreflexive Texte entdecken: Ganz ihrer Entstehungsgeschichte als gemeinsames poetologisches Experiment Schillers und Goethes entsprechend, spielen die Balladen mit Erzählertypen und Erzählsituationen, verhandeln das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, von Wort und Tat immer wieder neu und immer wieder anders und geben Macht und Ohnmacht der Sprache differenziert und variiert zu lesen. Diese poetologische Dimension stellt die Arbeit in ausführlichen Lektüren von „Der Kampf mit dem Drachen“, „Der Taucher“, „Der Handschuh“, „Der Gang nach dem Eisenhammer“, „Kassandra“, „Der Ring des Polykrates“ und „Die Kraniche des Ibycus“ vor.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080289
"dunkel war der Rede Sinn": Zur Poetologie von Schillers Balladendichtung

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    Buchvorschau

    "dunkel war der Rede Sinn" - Rahel Beeler

    werden.

    EINLEITUNG

    Schillers klassische Balladen gehören zu den bekanntesten Werken deutscher Literatur. ‚Bekannt‘ sind sie als Texte, die „Spannungskunst und Moralvermittlung"1 geschickt vereinen, als Texte, die einem breiten Publikum zugänglich, die verhältnismässig einfach zu lesen und zu verstehen sind. Schillers Balladen gelten damit als ‚bekannt‘ im doppelten Sinne: Einerseits sind sie allgemeines Bildungsgut; jeder Schulabgänger kennt sie, sie werden zitiert und sie werden parodiert. Andererseits betrachtet die germanistische Forschung insbesondere der letzten Jahrzehnte die Texte auch als ‚bekannt‘ im Sinne von vollständig ‚erkannt‘, als ‚ausgelesen‘, als ‚ausgeschöpft‘: Man hat Schillers sprachliche Tricks zur Spannungserzeugung analysiert, man hat den Balladen die angeblich von ihnen transportierte Moral extrahiert – entsprechend stehen sie spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch selten im Fokus literaturwissenschaftlicher Forschung. Die in dieser Arbeit versammelten Analysen und Interpretationen sollen zeigen, dass eine solche Einschätzung Schillers Balladen nicht gerecht wird, weil diese trotz ihrer angeblichen ‚Bekanntheit‘ noch sehr unbekannte Texte sind. Das will gerade nicht heissen, dass die vorliegende Arbeit den Leser mit Schillers Balladen bekannt machen werde, im Gegenteil: Sie soll darlegen, dass die Texte nach wie vor Terra incognita sind und bleiben, unbekanntes Land, das erforscht werden kann und erforscht werden will (!), unbekanntes Land aber, das trotz aller Erforschung immer unbekannt bleiben muss, wenn auch einzelne Land-striche davon erkannt – von unterschiedlichen Aussichtspunkten aus auch immer wieder neu erkannt – werden können.

    Weshalb aber hat bisher eine solche Auffassung – wie sie beispielsweise für Texte aus der Romantik fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist – kaum Eingang gefunden in die wissenschaftliche Lektüre Schiller’scher Balladen? Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass die ablehnende oder gleichgültige Haltung der Forschung Schillers Balladen gegenüber – die Auslegung als überdeutliche Moralgedichte, aber auch die Wahrnehmung der sprachlichen Gestaltung als übertrieben, altertümlich und sentenzenhaft – zu einem nicht unerheblichen Teil tatsächlich in den Texten selbst begründet liegt. Zugleich sind aber genau diese Aspekte, die zu Desinteresse der Forschung einerseits, zu unzähligen Parodien unterschiedlichsten Niveaus andererseits geführt haben, auch Teil der Erfolgsgeschichte der Balladen: Die – vordergründige – Verständlichkeit hat die Balladen breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht und die sentenzenhaft formulierten moralischen Lehren haben, sofern man sich für einen Moment vom im Grunde essentiellen Ideologieverdacht lösen kann, auch positive Wirkungskraft. Und wenn Helmut Koopmann sich im Schillerjahr 2005 unter dem Titel „Spannungskunst und Moralvermittlung" mit Schillers Balladen auseinandersetzt – keineswegs abschätzig, sondern wohlwollend, ja: begeistert – so entspricht dieser Fokus eben nicht nur der Forschungstradition der letzten zweihundert Jahre (vgl. dazu Kapitel 1.2.2 & 1.2.3), sondern auch recht genau dem, was Schiller selbst 1791 in seiner Rezension Über Bürgers Gedichte formulierte: Der Volksdichter – d.h. der wahrhaft grosse Dichter, der für alle Teile des Volkes gleichermassen schreibt – soll, so Schillers Position,

    die erhabenste Philosophie des Lebens […] in die einfachen Gefühle der Natur auflösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten geben. Ein Vorläufer der hellen Erkenntnis, brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und verdachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze heraufzuführen.2

    Diese theoretischen Überlegungen Schillers, die einige Jahre vor seinen klassischen Balladen entstanden, fordern vom Dichter die Erziehung des Volkes, indem er, sehr einfach gesagt, Vernunftwahrheit – und Vernunftwahrheit ist bei Schiller wie bei Kant auch moralische Weisheit – ansprechend in Geschichten, in Gedichte, verpackt: „glückliche Wahl des Stoffs und höchste Simplizität in Behandlung desselben"3 führen Schiller zufolge zu diesem Ziel. Die Forschungstradition, die auf „Spannungskunst und Moralvermittlung" fokussiert, kann sich somit gut auf die theoretischen Ausführungen des Dichters selbst berufen und findet nicht zuletzt darin ihre Berechtigung.

    Die vorliegende Arbeit will deshalb keineswegs das Gewicht, das der moralischen Dimension in Schillers Balladen zukommt, bestreiten. Sie soll vielmehr – und das entspricht in gewissem Sinne auch der Forderung nach Vielschichtigkeit, die Schiller in seiner Rezension Über Bürgers Gedichte formulierte4 – andere Zugänge zu den Texten aufzeigen, die die traditionellen Analysen nicht ersetzen, sondern grundlegend (!) ergänzen. Kann das obige Zitat als Leitwort für die traditionelle Balladenforschung aufgefasst werden, so folgen die in der vorliegenden Arbeit entwickelten Analysen eher Schillers Anregung, die er im Hinblick auf die Balladen Der Kampf mit dem Drachen und Die Bürgschaft im Brief vom 29. Oktober 1798 an seinen Freund Christian Gottfried Körner richtete:

    Auch wirst Du finden, wenn Du diese 2 Balladen kritisch untersuchen willst, daß ich sie mit ganzer Besonnenheit gedacht und organisiert habe.5

    Interessanterweise hat Schiller diese Aufforderung zur kritischen Untersuchung den Balladentexten nicht angefügt, als er sie Körner zur ersten Lektüre vorlegte, sondern sie ist erst eine Reaktion Schillers auf Körners lobende Rückmeldung zu den Texten.6 Die Lektüre des guten Freundes soll sich also nicht in der Extraktion einer Moral erschöpfen, da es, wie Schiller hier zu verstehen gibt, bei der kritischen Relektüre seiner Balladen weit mehr zu entdecken gibt als einen („leicht zu entziffernde[n]"7) Sinn. Lektüre soll vertieftes, wiederholtes, kritisches Lesen, soll Untersuchen sein: In der kritischen Untersuchung des Balladentextes, der elocutio also, kann der Leser der inventio („mit ganzer Besonnenheit gedacht") und dispositio („organisiert) nachspüren. Die Dualität oder gar Opposition von Form und Inhalt, welche die Formel „glückliche Wahl des Stoffs und höchste Simplizität in Behandlung desselben8 aus Schillers Rezension Über Bürgers Gedichte suggeriert und die auch Helmut Koopmanns Aufsatztitel „Spannungskunst und Moralvermittlung" spiegelt, ist in Schillers Brief an Körner nicht mehr angelegt, im Gegenteil: Es geht hier nicht mehr um eine Moral, zu deren Vermittlung eine einfache Sprache dient, sondern im Fokus steht das (sprachliche) Gemachtsein; der Text, sein ‚Inhalt‘ und seine Struktur sind eins und als dieses Ganze das Objekt der Untersuchung des kritischen Lesers.

    Schiller lenkt den Blick des Freundes im Zusammenhang mit den Balladentexten auf ein Problem, mit dem er sich in den ästhetischen Schriften seiner philosophischen Schaffensphase, die der Arbeit an den Balladen unmittelbar vorausging, intensiv befasst hatte: das Verhältnis von Sprache und Inhalt, von Form und Stoff, von Erzählen und Erzähltem. Mit diesem Zusammenhang befassen sich auch die Analysen und Interpretationen der vorliegenden Arbeit, deshalb soll an dieser Stelle kurz auf Schillers theoretische Auseinandersetzung damit eingegangen werden. Vor allem zwei Aspekte sind in Bezug auf Schillers Sprachreflexion zu betonen: Einerseits ist seine Sprachauffassung eine ausgesprochen kritische, andererseits – und damit eng zusammenhängend – zirkelt sie immer wieder um die bereits oben angedeutete Ununterscheidbarkeit des Erzählten vom Erzählen.

    Symptomatisch für die untrennbare Verwicklung von Sprache und Inhalt ist Schillers eigene Diktion: Zum einen spricht er – der Konvention folgend – immer wieder von „Stoff" als der inhaltlichen Quelle seiner Texte, also dem Darzustellenden. So auch im Das Schöne der Kunst übertitelten Beiblatt zum letzten Kallias-Brief: Das Schöne der Kunst sei, so heisst es da,

    von zweierlei Art. a. Schönes der Wahl oder des Stoffes – Nachahmung des Naturschönen. b. Schönes der Darstellung oder der Form – Nachahmung der Natur.9

    Zum andern verwendet Schiller im selben Text die Metapher „Stoff auch für das Medium, mit dem resp. aus dem ein Künstler seine Kunstwerke, ein Dichter seine Texte formt: Stoff ist in der Kunst dann das, „worinn [der Gegenstand] nachgeahmt wird10:

    Der darzustellende Gegenstand legt seine Lebendigkeit ab, er ist nicht selbst gegenwärtig, sondern seine Sache wird durch einen ihm ganz unähnlichen, fremden Stoff geführt […]. Nun kommt also die fremde Natur des Stoffes dazwischen, und nicht diese allein, sondern auch die eben so fremde Natur des Künstlers, der diesem Stoff seine Form zu geben hat.11

    Zweimal stellt Schiller somit den Stoff der Form gegenüber, einmal bezeichnet er dabei mit „Stoff" das Darzustellende, das andere Mal jedoch das Darstellende.

    Es wäre unbefriedigend, diesen Widerspruch bloss mit Schillers angeblicher „Ablehnung von begrifflicher Strenge"12 erklären zu wollen. Dass Schiller sich gerne über philosophische und philologische Sprach-konventionen hinwegsetzte,13 lässt die polyseme Verwendung von „Stoff" in diesem Brief nicht weniger verwunderlich erscheinen, denn schliesslich strebt Schiller grundsätzlich eine Differenzierung an, wenn er fortfährt:

    Es sind also hier dreyerley Naturen, die miteinander ringen. Die Natur des Darzustellenden, die Natur des darstellenden Stoffes und die Natur des Künstlers, welcher jene beiden in Uebereinstimmung bringen soll.14

    Schillers eigener Sprachgebrauch hebt die Unterscheidung zwischen dem, was das Kunstwerk zeigt resp. zeigen soll, und dem, worin es dies zeigt, auf. Auf das dichterische Schaffen bezogen, lässt sich also, so meine These, sagen: Inhalt und Sprache sind der Stoff des Dichters; dass sie sich mit derselben Metapher umschreiben lassen, spiegelt einerseits die Verwobenheit von Erzähltem und Erzählen, andererseits gibt sich darin zugleich die Problematik der Sprache zu lesen, die immer auf Metaphern angewiesen ist – auf Metaphern, die gleichsetzen, was zwar untrennbar ist, aber deswegen doch nicht eigentlich gleich.

    Was hier anhand der polysemen Verwendung der Stoff-Metapher aufgezeigt worden ist, findet sich in der einen oder andern Form in allen philosophischen Texten Schillers. Dirk Oschmann hält zum (Sprach-) Theoretiker Schiller fest:

    Schillers scharfes Sensorium für das Problem, dass die Darstellung stets auf das Dargestellte übergreift, dass umgekehrt das Dargestellte nur in der Weise seiner Darstellung überhaupt zur Gegebenheit gelangt und dass es demnach zwar keine von der Darstellung unabhängige Wahrheit geben kann, wohl aber eine Wahrheit der Darstellung, macht sich in jedem einzelnen seiner theoretischen Texte geltend.15

    Oschmann streicht damit nicht nur heraus, wie zentral die Ununterscheidbarkeit des Erzählten vom Erzählen bei Schiller ist, sondern er benennt diesen Zusammenhang auch so, wie der Dichter ihn wahrnimmt: als „Problem". Dies wird überdeutlich in Schillers Forderung im Beiblatt zum letzten Kallias-Brief:

    Frey und siegend muß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen, und trotz allen Feßeln der Sprache in seiner ganzen Wahrheit, Lebendigkeit und Persönlichkeit vor der Einbildungskraft dastehen.16 (Hervorhebung RB)

    Das ist es, was Schreiben für Schiller bedeutet: Schreiben ist ein Kampf mit dem Medium Sprache. Die Sprache erst ermöglicht die erzählende Darstellung, aber indem Darstellendes und Dargestelltes, Erzählen und Erzähltes eine unauflösbare Bindung eingehen, stellt das Medium zugleich eine Fessel für die Darstellung – und den Darstellenden – dar. Wenn das Darzustellende aus dem Darstellenden „hervorschein[t], so ist es zwar nicht mehr gelöst von der Sprache, soll aber trotzdem „[f]rey und siegend hervortreten. Möglich ist dies Schiller zufolge nur, wenn das Kunstwerk nicht „die schwere Hand des Künstlers"17 zeigt, der es geschaffen hat.

    Und trotzdem: Bezeichnenderweise lenkt Schiller einige Jahre nach den Kallias-Briefen Körners Blick gerade auf diese Künstlerhand, auf den Entstehungsprozess, der sich im Balladentext spiegelt, wenn er den Freund auffordert, die Balladen kritisch zu untersuchen, um zu sehen, dass er sie „mit ganzer Besonnenheit gedacht und organisiert habe."18 Auch wenn sich also der Stoff – die Sprache19 – im vollkommenen Kunstwerk ganz „in der Form (des Nachgeahmten) […] verlieren"20 soll, so hebt Schiller doch im Austausch mit Körner – der einer seiner engsten Vertrauten und ‚besten‘ Leser ist – gerade das Gemachtsein des Kunstwerkes als interessant, als beachtens- und untersuchenswert hervor.

    Zumindest in Bezug auf die Balladen, auf die sich die Leseanregung an den Freund bezieht, können wir so ableiten, dass es für Schiller mehr als eine Lesart gibt: auf eine erste, eher kursorische Lektüre soll eine zweite, zirkuläre folgen. Die erste „macht, wie Körner es ausdrückt, „groß Glück21 – ich wage die These: weil hier, ganz in Schillers Sinn, das Kunstwerk als Ganzes in seiner Erscheinung genossen werden kann, weil hier „frey und siegend […] das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorschein[t]"22. Die zweite Lektüre, die daran anschliesst, ist dann jedoch kritische Untersuchung, die sich nicht mehr dem Hervorscheinenden, sondern dem Darunterliegenden widmet. Diese beiden Lektüren stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich.

    Mit dem Verweis auf die „Fesseln der Sprache" brechen die Kallias-Briefe – trotz der Ankündigung: „Die Fortsetzung künftigen Posttag"23 – ab. Sie sind Fragment geblieben, Ansätze daraus hat Schiller aber immer wieder in seinen theoretischen Arbeiten, besonders in den Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen, weitergesponnen. Doch nicht nur die philosophischen (oder konkreter: ästhetischen) Schriften Schillers problematisieren das Medium Sprache: Nirgends hat Schiller seine Vorbehalte gegenüber diesem „Stoff", dessen er sich sowohl als Dichter wie auch als Historiker und Philosoph bediente, so pointiert formuliert wie in seinem Distichon Sprache:

    Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!

    Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.24

    Mit diesem Epigramm – veröffentlicht im Musenalmanach für das Jahr 1797 – rücken wir nicht nur zeitlich an Schillers Balladenschaffen heran: Die Sprachreflexion wird hier auch nicht mehr streng argumentativ resp. theoretisch-philosophisch behandelt, sondern in eine literarische Text-sorte eingebunden. Genau dies ist auch – oft weniger explizit, aber nicht weniger vertieft – in den Balladen, die in den nun folgenden Jahren entstehen, der Fall: Auch in diesen literarischen Texten – so die These, die diese Arbeit belegen will – wird die theoretische Reflexion der ästhetischen Schriften fortgesetzt, wird dichtend über das Dichten nachgedacht.25

    Die Analysen und Interpretationen der vorliegenden Arbeit sollen deshalb Lektüreversuche sein, die Schillers Aufforderung zur kritischen Untersuchung folgen wollen und dabei nicht nach einem zu extrahierenden ‚Sinn‘ fragen, sondern danach, wie in den Balladen erzählt wird und was sich dabei zugleich über das Erzählen, über das Funktionieren – oder Nicht-Funktionieren! – von Sprache zu lesen gibt.

    Die Fragestellung dieser Arbeit ist damit ganz grundlegend auch eine In-Frage-Stellung: eine Infragestellung der angeblichen Epochenzäsur zwischen Klassik und Romantik, die (unter anderem) an der typisch romantischen Autoreflexivität festgemacht wird. Zwar ist die scharfe Antithese von Klassik und Romantik längst als künstliches Konstrukt erkannt worden,26 als ein Trennversuch, zu dem seinerzeit freilich beide ‚Seiten‘ – wenn man sie denn so nennen will – beigetragen haben, freilich mehr durch persönliche Konflikte als durch essentielle Unterschiede in der poetischen Grundhaltung.27 Denn diesbezüglich gibt es unter den ‚Romantikern‘ ähnlich grosse Differenzen wie zwischen den ‚Romantikern‘ und den ‚Klassikern‘, und die Abweichungen zwischen Goethe und Schiller sind, wie Lothar Pikulik zu bedenken gibt, „in mancher Hinsicht größer als etwa zwischen Schiller und den Schlegels.28 Trotzdem bleibt die Vorstellung einer klaren Opposition von „Einheits- und Ordnungsvorstellungen der Weimarer Klassik Goethes und Schillers gegenüber der „Romantik mit ihrer Aktualisierung manieristischer Heterogenie"29 hartnäckig bestehen.30 Neben anderen ‚typisch romantischen‘ Erscheinungen (wie beispielsweise der Ironie, auf die in dieser Arbeit auch noch zurückzukommen sein wird) ist es insbesondere die Autoreflexivität romantischer Texte, die als Kennzeichen – und damit als Trennzeichen – der Epoche der Romantik gehandelt wird.

    Fraglos ist Autoreflexivität ein essentieller Zug romantischer Poetik. Friedrich Schlegel hat mit dem Begriff der Transzendentalpoesie, die „in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein"31 soll, benannt, was romantische Texte ganz grundlegend charakterisiert:

    Kaum eine romantische Erzählung verzichtet darauf, Schrift oder Schreiben, das Requisit des Buches oder zumindest den Akt der Imagination zum Thema zu machen.32

    Maurice Blanchot hat deshalb die Romantik, bei der „poetisches Reden […] nicht im Sagen der Dinge (im Aufgehen in dem Bedeuteten) besteht, sondern im (sich) Sagen"33, als den „Anfang der poetischen Bewusstwerdung34 charakterisiert, und darin nicht bloss eine literarische Schule oder Strömung gesehen, sondern „eine neue Epoche35. Mit der Romantik, so die verbreitete Auffassung, beginnt die Moderne.

    Gegen eine solche scharfe Zäsur ist einzuwenden – und ist oft eingewendet worden –, dass die Schlegels wie auch Novalis bei ihren theoretischen Überlegungen in vielerlei Hinsicht auch an den ‚Klassiker‘ Schiller anknüpften, beispielsweise an die Briefe Über die ästhetischen Erziehung des Menschen36 und an die Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung.37 Insbesondere Schillers Charakterisierung des sentimentalischen Dichters – als den Schiller sich selbst sah, im Gegensatz zu Goethe, der Exempel des naiven Dichters ist – rückt ihn in die Nähe Friedrich Schlegels: Der sentimentalische Dichter

    reflektirt über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird, und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwey streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu thun, und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.38

    Wenn auch der sentimentalische Dichter nicht notwendig ein romantischer Transzendentalpoet ist (weil er reflektiert, aber nicht notwendig sich selbst, sein Schreiben, sein Produkt), so ist doch umgekehrt die Transzendentalpoesie eine sentimentalische Dichtart, und zwar eine, die sich „kritisch zu sich selbst verhält, nämlich sich selbst begreift und reflektiert."39 Auch der im obigen Zitat angedeutete Konflikt zwischen begrenzter Wirklichkeit und ersehnter Unendlichkeit erinnert – bei allen Abweichungen – an die ‚Romantiker‘. Norbert Oellers fasst deshalb zusammen: Mit der in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung entwickelten Auffassung von Dichtung

    als Annäherung an die Ewigkeit […] entspricht Schiller der poetischen und poetologischen Doktrin der Frühromantiker, die das durch den von ihnen verlachten Dichter des Lieds von der Glocke bereits geöffnete Tor der Moderne weit aufstießen.40

    Nicht mit den Schlegels oder Novalis, nicht mit den ‚Romantikern‘ findet laut Oellers die Zäsur, der Schritt in die Moderne, statt, sondern bereits bei Schiller.

    Überlegungen dazu, ob in diesem Falle wirklich noch von einer Zäsur gesprochen werden darf, ob nicht vor Schiller andere – Lessing beispielsweise – bereits an diesem „Tor der Moderne" mehr als bloss gerüttelt haben, können im Rahmen dieser Arbeit nicht angestellt werden. Für die folgende Auseinandersetzung mit Schillers Balladen soll nur deutlich geworden sein, dass eine künstliche scharfe Antithese zwischen Schiller und den Romantikern den Blick verstellt auf grundlegende Parallelen – doch diese Antithese scheint, trotz aller Relativierungen und Widerlegungen, nach wie vor die Forschungspraxis zu prägen. Denn obwohl Schiller als theoretischer Vorläufer der Romantik gewürdigt wird, sind seine literarischen Texte bisher kaum ‚romantisch‘ resp. unter ‚romantischen‘ Gesichtspunkten gelesen worden – im Gegensatz etwa zu Goethe, in Hinblick auf dessen Spätwerk, insbesondere beim Gedichtzyklus West-Östlicher Diwan (1819) und beim Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821), längst die grosse Nähe zur romantischen Poetik (an)erkannt worden ist.41 Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sich Goethe selbst wenige Jahre vor seinem Tod in einem Brief an Jakob Ludwig Iken mit folgenden Worten entsprechend geäussert hat:

    Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Classikern und Romantikern sich endlich versöhne.42

    Weshalb ist also Schillers literarisches Werk bisher kaum in dieser Hinsicht (vielleicht gar: mit diesem Vorsatz der Versöhnung der klassischromantischen Opposition) gelesen worden? Es ist gewiss so, dass die theoretische Nähe zwischen Schiller und insbesondere den Schlegels auch die Differenzen deutlicher hervortreten lässt. Was Schiller klar von den Romantikern unterscheidet, ist, dass für ihn, wie bereits ausgeführt, die „Fesseln der Sprache" sowie die ihm eigene reflexive Distanz und die Subjektivität jedes Dichters hochgradig problematisch sind. Er gibt vor, sie überwinden zu wollen, wenn er definiert:

    Der große Künstler, könnte man also sagen, zeigt uns den Gegenstand (seine Darstellung hat reine Objektivität) der mittelmäßige zeigt sich selbst (seine Darstellung hat Subjektivität) der schlechte seinen Stoff (die Darstellung wird durch die Natur des Mediums und durch die Schranken des Künstlers bestimmt.)43

    Die Gegenposition der Romantiker, für die Subjektivität und Reflexion Programm sind, fasst Clemens Brentano – bezeichnenderweise in einem literarischen Text, im Roman Godwi – zusammen:

    Godwi setzte hinzu: „Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases."44

    Doch gerade weil Schiller das Medium der Sprache und die Subjektivität des Künstlers als problematisch erkennt, müssen diese ihm besonders interessant erscheinen – ganz so wie das Gemachtsein des Textes, auf das er Körner hinweist, ihm interessant erscheint, obwohl im vollendeten Kunstwerk, Schillers eigener Theorie zufolge, die Spuren dieses Gemachtseins hinter dem hervorscheinenden Gegenstand der Darstellung verschwinden sollten. So liegt nahe, dass Schiller, der sich in seinen theoretischen Schriften intensiv mit dem Medium Sprache auseinandersetzte, diese Reflexion auch in seine literarischen Texte hineintrug, auch wenn er eine solche Autoreflexivität nicht – und hierin besteht wohl der entscheidende Unterschied zu den Romantikern – explizit in seiner Kunsttheorie forderte. Das, worüber Schlegel als Erster intensiv theoretisiert, ist in Schillers Literaturproduktion bereits praktisch verwirklicht, wie auch die folgenden Analysen zeigen werden. Schillers ‚Fall‘ kontrastiert demnach mit jenem von Novalis: Der jung verstorbene Romantiker ist in der Theorie weiter gegangen als in der Praxis,45 bei Schiller, dem auch kein langes Leben vergönnt war, scheint es gerade umgekehrt zu sein.

    Aufgrund von Schillers theoretischen Überlegungen zur Kunst, aufgrund seiner Anforderungen an das Kunstwerk, bei dem „sich der Stoff (die Natur des Nachahmenden) in der Form (des Nachgeahmten) […] verlieren"46 soll, muss jedoch noch die folgende Differenzierung gegenüber den Romantikern gemacht werden (in Form einer notwendig vereinfachenden Antithese): Bei Schiller sind die literarischen Reflexionen über die Sprache, die Autoreflexivität seiner Texte, wohl weniger Selbstzweck wie bei den Romantikern, sondern vor allem auch Fortsetzung seiner sprachphilosophischen Tätigkeit, die ihn im Umgang mit Sprache weiter schulen und vielleicht so auch seinem künstlerischen Ziel näherbringen soll: „Die Schönheit der poetischen Darstellung [als] ‚freie Selbsthandlung der Natur in den Feßeln der Sprache‘"47.

    Es kann nicht überraschen, dass deshalb gerade die Balladen, die zu Beginn von Schillers zweiter literarischer Schaffensphase – seiner ‚klassischen‘ Zeit – stehen und auf Jahre intensiven Nachdenkens über die Sprache folgen, hochgradig autoreflexiv sind. Schliesslich entstanden sie in enger Zusammenarbeit und regem Austausch mit Goethe und wurden von den beiden Dichtern auch als literarische Übungen oder Experimente aufgefasst (vgl. Kapitel 1.2.1). Dass Schiller von der Gattung der „Ballade keinen so hohen Begriff48 hatte, erlaubte es ihm – in Abweichung von seinen kunsttheoretischen Forderungen nach Überwindung des darstellenden Mediums –, den (spielerischen) Kampf mit der Sprache selbstreflexiv darin abzubilden. Dies wiederum macht die Texte aus moderner (d.h. ‚romantischer‘) Sicht umso mehr zu grossen Kunstwerken. Möglicherweise lässt sich dieses Paradox aber sogar auflösen: Vielleicht hätte auch Schiller selbst der These zugestimmt, dass der Konflikt zwischen der erstrebten „Objektivität und den „Fesseln der Sprache" gerade dann überwunden werden kann, wenn das Medium Sprache, d.h. der darstellende Stoff, zum Gegenstand, zum Objekt der Darstellung, d.h. zum Stoff im Sinne der konventionalisierten Metapher, wird.

    Wir haben gesehen, dass Schiller – auch hier ganz ein Romantiker – eine zyklische, eine vertiefte Lektüre, einen langsamen Leser fordert, wenn er Körner im nun schon mehrfach zitierten Brief vom 29. Oktober 1798 zu einer kritischen Untersuchung der bereits gelesenen – und für ausgezeichnet befundenen – Balladen anregt. Die in diesem Interpretationsband versammelten Analysen von Schiller’schen Balladen sollen solche Lektüren leisten. Mit ihrem Fokus auf dem sprachlichen Gemachtsein und auf den autoreflexiven Dimensionen der Texte stehen sie – über weite Strecken – quer zur bisherigen Balladenrezeption der Schillerforschung; sie kollidieren in der Herangehensweise und in den Ergebnissen mit der Deutungstradition, die sich grösstenteils der Moral, den ‚Ideen‘ der Texte gewidmet hat. Trotzdem stützt sich diese Arbeit vor allem in einem Sinne auf die frühere Forschung ab: Gerade weil hier ‚Zweitlektüren‘ (im Sinne von Schillers Brief an Körner) entwickelt werden, kann auf eine vertiefte Behandlung der ‚Ideen‘ verzichtet werden. Es wird mit Rückgriff auf die Forschungstradition, aber auch auf Schillers eigene Äusserungen beispielsweise aus der Rezension Über Bürgers Gedichte als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Schillers Balladen auch moralische Weisheiten transportieren – sie tun dies aber nicht, und dies werden die folgenden Analysen zeigen, ohne zugleich genau dieses Transportieren von Inhalt zu problematisieren. In Frage gestellt wird in den folgenden Analysen also stets die Eindeutigkeit der moralischen ‚Botschaft‘ der Balladen – weil eben die Balladen selbst die Fragwürdigkeit oder sogar Unmöglichkeit der Eindeutigkeit sprachlicher Konstrukte immer wieder zum Thema machen.

    Meine Lektüren sollen deshalb, das muss mit Nachdruck wiederholt werden, nicht einfach alte Interpretationen ersetzen, selbst wenn da und dort sehr kritisch mit anderen, älteren Lesarten umgegangen wird. Diese ‚Zweitlektüre‘ eröffnet eine andere Perspektive, aber sie deckt nicht den wahren Sinn der Texte auf, im Gegenteil: Sie zeigt, wie zweifelhaft die Suche nach diesem wahren Sinn von Schillers Balladen ist. Dabei werden immer wieder auch irritierende, überraschende Interpretationsansätze entwickelt, die in einigen Fällen vielleicht gar quer zum untersuchten Text zu stehen scheinen. Ganz bewusst wird dabei – unter Verwerfung der Annahme, die klassischen Texte Schillers seien, weil eben klassisch, notwendig eindeutig und klar – darauf verzichtet, die Widersprüchlichkeiten der Texte zu glätten. Vielmehr geht es gerade darum, die Vielschichtigkeit der Balladen aufzuzeigen und so ihre angebliche ‚Bekanntheit‘ zu relativieren.

    Dies geschieht anhand von Einzelanalysen von sieben ausgewählten Balladen Schillers. Dabei ist es weder möglich noch nötig, zu jeder Ballade die gesamte Forschungsgeschichte zusammenfassend zu präsentieren –gerade weil diese in der Regel andere Aspekte als die hier interessierenden im Blickpunkt hatte. Einen groben Überblick über die Gattungsproblematik sowie über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Schillers Balladen liefert das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit, Schillers Balladen im Kontext. Die darauf folgenden Einzelanalysen setzen unterschiedliche Schwerpunkte – gemeinsam ist den Analysen die textimmanente Interpretationsweise (selbst auf Schillers ästhetische Theorie wird nach dieser Einleitung nur noch selten verwiesen) und die Fokussierung (allerdings sehr unterschiedlicher) autoreflexiver Elemente.

    Die Auswahl und Anordnung der interpretierten Balladen beruht nicht auf einem streng logischen Prinzip; gezielt wurden aber bekanntere und weniger bekannte Balladen untersucht. Vollständigkeit habe ich, ganz dem Fokus auf den einzelnen Text entsprechend, nicht angestrebt, weshalb auch Analysen berühmter Balladen wie Die Bürgschaft in der vorliegenden Arbeit fehlen – und fehlen dürfen. Bei der Kapitelreihenfolge wurden einzelne Anknüpfungspunkte berücksichtigt, sie spiegelt aber bis zu einem gewissen Grad auch den Entstehungsprozess dieser Arbeit wider.

    Am Beginn der Untersuchung steht die Romanze Der Kampf mit dem Drachen. Hier kämpft ein junger Ordensritter nicht nur gegen ein Ungeheuer aus Fleisch und Blut, sondern auch in mehrfacher Hinsicht mit der Sprache: Weil er gegen den Drachen gekämpft hat, obwohl der Meister des Ordens dies verboten hatte, soll er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. In seiner Verteidigungsrede, die als Binnenerzählung den grössten Teil der Ballade umfasst, will er beweisen, dass er „des Gesetzes Sinn und Willen" (Der Kampf mit dem Drachen, 5549) erfüllt habe, auch wenn er nicht dem Wortlaut des Gebots gehorchte. Die Interpretation, die Deutung des Gesetzeswortes ist der erste Kampf des jungen Mannes mit der Sprache. In seiner Rede, die den Ordensmeister von der Richtigkeit seines Handelns überzeugen will, spiegelt sich dann das Ringen mit der Sprache bei der Textproduktion: Denn erzählend erlebt der Ritter seinen Kampf zum zweiten Mal und wird dabei immer wieder mitgerissen von seiner eigenen Erzählung, die gemessene Verteidigungsrede sein sollte und zugleich abenteuerliches Heldenlied ist. Doch nicht nur gegen sein Medium, die Sprache, kämpft der Drachentöter an, während er sein Erlebnis schildert, sondern es ist auch ein Kampf mit dem Publikum, das er überzeugen will. Das Resultat: Die Volksmassen jubeln, der Meister aber zeigt sich unbeeindruckt. Der junge Ritter erscheint so als einer jener Volksdichter, die Schiller 1791 in seiner Rezension Über Bürgers Gedichte kritisierte: Er vermag zwar die Massen zu betören, die Elite aber kann seine Kunst – oder eben ‚Kunst‘ – nicht erreichen. Angesichts dieses Misserfolgs verstummt der Drachenbesieger und schickt sich an, die ‚Bühne‘ verlassen. Sein Schweigen, das viel Raum für Interpretation gibt, veranlasst nun aber den Meister dazu, ihn zurückzurufen und wieder in den Orden aufzunehmen, weil ihm „der härtre Kampf gelungen" (Der Kampf mit dem Drachen, 298) sei. Doch was ist dieser „härtre Kampf"? Er besteht nicht nur in der Überwindung der eigenen Eitelkeit, die dem Jüngling vom Meister vorgeworfen worden war, sondern auch im Verzicht auf eine Fortsetzung seiner – sprachlichen – Verteidigung. Der Ritter hat am Schluss nicht nur den Drachen, sondern auch die Sprache besiegt, weil er, anstatt sich weiter in den Sprachkampf, in den Kampf mit der und durch die Sprache, zu verwickeln, zu einem Ende gefunden hat.

    Ums Enden geht es auch in der Ballade Der Taucher, die in der vorliegenden Arbeit an zweiter Stelle untersucht wird. Was dem Drachenkämpfer gelingt, darin scheitert die Hauptfigur dieser Ballade: Der Knappe, der sich – aus Übermut, aus Ehrgeiz, aus Naivität? – in den Schlund der Charybdis gestürzt hat und dem Tod nur durch Zufall entronnen ist, lässt sich zu einem zweiten Sprung überreden, den er nicht überlebt: Er verendet, weil er nicht enden, nicht im richtigen Moment aufhören konnte. Da sich in diesem Text Sprache und Macht als eng verknüpft zu lesen geben – dem König gelingt es, nur durch seine lockenden und fordernden Fragen den Jüngling zum todesmutigen Sprung in die Tiefe zu bewegen – drängt sich hier die These auf, dass die Sprachgewalt des Knappen, dessen Botenbericht von den Ungeheuern der Tiefe in allen Interpretationen gelobt wird, ihm selbst eine falsche Macht vorgaukelt, die ihn übermütig werden lässt: In der sprachlichen Überwindung des ungeheuren Strudels lauert die tödliche Gefahr, weil der Jüngling in dieser zweiten Bezwingung der Charybdis zugleich seine eigene Angst besiegt: Er begibt sich deshalb noch einmal in das Reich „[t]ief unter dem Schall der menschlichen Rede" (Der Taucher, 125) – und muss hier für immer verstummen. Am Ende der Ballade über den Knappen, der nicht enden konnte, stehen sich das Schweigen der machtlosen Zuschauer und das Tosen des Meeres gegenüber: Die Naturgewalt trägt den Sieg über den Menschen, der sie zunächst sprachlich gebändigt hat, davon. Sprache, so gibt der Taucher zu lesen, ist Macht – aber eine Macht, die nicht auf die (Realitäts-)Probe gestellt werden darf.

    Im Handschuh, dem sich die dritte Analyse widmet, geschieht nun genau das: Das Edelfräulein Kunigunde stellt die oft geschworene – also rein sprachlich versicherte – Liebe des Ritters Delorges auf die Probe, indem sie ihn bittet, den ihr entfallenen Handschuh aus dem Löwengarten zu holen. Der Ritter ist bereit, den Tatbeweis seiner Liebe unter Gefahr seines Lebens zu erbringen – und dabei verliert nicht er sein Leben, sondern Kunigunde seine Liebe. Anstatt die Liebe zu beweisen, hat die Tat die Worte zerstört … Handlung und Sprache stehen im Handschuh aber auch in anderer Hinsicht im Konflikt: Erzähltes und Erzählen wollen nicht so recht zusammenpassen, wenn die ausufernde Raubtierbeschreibung in den langen ersten vier Strophen der Ballade Spannungsbogen um Spannungsbogen anhebt, ohne dass es jemals zum Kampf kommt – auch dann nicht, als der Ritter in den Zwinger steigt. Der Erzähler beendet zunächst die Raubtier- und dann die Liebeshandlung, ohne dass sich wirklich etwas ereignet hätte, wie es die Spannungserzeugung versprochen hatte. Dadurch ergibt sich eine denkwürdige Analogie von handlungsfixiertem Leser und misstrauischer Kunigunde: Beide fordern die Einlösung eines Versprechens und beide werden enttäuscht; beide Male löst sich das, was sprachlich angekündigt worden ist, in seiner faktischen Einlösung zugleich auf. Auch in dieser Ballade läuft damit die Sprachreflexion auf ein äusserst zwiespältiges Verhältnis von Wort und Tat, von Handlung und Erzählen, hinaus.

    Die Ironie des Erzählens, die im Handschuh notwendig zu einer Enttäuschung der Lesererwartung führt, spielt im Gang nach dem Eisenhammer eine entscheidende Rolle: Der naiv-fromme Knecht Fridolin zieht den Neid des intriganten Jägers Robert auf sich, dem es gelingt, den Grafen von Saverne, ihrer beider Herr, gegen Fridolin einzunehmen. Der Graf sendet Fridolin nach dem Eisenhammer, in den Wald, wo er von zwei Schmiedeknechten umgebracht werden soll. Doch Fridolin entgeht dem Tod, weil er sich in seiner Pflichtbesessenheit, die ihm immer wieder neue Aufgaben aufgibt, in der Ausführung jenes Auftrags des Grafen verspätet: Inzwischen gelangt Robert zur Schmiede, wird dort für Fridolin gehalten und an dessen Stelle ermordet. Dies aber erfährt der Leser nur indirekt, er kann es nur erschliessen, denn der Erzähler verfolgt konsequent die (Irr-)Wege Fridolins und bringt den Leser so um den eigentlichen Höhepunkt der Ballade. Weshalb narrt der Erzähler seinen Leser so? Der naive Grundton der Ballade legt nahe, dass der Erzähler selbst ein Narr ist: Wir haben es im Gang nach dem Eisenhammer nicht nur mit einem einfältigen Protagonisten zu tun, sondern auch der Erzähler erscheint als ‚tumber Tor‘. Fridolins naiv-fromme Handlungsgrundsätze, die er balladesk-sentenzenhaft selbst äussert: „Dem lieben Gotte weich nicht aus, / Find’st du ihn auf dem Weg" (Der Gang nach dem Eisenhammer, 145f.) und „Das […] ist kein Aufenthalt, / Was fördert himmelan" (Der Gang nach dem Eisenhammer, 155f.), geben sich dabei als narratologische Grundsätze zu lesen, die der Erzähler in kindlicher Einfalt zu befolgen scheint. Der sturen Geradlinigkeit des Erzählers, der ganz auf Fridolin fixiert ist und darum die Pointe verpasst, stellt Schiller Roberts elaborierte, schmeichlerische Überredungskunst entgegen: So reflektiert der Text Bedingungen für den erfolgreichen Umgang mit Sprache, für das Funktionieren von sprachlichen Äusserungen, wobei bezeichnenderweise am Ende der geschickte Robert den Tod findet, während die erzählerische Geradlinigkeit gerade insofern erfolgreich ist, als sie ihre eigene Problematik aufzeigen kann: Der Gang nach dem Eisenhammer erweist sich damit nicht als Tiefpunkt Schiller’schen Balladenschaffens, wie es immer wieder dargestellt worden ist, sondern als Höhepunkt von Schiller’scher – zutiefst romantischer! – Ironie.

    Ein Gegenbild zum braven Fridolin, der, ohne die Zusammenhänge zu durchschauen, glücklich dem Tod entrinnt, ist die Hauptfigur der Ballade Kassandra. Schiller gibt dem antiken Stoff eine ganz spezifische Prägung, denn seine Seherin leidet nicht darunter, dass ihren Prophezeiungen kein Glauben geschenkt wird, sondern für sie ist die Sehergabe alleine schon ein Fluch: Im Wissen um die Zukunft löst sich die Gegenwart auf; ein Leben im Jetzt ist für Schillers Kassandra nicht möglich, weil sie jenseits der Zeit steht. Schiller erzählt aber nicht nur von Kassandras Leid, sondern er lässt den Leser selbst erleben, wie sich Zukunftswissen in die Gegenwart drängt: Denn explizit und implizit verweist der Text immer wieder auf den tragischen Ausgang und löst so auch für den Leser den linearen Erzählverlauf auf. Viele dieser Verweise aktivieren das Stoffwissen des Lesers, zwingen ihn, seine Kenntnisse über die antike Sage zum besseren Verständnis des Textes heranzuziehen – und in diesem intertextuellen Wissen des Lesers spiegelt sich Kassandras Seherwissen: Die Ballade wird zur Ballade über die Intertextualität, über das Funktionieren von hypotextuellen Verweisen, über den Leseprozess, der geprägt ist vom Vorwissen des Lesers, das sich unweigerlich mit dem ihm vorliegenden Text vermischt. Doch während Kassandras Seherwissen für sie im doppelten Sinne den Tod bedeutet – weil es ein Wissen um den Tod ist und zugleich ein Wissen, das ihr die Freuden des Augenblicks und damit ihr Leben zerstört – verhält es sich mit dem intertextuellen Wissen des Lesers anders: In der Ballade, in der es heisst: „Nur der Irrthum ist das Leben, / Und das Wissen ist der Tod" (Kassandra, 59f.), ‚rettet‘ Schiller die Hypertextualität, indem er den Glauben des Lesers an ein gesichertes, fixiertes Stoffwissen ad absurdum führt.

    Um Glauben und Wissen geht es auch in Der Ring des Polykrates. Polykrates, der König von Samos, glaubt sich zu Beginn der Ballade vom Glück gesegnet, will dies jedoch von seinem Gast Amasis, dem König Ägyptens, bestätigt wissen: „Gestehe, daß ich glücklich bin!" (Der Ring des Polykrates, 6), fordert er ihn auf. Doch Amasis will dieses unsichere Glück nicht bestätigen, er verweigert die sprachliche Anerkennung von Polykrates’ Glück. Und obwohl Amasis’ kritische Warnungen vor möglichem Unglück ein ums andere Mal von der Wirklichkeit widerlegt werden, beginnt Polykrates selbst an ein bevorstehendes grosses Leid zu glauben: Amasis’ Rede entfaltet eine grössere Wirkung als die realen Geschehnisse. Am Schluss der Ballade, die den Ausgang im Grunde offenlässt, ist Polykrates nur schon deshalb unglücklich, weil er selbst an sein Unglück glaubt. Aber nicht nur er: Auch der Leser verfällt – die Rezeptionsgeschichte der Ballade beweist es – in den Glauben an den Neid der Götter, obwohl dieser im Text nur von Amasis vertreten und keineswegs von einer höheren Textinstanz bestätigt wird. Nicht nur an Polykrates, auch am Balladenleser demonstriert sich so die Macht sprachlicher Suggestion – und die Gefahr der ungenauen, flüchtigen Rezeption und Interpretation sprachlicher Erzeugnisse, seien sie nun mündlicher Art, wie die Rede des Amasis, oder gar schriftlich fixiert, wie der Balladentext.

    Als Letztes wird in der vorliegenden Arbeit die Ballade Die Kraniche des Ibycus untersucht. Sie ist die ‚Ballade der Balladen‘, einerseits, weil sie als das Meisterwerk Schiller’schen Balladenschaffens gilt, andererseits, weil sie die Ballade über die Balladen ist. Die Kraniche des Ibycus erweisen sich als Zusammenfügung zweier Balladen. In der ersten ‚Ballade‘, die mit dem Tod des Sängers Ibycus im Wald endet, geben sich die Grenzen der Macht der Kunst zu lesen: Ibycus stirbt, weil er als Sänger nicht der Wirklichkeit gewachsen ist – er „hat der Leyer zarte Saiten / Doch nie des Bogens Kraft gespannt" (Die Kraniche des Ibycus, 31f.) Im zweiten Teil der Ballade – oder eben in der zweiten ‚Ballade‘ – zeigt sich dann aber die Macht der Kunst: Ibycus’ Mörder sind von der gewaltigen Eumeniden-Darstellung im Theater von Korinth so in den Bann geschlagen, dass das zufällige Auftauchen der Kraniche am Himmel oben – der Vögel, die Ibycus vor seinem Tode noch zu seinen Rächern ernannt hatte – einen unwillkürlichen Schrei provoziert, mit dem sich die Übeltäter selbst verraten. Das Zusammenspiel von Wirklichkeit und Kunst, die Grenzen und die Macht der Sprache, die in allen Balladen Schillers – ganz unterschiedlich – reflektiert werden, stellen sich damit in dieser Ballade nochmals dar, pointiert und zugleich mit einer fundamentalen Einschränkung in der Fixierung, in der Klärung dieses Verhältnisses: „Die Scene wird zum Tribunal" (Die Kraniche des Ibycus, 182), die Kunst führt die Mörder ihrer gerechten Strafe zu – den Sänger Ibycus aber erweckt sie nicht mehr zum Leben. Die Gewichtung der beiden Teile der Ballade muss offen, muss dem Leser überlassen bleiben.

    Das Schlusswort, das auf die Einzelanalysen folgt, wird nochmals einzelne Facetten der untersuchten Balladen herausstreichen, ohne aber eine Konklusion im Sinne einer allgemeinen Charakterisierung von Schillers Balladen zu leisten. Denn dies ist nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit: Sie will nur aufzeigen, was die einzelnen Texte durch ihr spezifisches sprachliches Gemachtsein über die Sprache, über Sprech-, Schreibund Lektürevorgänge, über Texte und über

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