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Wellen
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eBook268 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

„Das einzig sinnvolle ist, aus diesem Land ein für alle Mal zu verschwinden.“

Ángel hätte nie daran gedacht, dass er sich einmal in einer solchen Situation wiederfinden würde: hungrig, müde und ungewiss, ob er den morgigen Tag erleben wird. Aber kein Preis ist zu hoch für die Zukunft seiner Familie.

Wellen führt Sie in eine Welt aus Dominosteinen, Musik, Rum, Zigarren, Sex und Drogen, in der drei Episoden der Massenemigration aus Kuba in die USA miteinander verwoben werden. Ein Buch über Kuba, das weder mit der linken noch der rechten Seite sympathisiert, sondern mit den gewöhnlichen Menschen, die unter den gegebenen Umständen ihr Glück suchen. Eine Hommage an Migranten, ihre Hoffnungen und die Opfer, die sie dafür erbringen.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Juni 2017
ISBN9781547502929
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    Buchvorschau

    Wellen - José Ramón Torres

    Anmerkung des Autors

    Alle in diesem Buch erwähnten Persönlichkeiten und Ereignisse, mit Ausnahme der historischen, sind frei erfunden und jegliche Übereinstimmung mit der Realität ist rein zufälliger Natur. Der Verfasser verweist auf die Möglichkeit, dass in seinem Roman allgemein bekannte Inhalte vorzufinden sind, basierend auf Artikeln, Büchern und Dokumenten, die er zu Recherchezwecken herangezogen hat und deren Beitrag er dankend anerkennt.

    Widmung

    Für meine Frau Liz und meine Kinder Daniel und Amelia, für die Zeit, die sie dieses Buch gekostet hat.

    Die Presseaussendung

    Aufgrund des tragischen Todes eines Wachmanns vor der peruanischen Botschaft und angesichts der Duldung Krimineller durch die Regierung des genannten Landes hat die kubanische Revolutionsregierung beschlossen, die Bewachung dieser diplomatischen Vertretung einzustellen. Ab sofort tragen Botschaftsmitarbeiter die alleinige Verantwortung für jegliche Vorkommnisse auf dem Botschaftsgelände. Wir können keine Botschaften schützen, die bei dieser Aufgabe nicht mit uns kooperieren.

    (Tageszeitung Granma, Havanna, Kuba, Freitag, der 4. April 1980)

    Der Garten

    Bei Abendanbruch am Samstag, dem 5., erreicht die Zahl der Flüchtlinge annähernd die 10.000. In der Hoffnung auf Asyl bahnen sich Menschenmassen den Weg zur Botschaft. Unter denen, die es bis hinein geschafft haben, befinden sich die zehn Studenten der Universität von Havanna, die gegen neun Uhr morgens eingetroffen sind, die drei Busfahrer, deren Haltestelle in der Nähe lag und die ihre Arbeitsplätze verlassen haben, und der Fahrer des Tankwagens, der Wasser liefern sollte und einfach dageblieben ist.

    Vom Strand her kommen gerade drei junge Männer mit nacktem Oberkörper. Bevor sie das Botschaftsgelände betreten, hält einer von ihnen ein Taxi an und überreicht dem Fahrer einen Zettel mit einer Adresse sowie der Bitte, seine Familie dort abzuholen. Zusammen mit dem Papier gibt er ihm eine Armbanduhr, eine Kappe und eine Tauchmaske und versichert ihm, dass es die bestbezahlte Fahrt seines Lebens sein wird.

    „Erinnerst du dich an die Frau, die behauptete, sie habe ihr Baby hier zur Welt gebracht, und die dann verlangte, sofort als medizinischer Notfall nach Peru ausgeflogen zu werden?, fragt eine grauhaarige Frau eine andere, die sich an einen Hundezwinger lehnt. „Also, meine Liebe, die Sache war wohl anscheinend so, dass sie das Baby illegal von der Entbindungsstation in Línea hierher gebracht und in ein blutbeflecktes Betttuch gewickelt hat.

    „Aber das kann doch nicht sein!"

    „Genau so war es."

    Nur wenige Meter von den Frauen entfernt schreit ein in die peruanische Flagge gehüllter Mann in der Menge:

    „Ich bin in Peru und mich fasst niemand an. Nicht die Polizei, nicht das Militär und auch sonst niemand. Niemand!"

    Mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Verwunderung betrachtet Ángel das Schauspiel im Garten der Botschaft. Obwohl er überhaupt nicht von dem überzeugt ist, was der Spinner mit der Flagge behauptet, hat er im Moment andere Sorgen. Da ist zum Beispiel dieser Typ mit einer wie von einem Fausthieb platt gedrückten Nase, der ihn vom Boden aus anzustarren scheint. In der Hand hält er ein langes, scharfes Sägeblatt mit einem aus Heftpflastern improvisierten Griff. Sieht er wirklich Ángel an oder bildet er sich diesen bösen Blick nur ein? Ist es nur seine Angst, die ihn Gefahren sehen lässt, wo vermutlich gar keine sind?

    Angst, Schweiß und Hunger. Vielleicht sind das die Grundelemente, die Bausteine, aus denen das Leben besteht. Oder existiert zwischen Punta de Maisí und dem Cabo de San Antonio noch etwas anderes? In Guantánamo, Holguín, Camagüey, Cienfuegos, Matanzas oder Pinar del Río? Gibt es denn irgendeine Ecke auf dieser Insel, wo der Hunger, der Schweiß und die Angst nicht das Leben bestimmen und die Menschen bis in ihre Träume verfolgen?

    *****

    Mit jeder Minute kommen Hunderte Menschen dazu, und die Stimmung wird immer aufgeheizter. Am Samstag attackierten ein paar Schläger ein junges Paar, das nach Hause zurückkehren wollte. Dabei zückten sie keine Messer, doch gestern wurde einem armen unglücklichen Kerl damit gedroht, ihn abzustechen, nur weil er auf einen Mangobaum geklettert und ein Stück Lehm von seinem Schuh gefallen war. So hatte sich Ángel das Asyl nicht vorgestellt. Er hatte erwartet, dass alles friedlicher und solidarischer sein würde, und kein Vorhof zur Hölle. Sogar Wassertrinken oder Pinkeln wird zur Gefahr. Man kann sich nicht sicher sein, was passiert, wenn man zufällig einen Ellbogen streift oder über ein ausgestrecktes Bein stolpert. Man ist gut beraten, sich einer Gruppe anzuschließen und denjenigen, die für ein paar Minuten wegmüssen, den Platz freizuhalten. Aber auch da gibt es Reibereien. Wer weiß, ob er nicht versehentlich dem Typen mit der platten Nase aufs Bein tritt und dieser ihm einen tiefen Schnitt an der Achillesferse zufügt, der nicht mehr aufhört zu bluten. Dann müsste er hinkend die Botschaft verlassen.

    Hätte er sich noch vor drei Tagen vorstellen können, an einem solchen Ort zu landen? Vielleicht entscheidet man nie etwas selbst. Die Umstände. Es sind immer die Umstände, die am Ende alles bestimmen. Und Mireya, die ihn bis hierher gebracht hat. Ist Mireya etwa ein Umstand? Welch dummer Gedanke, sagt er sich noch im selben Moment. Normalerweise würde er über seine Situation lachen, doch jetzt ist ihm nicht danach zumute. Jetzt ist er schweißgebadet und hat Hunger. Und Angst, warum es abstreiten? Er hat große Angst. Nach drei Tagen im Freien, ohne Dusche und kaum etwas zu essen, kennt er den Ort schon ganz gut und er hat einen Zaunabschnitt entdeckt, über den er klettern und verschwinden könnte, doch beim kleinsten Anzeichen von Desertieren reagiert der Mob mit Gewalt.

    Die Menschenmenge und das Chaos lassen ihn von seiner Position aus nicht viel erkennen, so sehr er sich auch den Hals verrenkt. Vielleicht sollte er etwas mutiger sein und nachsehen, ob das erneute Gemurmel etwas mit der Verteilung der wenigen Essenskartons zu tun hat, die von der Regierung bereitgestellt werden. Aber dann kommt er zu der Überzeugung, dass es sich mit seinen fast vierzig Jahren nicht lohnt, wegen solch einer Kleinigkeit Kopf und Kragen zu riskieren. Das Essen landet ohnehin immer in den Händen der starken Typen, die genauso schwitzen, aber weniger Angst und weniger Hunger haben.

    *****

    Mireyas Tochter, die gerade zwölf geworden ist, stellt nicht allzu viele Fragen, macht aber keinen besonders guten Eindruck: Violettfarbene Ringe liegen unter ihren traurigen, fast schon verbitterten Augen. Ángel streicht ihr über den Kopf. Es erscheint ihm merkwürdig, dass er sich um Sofía sorgt, steht er doch kurz davor, seine eigenen Kinder zurückzulassen, möglicherweise für immer. Wenn er nicht so müde wäre, so überwältigt von seiner elenden Situation, vielleicht würde er ihretwegen weinen. Aber er weiß, dass seine Tränen erstarrt sind, er sie schon zu viele Jahre unterdrückt hat, als dass sie jetzt zum Vorschein kommen könnten. Er fragt sich, ob Eduardo Ausgang von seiner Einheit bekommen hat. Falls er das Zimmer in Monte betritt, wird er den Abschiedsbrief finden, den er auf dem Tisch zurückgelassen hat. Und Emilia? Ángel ist sich sicher, dass seine Tochter und Pepe es alleine schaffen können, so wie bis jetzt auch. Auf alle Fälle macht er sich um die beiden weniger Sorgen als um Eduardito. Wenn er erfährt, dass Ángel hinter seinem Rücken um Asyl angesucht hat, wird er ihm das nicht verzeihen.

    Eine leichte Brise bringt den Geruch von Vegetation mit sich und versetzt Ángel zurück in seine Kindheit, als es für ihn nichts Schöneres gab, als seinem Vater dabei zu helfen, einem frisch geschlachteten Schwein mit einem Rasiermesser und heißem Wasser das Borstenfell abzuziehen, es durch den blutigen Schnitt am Hals aufzuspießen und dann langsam über dem Feuer zu drehen und zu grillen.

    Während Ángel in Gedanken an jene Zeit versinkt, stimmt eine Frau die ersten Töne der kubanischen Nationalhymne an, und der Gesang verbreitet sich schleppend unter den anderen Asylsuchenden, als ob ihre Körper widerhallten und die Klangwellen in ihren geschwächten Knochen Resonanz fänden. Die Blicke der Menschen treffen sich und trösten einander. Ohne Gesten. Ohne viel Getue.

    *****

    Als Ángel gegen sechs Uhr abends am Wasserbecken ansteht, sieht er zwei Alfa Romeos und eine schwarze Luxuslimousine über die Kreuzung zwischen der Calle 72 und der Quinta Avenida fahren. Die Leute sagen, es handle sich um Fidel Castros berühmte Limousine, den ZIL. Im Laufe seines Lebens hatte Ángel immer wieder den Eindruck gehabt, beim Comandante müsse es sich um eine in olivgrün gehüllte Gottheit handeln; heute jedoch kann er sich davon überzeugen, dass auch eine leibliche Hülle existiert. Er ist ihm zum ersten Mal so nah und er fragt sich, warum Fidel höchstpersönlich zur Botschaft kommt. Bestimmt wird das Schicksal der Asylsuchenden davon abhängen, was der Comandante in den nächsten Stunden sagt und tut.

    Ángels Gedanken überschlagen sich. Welche Abfolge von Ereignissen mag Fidel bis hierher geführt haben? Inmitten der schwerwiegenden Streitigkeiten mit Venezuela und Peru über das Asylrecht in ihren diplomatischen Vertretungen in Havanna hat der Comandante seine obersten Befehlshaber um sich geschart, um zu entscheiden, ob der Polizeischutz dieser beiden Botschaften aufgehoben werden soll.

    „Meine Berater sind der Meinung, dass es zu Problemen führen könnte, wenn wir die Wachen abziehen", mag ihn der Innenminister oder der Leiter der Staatssicherheit gewarnt haben.

    „Unter den gegebenen Umständen müssen wir bedacht handeln. Den Schutz von einer Botschaft abzuziehen, birgt Risiken", wird Fidels Bruder, der Oberbefehlshaber über das Militär und Minister der Revolutionären Streitkräfte, gemahnt haben.

    An diesem Morgen jedoch, vielleicht angesichts eines im Revolutionspalast eingetroffenen Berichts, der die Zahl der Asylsuchenden mit 10.000 beziffert, wird der Comandante beschlossen haben, sich selbst ein Bild der Lage zu machen.

    Auf der Fahrt zur Botschaft wird er gespürt haben, wie die Reifen des ZIL über die mit geraden Zahlen nummerierten Straßen von Miramar rollen. Ángel stellt sich diesen Teil der Strecke durchzogen vom Duft des Meeres vor, aber vielleicht ist „El Hombre" heute zu zerstreut, um das zu bemerken. Ob es ihn wohl freut, dass die einstigen Hotelgebäude und Spielkasinos in den Straßenblöcken entlang der Avenida nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck dienen? Er hat die Wirtschaftskriminalität aus dem ganzen Viertel vertrieben und auf den Straßen sieht man heute lachende Kinder in Schuluniformen und mit Büchern unter dem Arm, Ausländer, die mit dem sozialistischen Kuba sympathisieren, und kubanische Arbeiter. Die wohlhabenden Kubaner, die sich in den 50er-Jahren in den luxuriösen Wohnsitzen aufhielten, verließen sie nach dem Sieg der Revolution und so wurden sie zuerst zu Schulen und Wohnheimen für Stipendiaten aus dem Landesinneren umfunktioniert und schließlich, als im ganzen Land Bildungseinrichtungen gebaut wurden, zu Botschaften und Niederlassungen ausländischer Firmen mit Geschäftstätigkeit auf der Insel. Es findet sich auch nicht mehr die geringste Spur der schäbigen Spielhallen und Bordelle, die sich vor 1959 ungeniert im südlichen Teil der Avenida ausbreiteten, nur wenige Meter entfernt von den exklusiven Yachtklubs und Clubhäusern im Norden, hinter dem Kreisverkehr am früheren Vergnügungspark Coney Island.

    Während Ángel im Stillen diese Regierungspropaganda wiederholt, einen Ohrwurm, wie die Kinderlieder, mit denen ihn seine Mutter früher in den Schlaf zu singen pflegte, hält der ZIL an und der Comandante öffnet das Fenster seines Rücksitzes. Er kann die Flüchtlinge sehen, die auf das Hausdach gestiegen sind und die Hände mit dem Victory-Zeichen in Richtung eines Hubschraubers heben, der das Gebiet überfliegt. Fragt sich Fidel gerade, ob er zu weit gegangen ist? Mit Sicherheit wollte er Venezuela und Peru nur eine Lektion erteilen, weil sie die wiederholten Asylgesuche unterstützt haben. Aber jetzt beginnen die Ereignisse die Fortschritte bei den Entspannungsbemühungen zu überschatten. Kuba und sein mächtiger Feind haben sich in den letzten Jahren nicht nur angenähert, es gab sogar Momente wahren internationalen Ruhms: In Angola bekämpfen Kubas Truppen erfolgreich eine der stärksten Armeen der Welt. Das Land war Gastgeber, sowohl der Weltfestspiele der Jugend und Studenten von 1978, als auch des Gipfels der Blockfreien Staaten von 1979.

    Der Comandante steigt aus seinem Fahrzeug, schließt kraftvoll die Wagentür und geht auf den Eingang der Botschaft zu. Die hunderten Asylsuchenden, die sich an den Zaun drängen, beginnen langsam und schweigend zurückzuweichen und einem peruanischen Botschaftsmitarbeiter gelingt es, auf die Straße zu treten. Ángel fragt sich, ob es nur irgendein armer Teufel ist oder aber der Geschäftsträger oder Kulturattaché, denn der Besuch kommt zu unerwartet, als dass es der Botschafter persönlich wäre. Jedenfalls tauscht Fidel mit dem Peruaner ein paar Worte aus, legt ihm dann den Arm um die Schulter und kehrt mit ihm zum ZIL zurück.

    *****

    Fast den ganzen Vormittag lang herrschte Schweigen. Bis ein Satz, ein paar einfache Laute in einer bestimmten Reihenfolge, den 11.000 Körpern, die sich dicht auf den Grünflächen, dem Hundezwinger, dem Dach und den Bäumen drängten, wieder neues Leben einhauchte.

    „Sie verteilen Schutzbriefe!"

    In weniger als zehn Minuten bestätigen sich die Gerüchte: Die Regierung hat mit der Ausgabe von Dokumenten begonnen, mit denen man nach Hause gehen und nach Belieben wieder zur Botschaft zurückkehren kann; man muss sie nur beantragen. Sie garantieren die Ausreise mit Hilfe der peruanischen Botschaft, sobald eine Einwilligung des Empfängerlandes vorliegt. Es kann sich nicht um einen weiteren „Bericht des sogenannten „Telefonisten handeln. So nennen sie den Asylsuchenden, der auf die Idee gekommen war, ein Telefon aus der Botschaft zu entwenden und im Garten anzuschließen. Schon vor ein paar Tagen haben die Peruaner sich den Apparat zurückgeholt. Dank ihm war die Menge bis ins kleinste Detail über die Verhandlungen zwischen den Botschaftsmitarbeitern und den Kubanern informiert, und jede Neuigkeit wurde in Windeseile verbreitet, kommentiert und beliebig verdreht.

    Einige, die mit dem Botschaftspersonal gesprochen haben, kehren nach Hause zurück. Das Gespräch, erzählen sie, besteht aus einer informellen Unterhaltung, bei der einer der Peruaner versucht, ihnen den Antrag auszureden, und ihnen, nachdem sie sich nicht umstimmen lassen, den Schutzbrief aushändigt. Dann wird das Gespräch auch schon freundlich beendet. Einige gehen sofort nach Hause und denken nicht daran, zur Botschaft zurückzukehren, solange es nicht unbedingt notwendig ist. Ein großer Teil aber weigert sich, das Gelände zu verlassen.

    „Ángel, die Kleine kippt uns noch um, wirft ihm Mireya mit finsterer Miene vor, „Ich bitte dich, setz dich in Bewegung und schau, ob du was zu essen findest!

    „Ich hab gerade eine Runde gedreht und nichts gefunden. Ich bringe ihr ein feuchtes Tuch, damit sie sich erfrischen kann. Wenn sie mit der Verteilung von Schutzbriefen begonnen haben, bedeutet das doch, dass langsam etwas passiert."

    „Du hast einfach nicht die Eier, dir diese Typen vorzunehmen und ihnen klarzumachen, dass es hier Kinder gibt, die seit Tagen nichts gegessen haben."

    „Daran liegt es nicht, Mireya. Es sind nicht mehr als ein paar kleine Kisten, die sie uns da über den Zaun werfen. Jede Wette, dass sie das nur tun, um zu sehen, wie wir uns ihretwegen gegenseitig umbringen. Hast du schon eine dieser Kisten gesehen? Weißt du, was drin ist? Die anderen haben gesagt, du sollst zur Sanitärstation gehen, damit sie deinen Blutdruck messen und dir ein Glas Zuckerwasser geben. Das kannst du dann Sofia mitbringen. Du willst einfach nicht verstehen..."

    „Du bist derjenige, der nichts versteht, mein Lieber. Du bist nie wirklich bei der Sache. Warum habe ich dich bloß mitgenommen, wenn du mir ohnehin nur ein Klotz am Bein bist?"

    Ángel antwortet nicht. Er kann sich nur selbst dafür die Schuld geben, ihr blind gefolgt zu sein. Er fragt sich, wie er sich von ihr so einlullen lassen konnte.

    Letzten Freitagabend kam er verschwitzt bei ihr zu Hause an, völlig erschöpft vom langen Arbeitstag in der Werkstatt und dem Weg nach Hause unter der brennenden Sonne.

    An der Tür hielt er kurz inne, um tief durchzuatmen und die angenehme Kühle der Marmortreppe und der Kacheln an der Wand zu spüren. Den Staub, die Hitze und den Lärm der Straße hatte er hinter sich gelassen. Nach der kurzen Pause fühlte er sich schon etwas besser. Er lief langsam die Treppe hinauf und machte sich bemerkbar. Aber niemand antwortete ihm und so beschloss er, noch einmal innezuhalten und die Ruhe zu genießen. Es tat ihm gut, einen Moment für sich zu haben.

    „Bist du schon da, Liebling? Wie schön! Als hättest du meine Gedanken gelesen!"

    Ángel antwortete mit einem tiefen Seufzer. Im vom Innenhof kommenden Gegenlicht konnte er gerade so die Umrisse von Mireyas Körper am oberen Ende der Treppe ausmachen.

    „Hast du schon gehört? Sie haben den Schutz der peruanischen Botschaft aufgehoben, weil anscheinend ein paar Typen einen Bus gegen den Zaun gefahren und eine Wache getötet haben."

    Es war ungewöhnlich, dass Mireya bis hierher kam, um ihn zu begrüßen. Und verwirrend, dass sie so überstürzt auf ihn einredete, während sie die Treppe hinunter auf ihn zukam.

    „Alfredo hat die Zeitung mitgebracht und ich habe ihn gebeten, sie hierzulassen. Lies selbst."

    „Einen Moment, ja? Lass mich erst einmal ankommen", protestierte Ángel, während er hinaufging.

    „Er konnte nicht auf dich warten, Liebling, aber er hat gesagt, dass wir im Haus seiner Familie in Hialeah wohnen können, wenn wir zu ihm in die USA kommen."

    „Warte mal! Seid ihr beide übergeschnappt? Erklär mir bitte, was Alfredo in den USA machen soll, mit nur einem Auge und ohne ein Wort Englisch zu sprechen? Und da würden mir noch mehr Gründe einfallen!"

    Mireya hielt verärgert inne und lief einige Stufen zurück in Richtung Wohnung. Auf dem Treppenabsatz angekommen, holte sie tief Luft, bevor sie antwortete:

    „Weißt du denn nicht, dass Alfredos Bruder Wartungsleiter in einem Hotel und Teilhaber einer Werkstatt in Miami Beach ist? Der kann dir für den Anfang auch einen Job geben. Also sei nicht so negativ."

    „Hotel? Werkstatt? Ich esse jetzt was."

    „Lass es dir schmecken. Aber hör mir nur eine Sekunde zu. Eine Menge Leute hat sich schon auf den Weg gemacht, es kommen sogar ganze Lastwägen aus den Provinzen. Wenn man erst drinnen ist, ist man auf peruanischem Staatsgebiet und die Regierung kann nichts machen. Wir müssen uns schnell entscheiden. Du weißt doch wie diese Dinge laufen..."

    Ángel ließ sich in einen der Korbsessel beim Balkon fallen; die Zeitung, die Mireya ihm in die Hand gedrückt hatte, lag auf seinem Schoß. Er fing an, die Mitteilung zu lesen, und zu zählen, wie oft die Worte „Regierung und „Botschaft im Text vorkamen. Er wusste selbst nicht, warum.

    „Hast du es gelesen oder nicht? Was machst du da?", fragte Mireya verwirrt.

    „Ich versuche, Wörter zu zählen", murmelte er.

    „Was? Ist das alles, was dir dazu einfällt, Ángel Ribot?"

    Anstatt zu antworten, ließ Ángel die Zeitung sinken, stützte die Ellenbogen auf die Lehnen des Sessels, bedeckte

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