Tonkunst-Polemiken: Österreichische Musikzeitschrift 01/2016
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Buchvorschau
Tonkunst-Polemiken - Hollitzer Wissenschaftsverlag
IMPRESSUM
Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 71/01 | 2016
ISBN 978-3-99012-275-4
Gegründet 1946 von Peter Lafite und bis Ende des 65. Jahrgangs herausgegeben von Marion Diederichs-Lafite
Erscheinungsweise: zweimonatlich
Einzelheft: € 9,50
Jahresabo: € 44 zzgl. Versand | Bestellungen: vertrieb@hollitzer.at
Förderabo: ab € 100 | Bestellungen: redaktion@oemz.at | emv@emv.or.at
Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)
ZVR-Zahl 983517709 | www.emv.or.at | UID: ATU66086558
BIC: GIBAATWWXXX | IBAN: AT492011129463816600
Herausgeber: Daniel Brandenburg | dbrandenburg@oemz.at
Frieder Reininghaus (verantwortlich) | f.reininghaus@oemz.at
Redaktion: Johannes Prominczel | j.prominczel@oemz.at
Judith Kemp | j.kemp@oemz.at
Julia Jaklin (Assistenz) | j.jaklin@oemz.at
Adresse für alle: Hanuschgasse 3 | A-1010 Wien | Tel. +43-664-186 38 68
redaktion@oemz.at | inserate@oemz.at | www.oemz.at
Werden Sie FreundIn der ÖMZ: Unterstützen Sie die Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV) oder ihren deutschen Partner Verein zur Unterstützung von Musikpublizistik und Musik im Donauraum e. V. (VUMD) | info@emv.or.at
BIC: COLSDE33 | IBAN: DE07370501981930076995
Verlag: Hollitzer Verlag | Trautsongasse 6/6 | A-1080 Wien
Tel. +43-1-236 560 54 | office@hollitzer.at | www.hollitzer.at
Coverbild: Der Kuckuck und der Esel | Scherenschnitt von Adolf M. Schwindt, ca. 1930
Layout & Satz: Gabriel Fischer | A-1150 Wien
© 2016 Hollitzer Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Die Redaktion hat sich bemüht, alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig zu machen. Zur Abgeltung allfälliger Ansprüche ersuchen wir um Kontaktaufnahme.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von
Bild: wikimedia.org
Liebe Leserinnen und Leser,
unruhig beginnt das Jahr 2016. Nicht wenige sehen angesichts der Situation in verschiedenen Ländern Europas und der gesellschaftlichen Verwerfungen mit einiger Sorge in die Zukunft. Doch die Beunruhigungen wirken sich bislang im Konzert- und Opernbetrieb nur am Rande aus – in gelegentlichen feuilletonistischen Anmerkungen, Schweigeminuten und Unterstützungsaufrufen für Flüchtlinge.
Vorm Hintergrund des Klimawandels wird hie und da an 1816 erinnert – das »Jahr ohne Sommer«. 1815 hatten mehrere Ausbrüche des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa siebzigtausend Tote gefordert, in Indonesien zu Ernteausfällen und einer großen Hungersnot geführt. Der Ascheregen erreichte nach einigen Monaten auch die nördliche Hemisphäre, verwüstete dort durch Frost und Eisstürme von April bis September viele Anbauflächen. Dies führte zu einem verheerenden Tiersterben und zur größten Lebensmittelknappheit der Neuzeit. Der Klimagipfel Anfang Dezember in Paris rief neuerlich in Erinnerung, dass derzeit weniger Nöte durch plötzliche Erkältung auf Teilen des Globus drohen als durch weiteren Anstieg der Erderwärmung. Aber auch das berührt den Musik(theater)betrieb nur peripher: Business as usual. Allerdings mit manchen Novitäten. Über sie informiert der Berichte-Teil dieses Heftes.
Der Rückblick, den wir zu Beginn des vorigen Jahres auf 1815 und die Musik im Umfeld des Wiener Kongresses richteten, 2014 auf die Musik im Kontext des ersten Weltkriegs, rekurriert heuer auf 1716 (die CD-Rezensionen in diesem Heft konzentrieren sich auf das Umfeld). In dieses Jahr fallen die denkwürdigen Siege der Truppen von Kaiser Karl VI. gegen die osmanische Armee bei Peterwardein und Temesvár – sie sicherten nicht nur Hunderttausenden im Hinterland das Überleben, sondern auch der »abendländischen Kultur«. Dies bildet den Ausgangspunkt für einige virulente Fragen zur »alten« oder auch »Barockmusik« und ihrer derzeitigen Pflege.
Die Neue Musik und einige ihrer Protagonisten erhalten auch im ÖMZ-Jahrgang 2016 besonderes Augenmerk. Während der Endredaktion erreichte uns die Nachricht vom Tod des Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, der ohne branchenübliche Übertreibung als »Jahrhundertgestalt« gewürdigt wird, als Mensch »von so unvergleichlich luzider Intellektualität und Eleganz, so unmittelbarer Liebenswürdigkeit und Offenheit« (Markus Hinterhäuser). Und, nicht zu vergessen: als polemisches Talent der Extraklasse.
Der Thementeil widmet sich weiters in großem Bogen der belebenden Wirkung von Kontroversen und Richtungskämpfen in achthundert Jahren Musikgeschichte – beginnend mit Silke Leopolds Ouverture zu den Auffassungsunterschieden und starken Wörtlein von der Ars antiqua bis zum Buffonistenstreit im zur Neige gehenden 18. Jahrhundert. Johannes Kreidler schrieb das Finale furioso des Septetts der Tonkunst-Polemiken – ganz auf heute bezogen. Wilhelm Buschs kleine Bildergeschichte Die feindlichen Nachbarn oder Die Folgen der Musik setzt die Pausenzeichen. Kampf und Krieg erweisen sich, wie bekanntlich schon Heraklit wusste, als ziemlich beste Väter und Könige auch der musikalischen Dinge, die vorwärts streben. › Das Team der ÖMZ
Inhalt
Tonkunst-Polemiken
Silke Leopold: Stinkende Kadaver, ständiges Gekläff. Hässliche Worte im Streit um die liebliche Musica
Daniel Brandenburg: Gut, schön und richtig singen – oder die Kontroverse um den wahren »bel canto«
Frieder Reininghaus: Steine des Anstoßes. Zur weitreichenden Hugenotten-Polemik im 19. Jahrhundert
Dorothea Redepenning: Das Antiwestliche und die Ranküne gegen Ausländer. Tonkunst-Polemiken im Russland des 19. Jahrhunderts
Rainer Nonnenmann: Leuchtturm und Nebelkerze. Geschichte und Aktualität des Feindbilds »Darmstadt-Komponist«
Hans-Klaus Jungheinrich: Wie die Zeit vergeht. Von der Schwierigkeit, nachher alles noch besser zu wissen
Johannes Kreidler: Wer schreit, hat Recht. Über Polemik
Neue Musik im Diskurs
Einfache Objekte gleichberechtigt behandeln wie ein über Jahrhunderte entwickeltes Instrument Hannes Kerschbaumer im Gespräch mit Doris Weberberger
Extra
Johannes Prominczel: 300 Jahre nach 1716. Die Barockmusikszene im Umbruch
Frieder Reininghaus: Pierre Boulez, der musikalische Schul- und Sprengmeister
Markus Hinterhäuser: Vom Glück einer außergewöhnlichen Begegnung. Zum Tod von Pierre Boulez
Judith Kemp: »Amazing sound! Easy to play!« Das Vogelhorn – ein Neuling in der Familie der Naturtoninstrumente
Fokus Wissenschaft
Gesine Schröder: Bruchtonstufen plus Reintöne. Alte Debatten über Fremdlinge im Tonreich und Georg Friedrich Haas’ concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und Orchester
Berichte
Großes Theater
Rossinis Il Viaggo à Reims in Zürich, Bartóks Barbe-bleue, Poulencs La Voix humaine und Belioz’ La Damnation de Faust in Paris, Fromental Halévys La Juive in Mannheim, R. Strauss’ Salome in Stuttgart, Brittens Peter Grimes in Wien (Frieder Reininghaus)
Wagners Holländer und Humperdincks Hänsel und Gretel in Wien (Judith Kemp)
Janáčeks Vec Makropulos in Bratislava (Magdalena Pichler)
Janáčeks Vec Makropulos in Wien (Judith Kemp)
Wien Modern (Philip Röggla)
Aus Österreichs Hain und Flur
Bizets Carmen in Klagenfurt (Willi Rainer)
Verdis Luisa Miller in Graz (Ulrike Aringer-Grau)
Dialoge »Zeit« in Salzburg (Ingeborg Zechner)
Schauschall Fest in Graz (Julia Mair)
Kleines Wiener Format
Johanna Doderers Fatima (Manuel Auer)
Bernd Richard Deutschs Orgelkonzert Okeanos (Christian Heindl)
Periklis Liakakis’ Chodorkowski (Lena Dražić)
Tommaso Traettas Antigone (Konstantin Hirschmann)
Preisträgerkonzert des Ö1 Talentebörse-Kompositionspreises (Timea Djerdj)
Rezensionen
Bücher
CDs
Das andere Lexikon
Maschinenmanifest – Erinnerung an eine legendäre musikalische Kampfansage (Florian Lutz)
News
Auf ein Neues – und warm anziehen!
Zu guter Letzt
Überforderungen (Frieder Reininghaus)
Vorschau
THEMA
Stinkende Kadaver, ständiges Gekläff
Hässliche Worte im Streit um die liebliche Musica
Silke Leopold
Was zum Teufel hat die Messe mit dem bewaffneten Mann, mit Filomena oder gar dem Herzog von Ferrara zu tun? Bernardino Cirillo, Bischof von Loreto, wurde in einem Brief aus dem Jahre 1549 nicht müde, gegen eine Kirchenmusik zu wettern, die sich nicht vollständig und ausschließlich auf die Vermittlung der heiligen Worte konzentrierte. Eine Melodie wie etwa das Kampflied L’homme armé als Cantus firmus für eine Messe zu wählen, hielt er für Blasphemie und eine Komposition, die Weltliches mit Geistlichem vermischte, für promisk. Als weitere Übeltäterin machte er die Polyphonie aus, weil sie den Text verwirrte und der eine ein Sanctus sang, während in einer anderen Stimme »Sabaoth« und in einer dritten »Gloria tua« erklang. Das sei, so Cirillo, ein Heulen und Brüllen und Blöken, wie Katzen im Januar.¹
Öffentlichkeit braucht Streit
Polemiken wie Cirillos Philippika gegen die Kirchenmusik seiner Zeit durchziehen die Musikgeschichte wie ein roter Faden. Zu allen Zeiten haben Musiker, Musikgelehrte oder Musikliebhaber um den rechten Weg der Musik gerungen, wenig zimperlich in der Wortwahl und hart in der Sache oder mit den scheinheiligen Samtpfoten vermeintlich gerechter Abwägung gegeneinander gekämpft. Vordergründig ging es dabei um ästhetische Positionen. Im Hintergrund aber liefen immer dieselben Grabenkämpfe ab: alt gegen neu, weltlich gegen geistlich, höfisch gegen bürgerlich, eine nationale Schule gegen eine andere. Man könnte die Musikgeschichte auch als eine Geschichte der Kontroversen schreiben und würde dabei feststellen, dass diese zumeist als Begleitmusik zu den großen epochalen Veränderungen des Komponierens erklangen.
Streit braucht Öffentlichkeit, zumindest macht er dann mehr Spaß. Die musikalische Öffentlichkeit hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt und mit ihr auch die Themen, um die sich die Kontroversen drehten. Im Mittelalter tauschten sich Gelehrte in den Klöstern und Universitäten in handschriftlichen Abhandlungen aus, die, je strittiger sie waren, desto häufiger in Abschriften kursierten. Die Erfindung des Buch- und Notendrucks ermöglichte es seit dem 16. Jahrhundert, weitere Publikumsschichten zu erreichen. In der Zeit der höfischen Gesellschaft mit ihren ebenso strengen wie undurchlässigen Hierarchien entwickelten sich die nach antikem Vorbild modellierten Akademien zu Orten gepflegter Streitkultur: Mitglieder einer Akademie erhielten bei ihrer Aufnahme einen akademischen Phantasienamen und gaben für die Sitzungen ihre gesellschaftliche Identität gleichsam am Eingang ab: Als Hirte X konnte ein einfacher Gelehrter dem Hirten Y, im wirklichen Leben Fürst und Brotherr des Gelehrten, auch einmal widersprechen, was im normalen Leben nach den Regeln des Hofzeremoniells undenkbar gewesen wäre. Und mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert, mit dem wachsenden Verkaufserfolg von Zeitungen und Zeitschriften entwickelte sich eine öffentliche Gesprächskultur, an der jeder teilhaben konnte, der sich diese Druckerzeugnisse leisten konnte. Kontroverse Diskussionen, die in diesen Zeitschriften ausgetragen wurden, förderten den Verkauf, und immer häufiger mischten sich auch solche Menschen in die Debatten ein, die die Musik von einer ganz anderen als einer musikalischen Warte aus beurteilten – Philosophen, Literaten, Gesellschaftsdamen, Flaneure.
Die Verwendung des berühmten weltlichen Chansons L’homme armé in zahlreichen Messkompositionen des 15. und 16. Jahrhunderts sorgte in klerikalen Kreisen immer wieder für Empörung.
Mit der wachsenden Öffentlichkeit wurde auch die Themenpalette, um die gestritten wurde, breiter. Ging es im Mittelalter zunächst vor allem um Detailfragen zu Notation und Tonsatz, kamen im 16. Jahrhundert, insbesondere in Zusammenhang mit Reformation und Gegenreformation, Debatten um die »wahre Kirchenmusik« dazu. Um 1600 stand die altehrwürdige Vokalpolyphonie zur Disposition, und seit die Oper zu einer in ganz Europa verbreiteten Kunstform aufgestiegen war, wurde mit zunehmender Heftigkeit um die Gestalt des musikalischen Dramas gerungen. Schon um die Entstehung der Oper wurde heftig gestritten; an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert begann in Italien eine Serie von Opernreformen, die weniger von den Komponisten als vielmehr von Dichtern und Intellektuellen in den Akademien vorangetrieben wurde. Zur gleichen Zeit begannen in Paris jene Diskussionen um den Vorrang der italienischen vor der französischen Oper (oder umgekehrt), die die Opernliebhaber in ganz Europa und das ganze 18. Jahrhundert lang in Atem halten sollten. Sie begannen scheinbar harmlos mit Vergleichen in der Kompositionsweise der Arien und Rezitative; später, im sogenannten Buffonistenstreit, der 1752 von Jean-Jacques Rousseau angezettelt wurde und bis zur triumphalen Uraufführung von Glucks Iphigénie in Tauride in Paris 1779 immer wieder aufflammte, mischten sich handfeste politische und regimekritische Töne in die Diskussion um die Frage, ob die italienische Musik natürlich sei und die französische ein ständiges Gekläff ;² stand doch erstere, so wollte es Rousseau, für eine freiheitliche, egalitäre Gesellschaft und letztere für höfische Zwänge. Ähnliche Argumentationsstrategien hatte kurz zuvor schon Johann Adolph Scheibe verfolgt, als er den weibischen Kastraten mit ihren »kreischenden Diskantstimmen« in Herrscherrollen die tiefen Stimmen der »deutschen Mannspersonen«³ entgegensetzte und letztere als Stimme der Natur und der Vernunft feierte. Debatten um die Oper setzten sich im 19. Jahrhundert fort. Wenn Richard Wagner Giuseppe Verdis Orchesterbehandlung als eine »monströse Guitarre zum Akkompagnement der Arie«⁴ schmähte, so mischte sich in dieser Aussage in Abgrenzung zu seinem eigenen Verständnis von den Aufgaben des Orchesters in der Oper auch Neid auf den ungleich Erfolgreicheren mit zusätzlich nationalistischen Untertönen.
Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1753, kurz nach