Mobilität und Musik: Österreichische Musikzeitschrift 02/2017
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Über dieses E-Book
An die 25.000 Kilometer soll Wolfgang A. Mozart bis zu seinem 25. Lebensjahr auf Konzertreisen zurückgelegt haben – gut die Hälfte des Äquatorumfangs. So beschwerlich das Reisen zu jener Zeit noch war, ist es doch seit der frühen Neuzeit ein wesentlicher Bestandteil des Musikbetriebs – mit massiven Auswirkungen auf Werke und Biographien. Von den frühen Wandertruppen bis heute ist die notwendige Mobilität mit all ihren Vorzügen und Nachteilen für Kulturschaffende vom Dirigenten über die Opernsängerin und den Manager bis hin zur Journalistin immer wieder eine Herausforderung. Und in einer Zeit, da die unzähligen Krisenherde der Welt viele Menschen zur Flucht zwingen, ergeben sich auch neue musikalische Konstellationen, die den Betreffenden vielleicht manchmal dabei helfen können, das Erlebte zu verarbeiten.
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Buchvorschau
Mobilität und Musik - Hollitzer Wissenschaftsverlag
IMPRESSUM
Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 72/2 | 2017
ISSN 0029-9316 | ISBN 978-3-99012-384-3
Gegründet 1946 von Peter Lafite und bis Ende des 65. Jahrgangs herausgegeben von Marion Diederichs-Lafite
Erscheinungsweise: zweimonatlich
Einzelheft: € 11,90
Jahresabo: € 49,90 zzgl. Versand | Bestellungen: vertrieb@hollitzer.at
Förderabo: ab € 100 | Bestellungen: redaktion@oemz.at | emv@emv.or.at
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Herausgeber: Daniel Brandenburg | dbrandenburg@oemz.at
Frieder Reininghaus (verantwortlich) | f.reininghaus@oemz.at
Redaktion: Johannes Prominczel | j.prominczel@oemz.at
Judith Kemp | j.kemp@oemz.at
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Coverbild: © Jean-Jacques Sempé
Grafische Gestaltung & Satz: Gabriel Fischer | A-1150 Wien
© 2017 Hollitzer Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Die Redaktion hat sich bemüht, alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig zu machen.
Zur Abgeltung allfälliger Ansprüche ersuchen wir um Kontaktaufnahme.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von
Adolf Schrödter: Wandernde Musikanten im Sturm
Liebe Leserinnen und Leser,
Mobilität ist eines der großen Themen der Gegenwart – auch im Kontext mit Musik. Doch nicht erst heute gehören Musikerinnen und Musiker zu denen, die viel unterwegs sind. Schon für die Spielleute, Trouvères und Minnesänger des Mittelalters war das Reisen fester Bestandteil ihrer Biographien. In der frühen Neuzeit begab sich scheinbar jeder namhafte Musiker wenigstens einmal im Leben zur Fortbildung nach Italien. Und immer wieder erfüllten sich dort auch die Hoffnungen auf eine zumindest zeitlich begrenzte, gut dotierte feste Stelle. Wenig später waren es dann ihrerseits die Italiener, die ihre Musik über die Alpen trugen und in nahezu ganz Europa verbreiteten.
Der Themenschwerpunkt dieses Heftes folgt den Spuren der niederländischen Musiker in der Renaissance, die gen Süden zogen, wie auch jenen der »Operisti«, die beschwerliche Reisen auf sich nahmen, um an immer neuen Orten ihre Kunst zu realisieren. Wie sich verschiedene überregionale Stile und Schulen mitunter verbanden, zeigt das Beispiel des vielseitig versierten, vor allem als Traversflötenvirtuose hervortretenden Jacques-Martin Hotteterre aus Paris, der im frühen 18. Jahrhundert enge Kontakte nach Italien pflegte. Und schließlich erleichterten die verbesserten Reisemöglichkeiten im 19. Jahrhundert die weltweite Mobilität von Musikern und Virtuosen, die bis heute das Konzertleben bestimmt.
Aufgrund der globalen politischen Situation ist das Thema Mobilität aber seit einigen Jahren auch von ganz anderer, allgemeinerer Brisanz. Wegen Fragen der Grenzziehung werden derzeit wieder Kriege geführt – in der Ukraine, im Nahen Osten, in Afrika. Und nicht zuletzt werden Wahlen in den »hoch entwickelten« Demokratien nicht nur aus wirtschaftlichen Motiven entschieden, sondern auch im Hinblick auf Grenz(sicherungs)fragen. In jedem Fall aber zwingen weltweite Brandherde Millionen von Menschen zur Flucht. Nur wenigen von ihnen gelingt es, in den Ankunftsländern die Träume von einem Leben ohne unmittelbare Existenzangst und in Akzeptanz aufzubauen. Einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Integration so mancher Geflüchteter liefern die vielen ehrenamtlichen Helferinnnen und Helfer, die nicht zuletzt mit kulturellen und musikalischen Projekten Brücken bauen.
Auf sehr unterschiedliche Weise kämpferisch geht es schließlich auch in unseren Extras zu Luther und Meyerbeer und zur Uraufführung von Pfitzners Palästrina vor hundert Jahren zu, ebenso in den Beiträgen zu Eislers Solidaritätslied und der soeben uraufgeführten Oper Sacrifice von Sarah Nemtsov.
»Lesen heißt, wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne«, schreibt Jean Paul. Und das beste daran: Es funktoniert ganz ohne Kofferschleppen und Blasen an den Füßen. Los geht’s! // Die Redaktion
INHALT
MOBILITÄT UND MUSIK
Musikalische Migration in Renaissance und Barock // Reinhard Strohm
Vom fahrenden Gaukler zum sesshaften Profimusiker Eine kleine Chronik
STATEMENT ZUM REISEN VON Clemens Hellsberg
Wanderschaft als Läuterung Zu Johann Kuhnaus Der Musicalische Qvack-Salber (1700) // Heinz Beier
STATEMENT ZUM REISEN VON Michael Schade
Zwischen Kunst und Kommerz Vom unsteten Leben der italienischen Opernschaffenden um 1750 // Daniel Brandenburg
STATEMENT ZUM REISEN VON Elke Hesse
Mobilität von Musik und Musikern um 1700 Der Flötist Jacques-Martin Hotteterre »Le Romain« // Gesa zur Nieden
STATEMENT ZUM REISEN VON Patricia Kopatchinskaja
»Gewohntes zu überdenken« Der andere Blick auf Musik in der Migration und im Exil // Nils Grosch
STATEMENT ZUM REISEN VON Johannes Maria Staud
Mozart schafft das! Oper mit Geflüchteten // Cornelia Lanz im Gespräch mit Anna-Lena Wende
Theater – Toleranz – Trost Flüchtlinge berichten über ihre Arbeit bei Zuflucht Kultur
Opfer einer politischen Wende Über das Schicksal von Ahmad Shakib Pouya // Judith Kemp
Am Puls der Zeit Flucht und neue Opern // Magdalena Pichler
RESPONSE
Agitation und ideologische Erziehung Zur Funktionalität von Musik am Beispiel von Hanns Eislers Solidaritätslied // Stefanie Bräuml
EXTRA
Zwischen Kreuz und Schwert Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott in Meyerbeers Les Huguenots // Sieghart Döhring
Abschied von H. F. Alban Bergs letztes Hanna-Zitat // Werner König
»Festspiel zu Ehren schmerzhaften Künstlertums« Zur Uraufführung von Hans Pfitzners Palestrina vor 100 Jahren // Gabriele Busch-Salmen
NEUE MUSIK IM FOKUS
»Ästhetisch kann ich das nicht ausblenden« Über Sarah Nemtsovs neue Oper Sacrifice // Fabian Schwinger
BERICHTE AUS WIEN
Purcells Fairy Queen und Egks Peer Gynt // Frieder Reininghaus
Korngolds Wunder der Heliane // David Wedenig
Panisellos Le Malentendu // Ralf Beer
Uraufführungen von Robert Brunnlechner und Lukas Neudinger // Christian Heindl
Abschiedskonzert Heinrich Schiff // Judith Kemp
BERICHTE AUS ÖSTERREICH
Bartabas’ Requiem bei der Mozartwoche Salzburg // Natalie Stadler
impuls Festival in Graz // Michael Eder
BERICHTE AUS DEM AUSLAND
Spolianskys Wie werde ich reich und glücklich in Mannheim, Brittens Peter Grimes in Wiesbaden, Borodins Knjas Igor in Amsterdam // Frieder Reininghaus
BERICHTE MUSEUM UND UNIVERSITÄT
Ausstellung Mozart und seine Wiener Netzwerke im Mozarthaus // Frieder Reininghaus
Tagung Musiktheatralische Textualität an der Universität Wien // Meike Wilfing-Albrecht
Tagung Neues Hören für Erwachsene an der Kunstuniversität Graz // Monika Voithofer
REZENSIONEN
Bücher, CDs
DAS ANDERE LEXIKON
Virtuosenreisen // Frieder Reininghaus
NEWS
Geographie
ZU GUTER LETZT
Salzburger Mobilitätsdynamik // Frieder Reininghaus
Vorschau
Holzschnitt v. Hans Burgkmair
Musikalische Migration in Renaissance und Barock
»Oltremontani« und »Italianità«: Wie zwei Wanderbewegungen die abendländische Musikgeschichte prägten. Reinhard Strohm
Musikgeschichtliche Darstellungen verstehen geografischen Raum meist als Distanz oder als Differenz, welche die Einheit oder Identität behindern. Solche Differenzen können durch »Einfluss«, zum Beispiel zwischen Komponisten, oder durch »Migration« zwischen Nationen überwunden werden. Die zeitliche Dimension von Musik baut auf einem ähnlichen Prinzip auf: Je weiter etwas zeitlich entfernt ist, desto mehr Unterschiede müssen überbrückt werden. Dies geschieht meist durch »Rezeption« oder alternativ durch »Tradition«. Aber was implizieren all diese Begriffe? Wie nützlich sind sie wirklich? Die Termini »Migration« und »Reise« brauchen eine eigene Definition, wenn sie auf Musikgeschichte bezogen werden. Denn wer wandert eigentlich: Menschen, Produkte oder Klang?
Die Wanderung der Oltremontani
Das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert wurden Zeuge eines der größten kulturellen Transferprozesse unserer Geschichte: der Renaissance. Von den eigenen Akteuren als »Wiedergeburt« betitelt, war es eigentlich mehr eine Übernahme oder ein »download« aus fremden Kulturen, und dabei wurde weniger aus weit entfernten Orten als vielmehr aus der vergangenen Zeit geschöpft.¹ Führende Institutionen und Gelehrte behaupteten ihre weltliche Autorität, indem sie sich in großem Stil an den Überresten der vergangenen Kultur bedienten: ihre Bücher kopierten, ihre Statuen wegtrugen, ihre Sprache lernten, ihre Architektur ausgruben und ihre Gedanken neu dachten. Der Versuch, ihre Musik wieder aufzuführen, scheiterte allerdings.
Während Gilles Binchois (rechts) vor allem in Burgund tätig war, verschlug es Guillaume Dufay bis nach Rom und Florenz. Bild: Aus Martin le Franc, Champion des Dames, ca. 1440, Bibliothèque nationale de France Ms Fr 12476
Unter den vielen Künsten und Wissenschaften, die das mittelalterliche Europa entwickelte hatte, ehe es sich bevorzugt der klassischen Antike zuwandte, war die Musik wohl die meist geschätzte und interaktivste Praxis; ihre großen Wanderungen setzten bereits vor dem Beginn der italienischen Renaissance ein. Die erste und größte dieser Migrationen war die frühmittelalterliche Verbreitung des Gregorianischen Chorals, die zweite die sogenannte franko-flämische Schule oder niederländische Vokalpolyphonie, die gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts begann. Als Grund für die Migration der musikaffinen Niederländer und Nordfranzosen hat der Musikwissenschaftler Andrew Tomasello die Politik der konkurrierenden Pontifikate während des Abendländischen Schismas (1367–1415) identifiziert:² Musiker, besonders aus den nördlichen Diözesen und speziell den Niederlanden, scharten sich in Avignon und Rom, wo die konkurrierenden Päpste ihre Rechte über die kirchlichen Ämter konzentrierten, um ihre beschädigten Autoritäten zu stärken. Die Inhaber dieser Ämter waren häufig ausgebildete Musiker.
Musiker aus dem Norden kamen jedoch auch unabhängig vom kirchlichen Netzwerk nach Italien, darunter flämische und deutsche Instrumentalisten, die sich in Florenz zur Bruderschaft von St. Barbara, auch »dei Fiamminghi«³ genannt, zusammenschlossen, oder die deutschen, tschechischen und polnischen Musiker, die nach Italien gingen, um die Universität zu besuchen.⁴
Die Diaspora der italienischen Musik
Die Migration der niederländischen Musiker in der Renaissance und die Verbreitung der italienischen Musik und Musiker vom 16. bis zum 18. Jahrhundert können zwar miteinander verglichen werden, doch sind die beiden Prozesse nicht im direkten Sinne von Aktion und Reaktion miteinander verbunden: Während die Oltremontani überwiegend in eine Richtung zogen (nämlich nach Süden), verbreitete sich die Diaspora der Italiener sternförmig auf nahezu alle europäischen Länder, darunter Spanien, England, Russland und Schweden. Des Weiteren war die Diaspora der Italiener an ihre Sprache gebunden. Sie transportierte nicht nur Musik, sondern fast alle Formen der Kunst, viele Wissenschaften, Literatur, Handwerk, Politik und natürlich Religion. Auf diese Weise gab Italien dem Rest Europas die Künste und Fähigkeiten zurück, die es zuvor aus der Antike geborgt hatte, plus Musik.
»Für den Export ›produziert‹«: Der Kastrat Farinelli sang unter anderem in Madrid, London, Paris und Wien. Bild: Gemälde von Jacopo Amigoni, Staatsgalerie Stuttgart/wikimedia.org
Innerhalb der italienischen Diaspora sind zwei große Spannungen oder Widersprüche zu beobachten. Erstens wurde – lange nach