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Im Namen der Völker: Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs
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eBook211 Seiten2 Stunden

Im Namen der Völker: Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs

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Über dieses E-Book

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag werden Kriegsverbrechen und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt. Warlords, Milizionären und sogar Präsidenten kann der Prozess gemacht werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es ein Gericht, das fast weltweit eingreifen kann. Mehr als 120 Staaten sind zurzeit Mitglied und haben sich einem großen Ideal verpflichtet: Gerechtigkeit soll über Krieg triumphieren, Recht über Straflosigkeit.

Diese Idee ist überzeugend, nahezu heroisch - doch der Alltag ist eine wahre Sisyphusarbeit aus kriminalistischem Handwerk und juristischer Hartnäckigkeit. Daneben wächst in der Öffentlichkeit die Ungeduld über die Machtlosigkeit und die Abhängigkeit von politischen Interessen Aber trotz dieser Widrigkeiten versucht der IStGH jeden Tag aufs Neue, an jenen Orten für Gerechtigkeit zu sorgen, um die sich sonst niemand kümmert.

Benjamin Dürr verbindet Analyse und Reportagen, spricht mit Anwälten, die brutale Milizenanführer vertreten: mit Richtern, die ein gerechtes Urteil finden müssen; mit Anklägern, Ermittlern und Menschenrechtsaktivisten. Und schreibt so ein aufrüttelndes Porträt dieses ersten säkularen Weltgerichts.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Körber
Erscheinungsdatum17. Okt. 2016
ISBN9783896845146
Im Namen der Völker: Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs

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    Buchvorschau

    Im Namen der Völker - Benjamin Dürr

    Strafgerichtshof.

    TEIL I:

    Von Nürnberg nach Den Haag

    Saal 600

    Was sollte man tun, wenn Adolf Hitler plötzlich vor einem stünde?⁴ Ivor Thomas, ein Abgeordneter der britischen Labour-Partei, fragte im März 1945 im Unterhaus des britischen Parlaments, ob es »die Pflicht eines britischen Soldaten wäre, Hitler zu töten oder zu versuchen, ihn lebend zu fangen«.⁵

    Außenminister Anthony Eden hatte keine Antwort. »Ich bin sehr geneigt, diese Entscheidung dem jeweiligen britischen Soldaten zu überlassen.« Hitler sei der Hauptkriegsverbrecher, sagte Eden. Sollte er jedoch lebend angetroffen werden, würde er bestraft. So hätten es die Alliierten zuvor abgesprochen.

    Die Idee der Bestrafung geht zurück auf die Initiative mehrerer Regierungen. Als nahezu der gesamte europäische Kontinent in die Hände der Deutschen gefallen war, kamen im Juni 1941 die Vertreter aus den besetzten Ländern im St. James’s Palace in London zusammen. Die britische Hauptstadt beherbergte nicht weniger als neun Exilregierungen. Und während auf dem Kontinent der Krieg tobte, dachte man auf der Insel bereits über die Zeit nach einem Ende der Tyrannei nach.

    Die neun Exilregierungen sowie Vertreter von Großbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika präsentierten im Januar 1942 eine Erklärung, in der sie forderten, »die Bestrafung der für die Verbrechen Verantwortlichen durchzusetzen, und zwar im Wege der Rechtsprechung, gleichgültig, ob die Betreffenden alleinschuldig oder mitverantwortlich für die Verbrechen waren, ob sie sie befohlen oder ausgeführt haben oder ob sie daran beteiligt waren«.⁶ Die Verantwortlichen sollten unabhängig von ihrer Nationalität aufgespürt, angeklagt und gerichtet werden. Die verhängten Strafen müssten vollstreckt werden.

    Den Großen Drei der Alliierten – Großbritannien, den USA und Russland – erschien diese Idee zunächst recht blauäugig. Der britische Premierminister Winston Churchill, der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, trafen sich in den letzten Kriegsjahren immer wieder. In erster Linie galt es, die Strategie der Kriegsführung zu koordinieren und die Zukunft Deutschlands zu besprechen. Wie mit den Nazis weiter verfahren werden sollte, war zunächst zweitrangig. Stalin hatte dafür bereits eine Lösung vorgeschlagen: einfach erschießen.

    Im Herbst 1943 besannen sich die USA, Großbritannien und Russland in der Moskauer Konferenz der alliierten Außenminister auf die Erklärung von St. James und einigten sich schließlich darauf, die deutschen Täter – sollten sie aufgegriffen werden – nicht zu töten. In der abschließenden Deklaration legten sich die Regierungen auf zwei wesentliche Prinzipien fest. Erstens: Täter sollten in den Ländern vor Gericht gestellt werden, in denen die Verbrechen begangen wurden. Zweitens: Die Hauptkriegsverbrecher sollten von einem internationalen Militärtribunal angeklagt werden, dessen Planung das amerikanische Kriegsministerium übernahm.

    1945 beschlossen die Alliierten das Londoner Statut, den Gründungsvertrag des Internationalen Militärtribunals (IMT).⁷ Darin ist festgelegt, dass das Gericht die Verbrechen der europäischen Achsenmächte Deutschland und Italien verfolgen soll und für drei Kategorien von Verbrechen zuständig ist: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    Nun mussten die Juristen noch einen Weg finden, die Verantwortlichen anzuklagen. Das Militärtribunal sollte wie später der Internationale Strafgerichtshof nicht einzelne Soldaten verfolgen, die selbst an Massakern beteiligt waren – sondern die Hintermänner, die Auftraggeber und die Planer. Der amerikanische Kriegsminister Henry Stimson und seine Juristen tüftelten deshalb das Konzept »Gemeinsamer Plan oder Verschwörung« aus. Damit wollten sie die Taten der Nationalsozialisten als Ganzes verfolgen. Statt einzelne konkrete Akte anzuklagen, sollte der gesamte Krieg als große Verschwörung angesehen werden. Die Massaker in den besetzten Gebieten und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurden als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« betrachtet und als solche angeklagt. Sie bezeichnen systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Diese Rechtskategorie war in Nürnberg neu geschaffen worden, sollte aber erst in den Jahrzehnten danach an Bedeutung gewinnen und die Strafverfolgung von Verbrechen ermöglichen, die zu Friedenszeiten und an der Bevölkerung begangen werden.

    Die Anklage konzentrierte sich vor allem auf den Krieg und das Kriegsvölkerrecht. Letzteres umfasst zwei Elemente: ius in bello, das Recht im Krieg, welches die Normen und Regeln der Kriegsführung festschreibt und zum Beispiel regelt, wie mit der Zivilbevölkerung, Kriegsgefangenen und Kulturgut umgegangen werden muss. Und ius ad bellum, das Recht zum Krieg, das auf die grundsätzliche Frage antwortet, was einen Krieg überhaupt erst legitimiert.

    Für den ersten Aspekt, das Verhalten im Krieg, legen schon die Genfer Konventionen von 1864 und 1906 fest, was im Einzelnen auf dem Schlachtfeld erlaubt ist. 1899 und 1907 ergänzten dies die Konferenzen in Den Haag mit Verträgen zur Kriegsführung an Land und auf See. Verstöße gegen jene Vertragsregeln sind seither Kriegsverbrechen, so das Misshandeln und Töten von Kriegsgefangenen oder der Zwang zur Sklavenarbeit. Das alles kannte man schon.

    Neu dagegen war die Anwendung des ius ad bellum – die Frage nach der Legalität des Kriegs. Der Angriffskrieg Deutschlands stellte zweifelsfrei eine Verletzung des Völkerrechts dar, weil kein Land ein anderes Land einfach angreifen darf. Die Idee der Alliierten, nun Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen, war so radikal wie bahnbrechend. Es war der entscheidende Durchbruch: Das ius ad bellum wird nicht nur auf Staaten angewendet, sondern auf Menschen aus Fleisch und Blut. Diese Idee brachte ein 300 Jahre geltendes Konzept ins Wanken, denn seit 1648, dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, und der mit dem Westfälischen Frieden von Osnabrück und Münster geschaffenen modernen Weltordnung waren Staaten untereinander gleich und selbstständig und souverän. Staaten verhandelten Verträge miteinander, erklärten Kriege, schlossen Frieden. Das ist das Fundament des heutigen internationalen Strafrechts, ohne das der Internationale Strafgerichtshof nie hätte gegründet werden können.

    Auf dieser Grundlage schrieben die Alliierten die Anklage gegen die Nazis.

    Prominente Angeklagte

    Nur ein paar Tage nachdem Adolf Hitler sich das Leben genommen und das Deutsche Reich kapituliert hatte, nahm der amerikanische General Lucius Clay den Richter des amerikanischen Gerichtshofs, Robert Jackson, mit nach Nürnberg. Jackson sollte Hauptankläger des Tribunals werden. Im Mai 1945 landete er in einer Stadt, wo Bombenangriffe 90 Prozent der Gebäude in der Innenstadt zerstört hatten.

    Genau hier sollte der Prozess stattfinden: In Nürnberg hatte Hitler die Massenversammlungen der NSDAP abgehalten und auf einem Parteitag die »Rassengesetze« verabschieden lassen. In Nürnberg wurde die juristische Basis für die Judenverfolgung gelegt. Die Wahl des Ortes war von großer symbolischer Bedeutung, hatte aber vor allem politische und praktische Gründe. Denn Nürnberg lag in der amerikanischen Besatzungszone. Ausschlaggebend war zudem, dass der Justizpalast an der Fürther Straße fast unzerstört aus den Ruinen ragte. Auch die angeschlossene Haftanlage war noch intakt. Im Sommer räumten deutsche Kriegsgefangene die Trümmer rund um das Gebäude auf. Ein hölzerner Korridor wurde gebaut, durch den die Gefangenen von den Zellen im Gefängnis hinter dem Justizpalast direkt in den Saal geführt werden konnten. Im Innern des Schwurgerichtssaals 600 verlegte der Technologiekonzern IBM Kabel für Kopfhörer und Mikrofone – die erste Simultanübersetzungsanlage der Welt.

    Am 20. November 1945 wurde der Hauptkriegsverbrecherprozess eröffnet. Auf der Anklagebank: die 21 Führungspersönlichkeiten des Naziregimes. Sie saßen auf Holzbänken, leicht erhöht und eingerahmt von Militärpolizisten. Die Angeklagten waren gezielt ausgewählt worden und sollten die verschiedenen Teile der Machtstruktur repräsentieren. Allen voran Rudolf Heß, »Stellvertreter des Führers«, Hermann Göring, Hitlers designierter Nachfolger, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher, verantwortlich für das Propagandablatt »Der Stürmer«. Für das Militär saß unter anderem Wilhelm Keitel in Nürnberg, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Für die Wirtschaft Hjalmar Schacht, Präsident der Reichsbank.

    Statt der bis dato üblichen Hinrichtung erwartete die Hauptkriegsverbrecher ein rechtsstaatliches Verfahren. »Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat«, sagte Chefankläger Jackson in seinem Eröffnungsplädoyer.

    Moral triumphiert über Macht, Gerechtigkeit über Krieg, Recht über Straflosigkeit: Jacksons Haltung ist bis heute das Erbe von Nürnberg.

    »Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben«, sagte Jackson. Das Tribunal sollte die Werte der Völkergemeinschaft beschützen, das begangene Unrecht sühnen und Frieden wiederherstellen. Dafür war es notwendig, die Grundlagen des Völkerrechts zu ändern und die westfälische Ordnung, in der Staaten jahrhundertelang die einzigen Akteure darstellten, aufzubrechen. Plötzlich konnten Personen angeklagt werden, die sich bisher vor Strafverfolgung sicher wähnten. Bis 1945 galt nicht allein die Souveränität von Staaten, sondern auch die Unberührbarkeit ihrer Führer. Staatschefs und hohe Regierungsfunktionäre, genau wie Diplomaten, waren von der Strafverfolgung ausgenommen, sie genossen Immunität. Folglich war es unmöglich, sie anzuklagen. »Rex non potest peccare«, der König kann kein Unrecht tun und deshalb auch nicht verfolgt werden. Wenn die Taten so schwer sind, dass sie die ganze Menschheit berühren und erschüttern, wäre es jedoch Unrecht, gerade jene mit der größten Verantwortung auszunehmen. Es gab nur eine Lösung: Auch Staatschefs sollten verfolgt werden können und sich verantworten müssen. Artikel 7 des Gründungsvertrags des Militärtribunals entzieht Funktionären jeglichen besonderen Schutz. Das offizielle Amt eines Angeklagten, ob als Staatschef oder Regierungsvertreter, soll ihn nicht von seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreien, heißt es da.

    Am 30. September und am 1. Oktober 1946, zehn Monate nach der Eröffnung des Prozesses, sprachen die Richter in Nürnberg die Urteile. Zwölf Angeklagte wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, drei zu lebenslanger Haft und vier zu Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Am 16. Oktober wurden die Todesurteile in einer Turnhalle hinter dem Justizpalast vollstreckt.

    Die Verteidiger hatten noch versucht, sich auf die alte Ordnung zu stützen, und argumentiert, eine Einzelperson, die im Auftrag eines Staates handle, könne nicht persönlich haftbar gemacht werden. Zudem beschränke sich Völkerrecht auf Angelegenheiten zwischen Staaten. Im Urteil von Nürnberg fegten die Richter diesen Grundsatz vom Tisch. »Verstöße gegen internationales Recht werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Einheiten.«

    Mit der Verkündung des Urteils im Herbst 1946 war eine neue Norm im Völkerrecht geschaffen: Immunitäten gelten seither für bestimmte internationale Verbrechen nicht mehr.⁹ 1948 fand das Prinzip Eingang in die Konvention gegen Völkermord; 1973 in die Konvention gegen Apartheid und 1984 in die Anti-Folter-Konvention sowie 1993 und 1994, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda ins Leben rief, wurden auch dort die besagten Immunitäten aufgehoben. So stand im Jugoslawien-Tribunal, das die Verbrechen des Balkankriegs aufarbeitete, Slobodan Milošević vor Gericht. Vor dem Ruanda-Tribunal musste sich Jean Kambanda, der Präsident des extremistischen Regimes, für den Völkermord 1994 verantworten.

    Der Internationale Strafgerichtshof schreibt die Grundlagen von Nürnberg ein für alle Mal fest. Und niemand ist davon ausgenommen. Der Gründungsvertrag – das Römische Statut – hebt jegliche Immunitäten für die vier Verbrechen auf, die der Strafgerichtshof verfolgen kann: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.

    In den ersten Jahren leitete das Gericht Verfahren gegen vier ehemalige, amtierende und zukünftige Staatschefs ein: Laurent Gbagbo, ein abgewählter Präsident der Elfenbeinküste; Uhuru Kenyatta, der frisch gewählte Präsident von Kenia; Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi und schließlich Omar al-Baschir, der Präsident des Sudan, gegen den gleich zwei Haftbefehle erlassen wurden.

    Der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, schreckte nicht davor zurück, wie auch in Nürnberg die höchste Staatsebene zu verfolgen. Die Idee vom Ende der Straflosigkeit und der Immunitäten schien sich durchgesetzt zu haben – zumindest theoretisch.

    Die Unberührbaren?

    Der Präsident entkam nur knapp. An einem Samstagabend im Juni 2015 jettete Omar al-Baschir ins südafrikanische Johannesburg, um in Sandton, dem Vorort der Reichen, an einem Gipfeltreffen teilzunehmen. Beim Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs stellte sich der kräftig gebaute Präsident der Republik Sudan in seinem marineblauen Anzug in die erste Reihe, legte die Hände ineinander und

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