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Der Rosenberg
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eBook255 Seiten3 Stunden

Der Rosenberg

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Über dieses E-Book

Rosenheim, 1942.Der knapp achtzehnjährige Paul ist jüdischer Abstammung und wird zusammen mit seinen Schwestern auf der Straße von einer deutschen Patrouille kontrolliert. Während die Polizei beide Schwestern gewaltsam in ihren Wagen zerrt, wird Paul von der wohlhabenden Alexandra von Wertheim, der Witwe eines hohen SS-Offiziers, gerettet, die ihn als ihren Sohn ausgibt.Sie nimmt ihn bei sich auf, verschafft ihm eine neue Identität und deutsche Papiere. Nicht ohne Gegenleistung. Paul zahlt einen hohen Preis. Er verkauft sich selbst an die ältere Frau, die ihn immer mehr vereinnahmt. Und das, obwohl er in der Nachbarin Romy seine große Liebe findet.
SpracheDeutsch
HerausgeberTelescope Verlag
Erscheinungsdatum10. März 2016
ISBN9783959150187
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    Buchvorschau

    Der Rosenberg - Robin von Weikersthal

    Autor

    Prolog

    Manchmal sagte seine Großmutter, die Juden seien ein eigenartiges Volk. Damals verstand er nicht, was sie damit meinte. Paul war Jude und fand seine Familie nicht eigenartiger als andere Familien auch.

    Doch wenn er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass schon manches merkwürdig gewesen war. Einmal hatte er mit seinem Vater Karl, seiner Mutter Waltraud und seiner großen Schwester Eva eine Oper von Mozart gesehen. Kaum hatten sie gemeinsam das Münchner Residenztheater verlassen, begann seine Mutter ganz hemmungslos und lauthals auf der Straße zu singen. Paul konnte sich noch genau daran erinnern, dass seine Mutter in der Pause ein Glas Sekt getrunken hatte. Normalerweise trank Waltraud nie Alkohol. Dem kleinen Paul war der Auftritt seiner Mutter mehr in Erinnerung geblieben als die Hochzeit des Figaro selbst.

    Auch zu Hause sang seine Mutter gern oder summte vor sich hin, wenn sie in der Küche einen Kuchen backte oder die Wäsche auf dem Dachboden aufhängte. Sie hatte eine schöne Stimme, soweit er das beurteilen konnte, aber es war ihm unangenehm, wenn sie in der Öffentlichkeit trällerte.

    Paul lag diese Art der Kunst nicht. Wenn sie an Weihnachten vor der Bescherung „O du Fröhliche oder „Es ist ein Ros entsprungen anstimmten, bewegte er nur stumm die Lippen und beschränkte sich aufs Zuhören.

    Eigentlich seltsam, dass sie Weihnachten feierten. Denn für Juden gab es keinen Jesus und somit auch keinen Geburtstag des Heilands. Nur messianische Juden glaubten an den biblischen Jesus der Christen, den sie Yeshua nannten und der als Retter Israels gehuldigt wurde. Pauls Familie gehörte nicht dieser Glaubensrichtung an und für Pauls Eltern waren messianische Juden auch keine Juden, sondern Christen. Trotzdem feierte die Familie Weihnachten, weil die Kinder die Geschichte von der Geburt Jesu in einer Krippe in Bethlehems Stall liebten. Vor allem aber das Fest als solches: den geschmückten Baum, die roten Kerzen und nicht zuletzt die Geschenke. Bei christlich erzogenen Kindern war das wohl nicht anders.

    Als Paul in Rosenheim auf das Gymnasium kam, feierten sie zum letzten Mal Weihnachten. Danach waren die Kinder alt genug, um zu verstehen, warum es für Juden kein Weihnachten gab. Als wenn Weihnachten eine Frage des Alters wäre.

    Von da an feierten sie Hanukkah, ein jüdisches Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem 164 vor Christus. Sie feierten am 25. Dezember, aber das Lichterfest war eben nicht Weihnachten. Dabei schien Christus in Bayern allgegenwärtig zu sein. In jeder Gastwirtschaft hing das Kreuz und selbst die allgemein gültige Zeitrechnung ging in der westlichen Welt von seiner Geburt aus.

    Sie lebten in einem christlich geprägten Land und das war nicht zu leugnen. Während seiner Schulzeit merkte Paul das immer wieder. Es hatte ihn nie gestört. Er wurde nie gehänselt und die meisten seiner Freunde waren nicht jüdisch. Paul trug keine Kippa. Er besaß nicht einmal eine. Nur sein Vater setzte die gebräuchliche Kopfbedeckung auf, wenn er in die Synagoge oder auf den Friedhof zum Grab seines Vaters ging. Aber auch nur dann. Rein äußerlich unterschieden sie sich in nichts von den Katholiken oder Protestanten. Glaubten sie.

    Familie Rosenberg war bayerischer und traditionsbewusster als die meisten ihrer Nachbarn. Paul und seine Schwestern wurden streng erzogen. Sie wussten sich bei Tisch zu benehmen, waren artige und gute Schüler. Die Mutter war Hausfrau. Nur abends saß sie manchmal über den Büchern und kümmerte sich um die Buchhaltung und die Korrespondenz.

    Pauls Mutter schien immer zu Hause zu sein. Zumindest war sie immer da, wenn er und seine beiden Schwestern aus der Schule kamen. Dann stand meist das dampfende Essen in bunt-verzierten Rosenthal-Porzellanschüsseln auf dem Tisch und die ganze Familie nahm gemeinsam das Mittagessen ein. Manchmal mit dem Vater. Manchmal ohne.

    Karl Rosenberg war Apotheker. Das Ladenlokal hatte er von seinen Schwiegereltern übernommen. Einst war er dort in die Lehre gegangen und hatte sich in die Tochter des Hauses verliebt. Schon damals, als Neuling in der Rosenheimer Löwen-Apotheke, arbeitete er mit vollkommener Hingabe und Herzblut. Karl liebte seine Arbeit, seine Kunden und die historische Einrichtung, die aus dem 18. Jahrhundert stammte. Ein Vorfahre seiner Frau hatte die Apotheke 1740 gegründet und noch im gleichen Jahr wurde sie zur königlichen Hofapotheke ernannt.

    Karls Eltern hatten kein Geld für das Pharmaziestudium ihres Sohnes, aber Waltrauds Vater investierte, als die Beziehung zu seiner Tochter ernster wurde, in die Ausbildung seines Schwiegersohns in spe. So kam es, dass Karl an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Pharmazie studieren konnte. Bereits in Karls erstem Semester wurde Waltraud schwanger und die beiden mussten auf Drängen ihrer Eltern heiraten, sonst hätte Waltrauds Vater die Studienfinanzierung sofort wieder eingestellt. Waltraud wäre das nur recht gewesen, denn ihr gefiel es nicht, dass ihr Angetrauter in München studierte, wo er eine kleine Kemenate bewohnte. Sie vertraute ihm, aber sie vermisste ihn unter der Woche sehr. Und wenn Karl am Wochenende zu ihr kam, musste er lernen.

    Nach der Geburt ihres ersten Kindes, der kleinen Eva, änderte sich Waltrauds Alltag schlagartig: Waltraud, das verwöhnte Mädchen, wurde über Nacht erwachsen. Sie war eine rührende Mutter. Doch plötzlich missfiel ihr die räumliche Nähe zu ihren eigenen Eltern. Am liebsten wäre sie ausgezogen. Am besten zu Karl nach München. Doch das waren Hirngespinste. Sie hatten kein Geld und ohne die Hilfe ihrer Eltern wären sie völlig hilflos gewesen. Also musste Waltraud sich wohl oder übel mit der Situation abfinden. Immerhin hielt die kleine Eva sie so auf Trab, dass sie kaum noch Zeit hatte, ihren geliebten Karl zu vermissen.

    Waltraud und ihre Mutter stritten häufig. Nach Evas Geburt verging einige Zeit, bis Waltraud sich einen gewissen Freiraum erkämpft hatte, den ihre Eltern akzeptierten. Dennoch versuchte die Oma größtmöglichen Einfluss auf die Erziehung ihrer Enkelin zu nehmen. Wenn es sein musste heimlich oder gegen Waltrauds Willen.

    Die kleine Eva liebte ihre Oma. Im Gegensatz zu ihrer Mutter blieb Oma Margarethe stets die Ruhe in Person. Sie war immer lieb, hatte Zeit zum Spielen und hörte zu.

    In Karls drittem Studienjahr kam Paul zur Welt. Er wurde der ganze Stolz seines Großvaters, der ihm am liebsten sofort die Apotheke und das Haus überschrieben hätte. So sehr er seinen Schwiegersohn schätzte, war er doch nicht sein Fleisch und Blut.

    Weitere zwei Jahre später bekamen Eva und Paul noch ein Schwesterchen. Hilde war schon bei ihrer Geburt von außergewöhnlich kräftiger Natur und mit vier Jahren schon stärker als ihr großer Bruder. Die Nachbarn nannten sie „Hilde, die Wilde" und jedes Kind in der Gegend kannte sie. Hilde spielte Fußball mit Jungen, die doppelt so alt waren, und bald wurde sie meist zuerst in die Mannschaft gewählt. Die Jungen akzeptierten sie. Eine gute Entscheidung, denn Hilde war alles andere als zimperlich. Das bekamen auch ihre Geschwister zu spüren, wenn gestritten wurde.

    Waltraud konnte sich nicht erklären, wie sie zu einem derartigen Kind gekommen war. Niemand sagte es, aber Hilde passte so gar nicht in die Familie. Nur einmal hörte Paul, wie seine Großmutter sagte: „Die Hebamme muss das Kind vertauscht haben!"

    Eine Zeitlang glaubte Paul, Hilde sei nicht seine richtige Schwester. Die Familienähnlichkeit war jedoch unverkennbar. Je älter er wurde, desto mehr war Paul es, der rein optisch nicht in die Familie passte: Ein hübsches Kind, das zu einem auffallend schönen Mann heranwuchs. Sein dunkles, kurzes Haar trug er brav gescheitelt, die hohen, markanten Wangenknochen und seine großen braunen Augen fielen jedem Mädchen in der Stadt auf. Sein Gesicht war von einer ungewohnten Ebenmäßigkeit, seine Haut makellos und seine Lippen wohlgeformt.

    Waltraud war keine hässliche Frau. Auch Eva nicht. Doch mütterlicherseits prägten etwas zu groß geratene Nasen die Gesichter. Pauls zierliche Nase passte hingegen ebenso perfekt zu seinem Antlitz wie der Rest in seinem Gesicht. Auch seine große und schlanke Figur fiel auf und manchmal blieben Menschen stehen, nur um ihn anzusehen.

    Im Alter von fünfzehn Jahren begann Paul, an schulfreien Samstagen in der Apotheke auszuhelfen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich an diesen Tagen kichernde Mädchen aus der Schule einfanden. Aus Verlegenheit kauften sie etwas oder drückten sich nur am Schaufenster die Nase platt.

    Nicht nur kleine Mädchen wurden von Paul in den Bann gezogen.

    „Eine Mark und zwanzig Pfennige", wiederholte Paul, aber die Dame gegenüber reagierte nicht.

    „Oh Gott!, stammelte sie schließlich erschrocken – ehe es aus ihr heraussprudelte: „Entschuldigen Sie bitte. Ich war abgelenkt. Wissen Sie: Ich habe noch nie einen so schönen Mann gesehen. Wobei: Sagt man das zu einem Mann überhaupt? Heißt es nicht besser ein gut aussehender Mann?

    Sie redete sich um Kopf und Kragen. „Äußerst gut aussehend", ergänzte sie und lief rot an.

    Paul fand solche Komplimente unangenehm, aber er hatte sich daran gewöhnt. Hastig packte die Frau die Arznei in ihre Tasche, drehte sich um – und lief direkt in einen Ständer mit Taschentüchern, der krachend zu Boden fiel.

    Sie bückte sich.

    „Lassen Sie das, sagte Paul höflich, um sie vom Aufräumen und weiteren Missgeschicken abzuhalten, „ich mache das schon.

    Er schmunzelte, als die Frau die Apotheke verließ.

    Je älter er wurde, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er anders war als andere Jungen in seinem Alter. Allmählich lernte er die Vorteile seines Aussehens zu nutzen. Selbst seine eigene Mutter konnte er um den Finger wickeln. Von seiner Großmutter ganz zu schweigen. Nur bei Hilde, der Wilden, versagte sein Charme, und als ihm die kleine Schwester einmal ein blaues Auge verpasste, war das für Waltraud, als hätte jemand einen ihrer Porzellanengel zerstört.

    Die Sammlung ihrer Porzellanengel war Waltrauds Allerheiligstes. Fein säuberlich aufgereiht standen sie in allen Größen auf der Anrichte im Esszimmer. Mit einem winzigen Wedel wischte die Mutter hier jeden zweiten Tag Staub und verbrachte damit genauso viel Zeit wie mit dem Wischen von Küche, Diele und Badezimmer zusammen.

    Kapitel 1

    Paul war acht Jahre alt, als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler. Das hatte Paul schnell wieder vergessen, denn später nannte man den wichtigsten Mann im deutschen Reich schlicht „Führer".

    Paul interessierte sich, wie die meisten Kinder seines Alters, nicht für Politik. Trotzdem ahnte er, dass diese Wahl keine gewöhnliche Reichstagswahl war. Auch wenn er nicht verstand, was seine Eltern so beunruhigte, spürte er ihre Besorgnis. Paul wusste, dass Faschismus nichts Gutes war. Warum, das wusste er nicht. Er hatte das Wort schon öfter gehört, aber auf Nachfrage immer eine unverständliche, unbefriedigende Antwort erhalten. Deshalb hatte er es aufgegeben zu fragen. Genauso ging es ihm mit einem anderen Wort: Nationalsozialismus. Wie so oft gab es die schwierigsten Antworten auf die einfachsten Fragen.

    Neun Jahre später, Frühjahr 1942.

    Seit dem 1. September 1939 war Krieg. Von den Schlachten in Polen spürten die Rosenheimer wenig. Manchmal gelang es ihnen sogar, den Kriegszustand erfolgreich zu verdrängen. Nur der Judenstern erinnerte die Rosenbergs daran, dass sich auch im eigenen Land einiges geändert hatte. Alle vier trugen sie seit über einem Jahr das vom Nazi-Regime für ihr Volk vorgeschriebene Zeichen: Zwei überlagerte, schwarzumrandete, gelbe Dreiecke, die einen sechszackigen Stern bildeten.

    Seit die Kennzeichnung der Juden von oberster Stelle angeordnet worden war, gingen sie nur noch auf den Wochenmarkt am Ludwigsplatz, wenn es nötig war. Statt wie früher jeden Samstag nur noch einmal im Monat.

    Paul half seinem Vater Karl beim Tragen, seine Schwester Eva hatte meist eine eigene Einkaufsliste.

    Frau Klinker machte den besten Obatzter der Stadt. In ihrem Spezialitätenladen am Rande des Marktplatzes gab es auch Käse, der teilweise von weit her geliefert wurde. Obatzter war eine neue Käsecreme aus verschiedenen Sorten und Gewürzen – Pauls liebster Brotaufstrich. Seine Mutter streute gern noch etwas Schnittlauch darauf, was er als überflüssig empfand, sich aber nie beschwerte, weil der Schnittlauch ohnehin nach nichts schmeckte.

    Frau Klinker schien immer genug zu essen zu haben. Zumindest deutete ihr korpulentes Äußeres darauf hin. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen. Sie hätte sechzig sein können, dann hatte sie sich gut gehalten. Vielleicht war sie aber auch erst dreißig. Obwohl Frau Klinker ihn immer etwas griesgrämig anschaute, mochte sie Paul, der als kleiner Junge bei jedem Einkauf etwas geschenkt bekommen hatte. Ein Stück Käse, ein kleines Laugenteilchen oder eine Scheibe Wurst. Nur wenn Hilde oder Eva dabei gewesen waren, hatte es nichts gegeben. Auch für Paul nicht. Womöglich war Frau Klinker zu geizig, gleich zwei oder drei Geschenke zu verteilen. Deshalb ging Paul mit seinem Vater am liebsten allein zu ihr. Daran hatte sich auch nichts geändert, als er älter geworden war.

    Den Spezialitätenladen am Marktplatz hatten sie schon länger nicht mehr besucht.

    „Dort ist einfach völlig überteuert und die Sachen sind woanders genauso gut!", erklärte Karl Rosenberg.

    Eine glatte Lüge, dachte Paul. Die Tatsache, dass Waltraud für ihren zwanzigsten Hochzeitstag darauf bestand, Käse aus dem Spezialitätenladen zu kaufen, sprach dafür, dass das Angebot etwas Besonderes war. Paul fragte sich, ob er von Frau Klinker immer noch eine Scheibe Käse auf die Hand bekommen würde. Schließlich war er jetzt siebzehn und ein junger Mann.

    Die Voraussetzungen waren gut, denn die Familie hatte sich aufgeteilt. Während Eva mit ihrer Mutter die weißen Tischdecken aus der Reinigung abholte, betrat Paul mit seinem Vater den Spezialitätenladen, der etwas abseits von den Marktständen lag.

    Die Einrichtung hatte sich in den letzten Jahren nicht verändert. Auch Frau Klinker sah aus wie immer – oder vielleicht noch ein bisschen runder.

    Paul war sich sicher, dass sie ihn erkannte. Er lächelte ihr zu. Sie lächelte nicht zurück, sondern guckte etwas seltsam und nervös, während sie sich offenbar mühsam darauf konzentrierte, den Kunden vor ihnen zu bedienen. Sie schnitt für den älteren Herrn Appenzeller in Scheiben und wog den Käse anschließend ab. Dabei warf sie immer wieder einen Blick über die Schulter des Mannes auf Paul und seinen Vater. Sie wirkte irritiert und wurde zunehmend unruhig.

    Frau Klinker kassierte den Herrn freundlich ab und Pauls Vater machte einen Schritt auf den Verkaufstresen zu. Noch bevor er bestellen konnte, sagte sie: „Es tut mir leid. Ich darf Ihnen nichts verkaufen."

    „Frau Klinker!, erwiderte Pauls Vater empört, „Sie waren doch noch letzte Woche in meiner Apotheke.

    „Seien Sie still, flüsterte sie, „das war ein Notfall. Bitte verlassen Sie den Laden, bevor mein Mann Sie sieht.

    Paul fragte sich gerade, ob er Herrn Klinker jemals zuvor gesehen hatte, da zuckte er zusammen, weil sein Vater mit der Faust auf die Ablage schlug. Der ganze Tresen wackelte. Das sah dem ruhigen, zurückhaltenden Karl gar nicht ähnlich. Für seine Verhältnisse kam es einem Wutausbruch gleich.

    „Es steht Ihnen frei, in meiner Apotheke einzukaufen oder nicht. Aber wenn ich in Ihrem Laden bin, dann erwarte ich auch, bedient zu werden."

    Anscheinend wusste Frau Klinker nicht, wie sie reagieren sollte. Beide schwiegen. Paul wollte seinem Vater gerade vorschlagen, den Käse doch lieber auf dem Markt zu kaufen.

    Schließlich seufzte Frau Klinker ergeben. Paul atmete auf und wunderte sich, dass sein Vater nicht endlich bestellte. Karl stand reglos mitten im Laden, als die Türglocke weitere Kundschaft ankündigte. Unterbewusst nahm Paul war, dass zwei Damen fast im Chor „Grüß Gott" riefen. Karls Hände zitterten.

    Pauls Vater und Frau Klinker standen sich immer noch schweigend gegenüber und starrten sich an.

    „Was darf es dein sein?", fragte Frau Klinker nach einer gefühlten Ewigkeit.

    Sein Vater bestellte drei verschiedene Käsespezialitäten, bezahlte und verließ den Laden. Erst vor der Tür fiel Paul auf, dass Karl sich den mit ein paar Stichen aufgenähten Judenstern von der Brust gerissen hatte. Wann hatte er das getan? Und warum?

    Karl erwachte erst wieder aus seiner Lethargie, als Waltraud und Eva auf sie zukamen.

    „Hast du alles bekommen?"

    „Ja", antwortete er knapp.

    Gemeinsam gingen sie mehr oder weniger wortlos nach Hause.

    Waltraud hatte die Wohnung mit Osterdekoration geschmückt und einen Korb mit gekochten Eiern gefüllt. Auf dem Esszimmertisch stand ein gewaltiger Strauß mit strahlend gelben Forsythien aus dem Garten. Draußen blühten sie noch nicht, aber die Zweige in der Vase sahen prächtig aus.

    Es war Samstag, der 4. April 1942, und die Familie versammelte sich zum Mittagessen. Nur Karl fehlte, sehr zum Ärger seiner Frau.

    „Wo treibt er sich nur wieder rum?", rätselte Waltraud und schickte Paul los, um ihn zu suchen.

    Paul sah im Keller nach und lief dann in den Vorgarten. Links daneben stand das Haus der Großeltern, in dem sich unten die Apotheke befand. Nur ein schmaler

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