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Alles, was Sie über Philine Blank wissen müssen
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eBook360 Seiten4 Stunden

Alles, was Sie über Philine Blank wissen müssen

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Über dieses E-Book

So glasklar und schmerzhaft schön ist die Geschichte vom Erwachsenwerden lange nicht erzählt worden.

Philine hat eine in Liebesdingen wankelmütige Mutter und wechselnde Väter, sie bewegt sich im Wasser wie ein Fisch und verliert schließlich auch an Land den Boden unter den Füßen. Als Philine nach einem Zusammenbruch in ein Dorf umziehen muss, lernt sie Planta kennen, Planta-derden-Plan hat, der ihr im Morgengrauen das beste Rührei der Welt serviert und dessen Augen so blau sind wie ein Haifischbecken.
Er zeigt ihr das "Flaschenhaus" am See, wo jeder willkommen ist. Hier scheint ein anderes Leben möglich, ein glückliches, schwereloses, freies. Doch als sich die Flaschenhauskommune im Winter auflöst, entscheidet sich Philine gegen das Kaputtgehen und hält fest – was war und was nicht gewesen ist, und alles, was Sie wissen müssen.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum16. Aug. 2016
ISBN9783701745340
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    Buchvorschau

    Alles, was Sie über Philine Blank wissen müssen - Katja Buschmann

    Grad.

    0

    Dämmerung, Zwischenreich

    Später, viel später. Der Wind streichelt das Gras. Leicht bewölkt. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Nicht mehr Tag. Noch nicht Nacht.

    »Das kannst du doch nicht machen.«

    »Zeit für Tatsachen. Das hast du selbst gesagt.«

    »Das werde ich nicht zulassen.«

    »Man muss der Wahrheit ins Auge sehen.«

    »Es ist nur die halbe Wahrheit. Höchstens.«

    Die wiederum reicht für eine ganze Geschichte. Es hat mich einige Zeit gekostet, die Wahrheit herauszufinden. Warum sollte ich gleich alles verraten?

    »Dir scheint viel daran zu liegen.«

    »Wir müssen uns an die Fakten halten.«

    Und die Fakten sind –

    »So ein Ende hat sie nicht verdient.«

    Wer sagt, dass es das Ende ist?

    »Verschweigst du mir etwas, Philine?«

    Sommer, Planta, weißt du noch? Wie wir im Garten hinterm Flaschenhaus saßen und du mir geholfen hast, meine Geschichte zu schreiben? So wie ich dir half mit deiner? Über uns der Himmel, Wolken. Unter uns die Erde, Gras. Vor uns die Überreste von dem, das hinter uns lag, das uns alles gewesen ist. Ein Traum, den wir träumten, bis es keiner mehr war. Sondern schon ein Leben. Das sich so richtig angefühlt hatte, so wirklich, ganz und gar. Weil es unser Leben war. Wie du es gesagt hast, Planta: weil wir uns nicht darum gekümmert haben. Weil wir sorglos waren. Weil wir unser Schicksal in die Hände von anderen gelegt haben. Weil wir nicht sicher waren, wo die Wirklichkeit aufhörte, wo etwas anderes begann, weil wir alles durcheinandergebracht hatten, was konnten wir dafür? Wir haben nichts getan. Nur das, was wir für richtig hielten. Weil wir den Moment liebten, und es nichts gab als das: Momente. Immer, wenn ich mich auf den langen Weg zum Flaschenhaus machte, merkte ich, wie die Zeit sich veränderte. Wie sie unwichtiger wurde. Aufhörte. Sich auflöste. Endete. So wie die Pfade. Wie die Wege. Und irgendwann nur noch plattgetretenes Gras. Und irgendwann nur noch hohes Gras. Und irgendwann nur noch ein Schritt. Und ein nächster. Und ein nächster. Irgendwann setzte der Regen ein. Als ich das Flaschenhaus erreichte, völlig durchnässt, hatte ich die Zeit längst vergessen. Dort gab es nur noch Jetzt. Und Jetzt. Und Jetzt. Und Vitali, der vielleicht der beste Lügner von uns allen war. Der nicht zu kämpfen bereit war, als es darauf ankam. Für Träume kämpft man nicht, hat Vitali gesagt. Man lässt sie geschehen. Kommen und gehen. So wie Vitali, der sich eines Tages in unser Dorf verlaufen hatte, was wohl die einzig mögliche Art ist, diesen Ort überhaupt zu finden. Sich niederließ, in der Wildnis, zwischen den Tagebaurestlöchern, wo die Bagger ruhen und die Kräne schlafen, sich erholen von den Strapazen vergangener Tage, abgelegt von einer Horde spielender Kinder, die, bei näherer Betrachtung, erstaunlich erwachsen aussehen – und die vergessen haben, aufzuräumen. Vitali, der einfach fortgegangen ist, wie viele hier. Die nichts zurückließen als Leere, Lücken, Scherben. Aber auch Erinnerungen. Und uns, die wissen, dass man eine Leere füllen kann. Eine Lücke schließen. Scherben sammeln. Blätter sortieren. In den Trümmern der Geschichte wühlen.

    »Die Leute werden das nicht mögen.«

    »Sie müssen es auch nicht mögen. Es reicht, wenn sie es lesen.«

    »Warum sollten sie? Wo ist da die Hoffnung?«

    Natürlich hatte ich, wie so oft, nicht an die Leute gedacht. Planta hingegen … Er dachte an nichts anderes.

    »Da trennt sich gleich die Spreu vom Weizen. Die, die sich abschrecken lassen. Und die, die es wissen wollen, die mutig sind, weitergehen.«

    Und allen, die sich an dieser Stelle bereits von uns verabschieden: gute Reise und viel Glück! Und allen anderen, die sich ein Herz fassen und weiterlesen: gute Entscheidung. Viel Glück. Planta, sage ich, denk doch mal nach. Die Leute sind wankelmütig, mal wollen sie dies, dann jenes, heute gefällt ihnen das, morgen etwas anderes. Den einen ist es zu kurz, den anderen zu lang, den einen zu ernst, den anderen zu albern, dem nächsten zu traurig, dem übernächsten zu fröhlich, zu fad, zu seltsam, zu gewöhnlich, und irgendwer wird auf jeden Fall irgendetwas daran auszusetzen haben. Man kann es ihnen nie recht machen. Die Kritiker werden kritisch sein, die Skeptiker skeptisch bleiben. Die Besserwisser werden’s besser wissen und die Zweifler weiter zweifeln. Jeder wird genau das finden, wonach er gesucht hat. Ich kenne die Leute. Ich kenne sie gut. Zu gut! Ich habe unter ihnen gelebt, mit ihnen. Sie waren meine Eltern, Freunde, Verwandten, flüchtigen Bekannten, Lehrer, Klassenkameraden. Ich war eine von ihnen, ich war wie sie. Und heute bin ich all das: ernst und fad und albern und seltsam und gewöhnlich und an manchen Tagen außergewöhnlich fröhlich … Heute gefällt mir dies und morgen etwas anderes. Man kann es mir nie recht machen. Das, sagt Planta, hat er schon bemerkt. Ich hüpfe durch die Geschichte, von Höhepunkt zu Höhepunkt, gehe durch Tiefen und Untiefen, springe munter in der Zeit, verwechsle Traum und Wirklichkeit, vertausche Gegenwart und Vergangenheit, und Planta hält meine Hand, damit ich nicht fallen kann. Planta Adlerauge, er behält den Überblick, und dass es solche wie ihn gibt, das ist ein großes Glück für solche wie mich. Und dass es solche gibt wie mich, ist ein großes Glück für solche wie ihn. Und wenn er das einmal vergisst, erinnere ich ihn daran. Er hat die bedeutenden Worte, die scharfen Begriffe, die klugen Gedanken. Lass es uns, würde er sagen, einmal so betrachten! Oder so! Oder so. Und so ginge es immer weiter und am Ende wüsste keiner mehr, worum es geht. Dabei geht es um etwas. Es geht um ihn und mich und um das, was seine Geschichte mit meiner verbindet, um die unsichtbaren Fäden, das Gewebe, die Textur, das Buch, in dem unser und jedes noch so kleine, missratene Leben aufgeschrieben steht, das wahrlich kein Buch im bekannten Sinne ist. Nein, ich meine: eine Welt zwischen den Welten, schwer zugänglich, nur selten von Menschen betreten. Viele wissen nicht einmal, dass es sie gibt. Ein Bereich, in dem alles, was geschehen wird, schon geschehen ist, und alles, was geschehen ist, noch einmal geschehen wird. Und weil wir nicht sicher sind, ob da jemand ist, der den Überblick behält, ob dieses Buch wirklich existiert, schreiben wir es lieber selbst. Und wenn wir uns mal nicht einig sind, nicht wissen, wie es weitergeht, ist es an der Zeit für eine –

    »Pause?«

    »Jetzt? Wenn es kritisch wird? Am Scheidepunkt? So kenne ich dich nicht.«

    »Bin bald zurück.«

    »Wo, wann?«

    »Zur rechten Zeit am rechten Ort.«

    »Gut. Ich warte.«

    »Auf einen Einfall?«

    »Auf den Kaffee.«

    »Warte nicht zu lang. Wir haben nicht ewig Zeit.«

    Natürlich habe ich, wie so oft, nicht an die Zeit gedacht. Planta hingegen – er denkt ständig daran. Ich bin mir sicher, dass es einen wirklich guten Grund gibt, weshalb wir uns getroffen haben, an meinem Geburtstag vor zwei Jahren, auf dem Aussichtsturm, als ich in die Sterne schauen wollte und auch Planta keine Ruhe fand. Manchmal, wenn mein Aussichtspunkt hoch genug war und die Sterne besonders hell, fiel mir etwas ein. Dann erinnerte ich mich, an ein Stück der Geschichte, daran, wie es weiterging, nachdem das Blatt vom Baum auf den Schulhof, das Blatt mit der Geschichte auf den Boden gefallen war, dieser sich als inexistent erwiesen hatte, und ich fiel

    und fiel

    und fiel

    und mich gerade daran gewöhnt hatte, als sie mich an den Füßen packten, auf eine Trage verfrachteten und aus dem Zimmer schafften. Als ob ich hier nichts mehr verloren hätte. Als ob ich längst gestorben wäre.

    Wenn aber das Sterben war, dann – war es anders, als ich geglaubt hatte. Und auch nicht das, wovor alle Angst haben. Ein Abenteuer. Eine echte Überraschung.

    Bist du bereit, Philine?

    Eine eigenartige Versammlung fremder Menschen hat sich um dich geschart. Sie sind grün. Sie haben keine Münder, nur Augen. Ernste Augen, sehr ernst. Sie sprechen wenig miteinander, mit dir sprechen sie nicht. Dennoch scheint ihnen viel an dir gelegen. Du wüsstest gerne, was vor sich geht. Was geschieht. Was mit dir geschieht. Was dich zum Mittelpunkt ihres Kreises, zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, zum Objekt ihres Interesses gemacht hat. Warum sie so ernst schauen. Was sie dir auf die Zunge träufeln. Was sie dir auf den Bauch schmieren. Was sie dir unter die Haut schieben. Die Schmerzen hast du längst vergessen. Es geht dir bestens. Ausgerechnet jetzt wirst du sehr müde. Jetzt, als so vieles passiert und du wach bleiben möchtest und alles ganz genau sehen. Aber du bist müde. Müde von dem langen Tag, müde von zu wenig Schlaf. Todmüde. Du sagst dir: nicht einschlafen! Und schläfst ein.

    »Noch wach, um diese Zeit?«

    Ein Fremder. Auf dem Turm. Der mich beobachtet haben musste. Der plötzlich aus der Dunkelheit trat. Näher kam. Sich neben mich stellte. Sich nicht vorstellte. Der bloß sagte: »Es ist verboten, den Turm zu betreten.«

    Was ihn, offenbar, nicht daran gehindert hatte. Ich ging davon. Der Fremde, mit etwas Abstand, hinterher.

    »Warte. Warte mal.«

    Ich lief schneller, floh.

    Das war unsere erste Begegnung. Planta kam mir ziemlich ungelegen. Er ging mir auf die Nerven. Er hatte mich gestört. Man kann also sagen, dass die Umstände, unter denen wir uns trafen, nicht die besten waren. Und doch. Manchmal stellt sich das, was man nicht die besten Umstände nennt, im Nachhinein als genau richtig heraus. Wir würden uns bald wiedersehen. Der Ort ist nicht gerade groß. Man trifft sich oft. Es ist beinahe unvermeidlich.

    Am Anfang trafen wir uns nur nachts, und zufällig. Später verabredeten wir uns auch tagsüber. Wir waren nachtaktive, hochsensible Tiere, weich und beweglich; schnell, wenn es darauf ankam, wenn es darum ging, ungesehen zu verschwinden. Aber wann kam es schon darauf an? Wir waren bereit, und wussten nicht, wofür. Für einander, Planta? Wie leicht sich das sagt mit dem Abstand der Jahre. Seismografen der Nacht, auf der Suche nach verschütteten Gedanken, nach verlorenen Geschichten, nach etwas, das es nicht mehr gibt, oder: noch nicht. Niemand sah uns, und wenn doch, verschwanden wir so schnell, wie wir gekommen waren, lautlos, flüchteten in die Dunkelheit, die uns aufnahm wie gute Freunde, wie alte Bekannte, die uns vor dem schützte, woran sie uns preisgab, das den Blicken entging – aber nicht dem Sinn.

    »Was war das?«

    Planta blieb stehen. Wir waren zu dritt: Planta, die Nacht und ich; mit ihren stillen, ruhigen Augen, die überall aus der Dunkelheit sprossen, aus der Hecke, dem Maisfeld und den Baumkronen, sah sie uns verwundert zu, bei dem, was wir taten, fragte manches Mal: was macht ihr denn da? Und wir liefen davon und lachten, die Nacht, was hatte sie schon zu sagen?

    »Nichts«, sagte ich. Und Planta nickte. »Es war«, sagte er, »wohl nur in meinem Kopf.«

    Nein, Planta. Auch ich hatte es gehört. Und gesehen. Da war was.

    Wir waren Schlafwandler, Tagträumer. Oneironauten, hat Planta gesagt, und ich habe ihn gefragt: Was hast du letzte Nacht geträumt? Ich kannte seine Antwort. Es war immer dieselbe. Nichts, sagte er, ich war wach. »Du musst auch mal schlafen«, belehrte ich ihn, liebevoll, wie eine Mutter ihr ungehorsames Kind, »sieh dich an, wie blass du bist.« Da hat er nur gelacht. »Ich kann nicht schlafen, Philine. Du weißt das.«

    Wir waren niemals müde, und wenn doch, weil jeder einmal müde ist und ausruhen muss, gingen wir in die Schule und schliefen dort. Wenn Planta mich in der Mittagspause stumm von der Seite ansah, wusste ich, dass ich zu lang geschlafen hatte.

    »Du hast da was.«

    »Wo?«

    »An der Wange.«

    »Was?«

    Planta sah genauer hin.

    »Mathe?«

    »Ja.«

    »Dann könnte es die Kreisformel sein.«

    »Oder die Koordinaten meines Gesichts. Die Strukturformel meines Lächelns! Der Eindruck des Vormittags. Der Ausdruck meiner Müdigkeit. Der Abdruck des Mathebuchs auf meiner Wange.«

    Wir waren so vieles und alles zugleich, frühreif, Spätentwickler, Überflieger, Underachiever, Forscher der besonderen Art, Liebende, in sehr eigener Weise und höchst empfänglich für die sanften Schwingungen, die in der Luft lagen, die zwischen uns waren und uns wie ein feines Netz umgaben. Aber auch Lügner, Diebe, missratene Söhne und Töchter missratener Söhne und Töchter, schlecht genährt und übermüdet, und dennoch aufmerksam für das, was um uns herum geschah, halb im Schlaf und immer wachsam. In Keller sind wir gekrochen, in Garagen und Schuppen, alle Türen standen uns offen und wenn einmal nicht, dann waren wir sehr geschickt. Wie seltsam wir aussahen in den gefundenen Sachen, die uns so schlecht passten wie die vielen Namen, die sie für uns hatten, wie schön. »Wie schön«, rief ich, als ich Planta ansah, der an sich herabblickte und nicht meiner Meinung war. »Über Geschmack lässt sich streiten«, bemerkte ich, und weil wir uns solch eine günstige Gelegenheit zum Streit nur selten entgehen ließen, sagte Planta: »Dann behaupte ich, dass du keinen hast.«

    »Selbstverständlich habe ich das! Es ist ein sehr ausgefallener Geschmack. Ein völlig neuer Stil. Kennt man hier im Dorf natürlich nicht. Steht auch nicht jedem. Nicht wahr, Planta?«

    Und ich warf ihm einen Blick zu, so einen ganz bestimmten, mehrdeutigen, vielsagenden. Während wir stritten, liefen wir die Fernwehstraße entlang, in der Morgendämmerung, jenes Zwischenreich von Nacht und Tag, das ich so geliebt habe und immer noch liebe und nie zu lieben aufhören werde. Den Halbzustand, noch nicht wissen, aber schon ahnen, noch unentschlossen, ein großes Vielleicht – ich kenne es gut, das Zwischenreich.

    Es kommt der Tag, an dem du dich entscheiden musst. Man kann im Zwischenreich nicht bleiben. Es ist ein Aufenthalt auf Zeit.

    Philine.

    Du fragst dich, wer das ist.

    Philine, hörst du mich?

    Du bist es nicht. Du bist ein Wind und ein Gedanke, der mit dem Licht reist, der nirgends mehr zu Hause ist.

    Wohin möchtest du? Hier oder da. Da oder dort. Nach Hause. Zu deinem Vater. Zu deiner Mutter.

    Oder?

    An einen anderen Ort.

    Wie ist es dort?

    Schwer zu sagen.

    Ich muss ihn sehen.

    Wirklich?

    Woher sollst du das wissen. Du weißt so etwas nicht. Du bist zu jung. Du kannst diese Entscheidung nicht treffen.

    »Salz?«

    »Ja, bitte.«

    »Pfeffer?«

    »Ein bisschen.«

    »Noch etwas?«

    »So ist es perfekt.«

    In der Dämmerung sind wir zu Planta nach Hause gegangen, dort hat er uns Rührei gemacht, Tomatensalat, mit Tomaten aus dem Garten. Ich sah ihm dabei zu und konnte es kaum fassen – dass es jemanden gab, der mich in den frühen Morgenstunden mit zu sich nach Hause nahm, Rührei machte, Tomatensalat, Gartentomaten, das war unfassbar für mich, und gar nicht übel. Der Tomatensalat schmeckte. Das Rührei brutzelte in der Pfanne und es roch sehr gut, als Plantas Vater verschlafen in der Küche erschien und sich erkundigte, wer das da sei. Eine einfache Frage. Über die ich lange nachdachte. Eine Freundin, hat Planta gesagt, vom Morgenlicht beschienen, so schön und reglos, wie er da stand, mit der Pfanne in der Hand. Und sein Vater, der sagte nichts. Ein Blick genügte. »Guten Morgen, Herr Planta«, rief ich ihm nach, und Planta legte den Finger an die Lippen, wegen der kleinen Schwester, deren Schlaf, anders als unserer, wertvoll war, ungestört. Planta hat viele Geschwister, drei Brüder, eine Schwester, sie schlafen alle um diese Zeit, und einer von ihnen, der schläft etwas tiefer, etwas fester.

    »Der hat es gut.«

    Ja, sagte Planta, als er den Teller mit dem Rührei auf den Tisch stellte. Vielleicht. Er setzte sich mir gegenüber und sagte: »Erzähl mir was.«

    »Was möchtest du denn wissen?«

    »Erzähl mir von der Nacht.«

    »Von welcher?«

    Von der letzten. Und der davor. Und der davor.

    »Erzähl mir«, sagte Planta, »was diesen Nächten gemeinsam ist.«

    »Das ist einfach«, sagte ich. In diesen Nächten geschah etwas. In diesen Nächten, Planta, traf ich dich.

    Aber jede Entscheidung, die du nicht treffen kannst, trifft sich für dich. Wird für dich getroffen. Wann immer sie über deinen Zustand sprechen, hörst du ihnen aufmerksam zu. Einmal spricht einer vom Sterben. Du lauschst gespannt. Wer soll sterben, wer ist gemeint, über wen reden sie?

    Nun, Philine, es geht um dich.

    Um mich? Wie kann das sein, mir geht es doch gut, das verstehe ich nicht.

    Die Schule? Die Schmerzen? Erinnerst du dich?

    Nein. Nichts. Oder doch. Da war ein Loch.

    Und dann?

    Es zog mich an.

    Und dann?

    War ich hier.

    Ein Teil von dir.

    Und der Rest?

    Dort. Im Bett.

    Und die anderen?

    Sie warten.

    Worauf?

    Ein Zeichen.

    Welcher Art?

    Einen Augenblick, einen Wimpernschlag.

    Bis auf den, der gerade zur Tür hinausging.

    Wenn du dich beeilst – vielleicht holst du ihn ein.

    Was für ein billiger Trick. Darauf falle ich nicht rein.

    Deine Zeit ist um.

    Ich dachte, hier gibt es keine Zeit?

    So täuscht man sich.

    Wer bist du, dass du das entscheiden kannst für mi…

    – deine Worte fallen in einen langen, dicken Schlauch und dort bleiben sie stecken.

    »Das war’s«, hat Planta schließlich gefragt, als das Schweigen zu lange dauern, zu bedrohlich werden wollte, »das ist alles?« Wir kannten uns kaum und Planta war höflich genug, mir seine ehrliche Meinung vorzuenthalten. Genau das wollte ich. Seine ehrliche Meinung. Ich hatte die Menschen um mich herum stets im Verdacht, nicht ganz ehrlich zu sein. Vielleicht, weil ich selber nicht ganz ehrlich war. Aus alter Gewohnheit. Ich trickste alle aus. Ich erzählte Lügen über Lügen. Das Schlimme war: die Tricks funktionierten. Ich schummelte, in der Schule, zu Hause, wann immer es ging. Keiner hat etwas bemerkt. Ich war wohl gut darin. Machte erst einen Sport daraus, später eine Kunst. Man denkt, irgendwann kommt der Tag, an dem alles auffliegt. Aber nein. Nichts dergleichen. Der Tag kommt nicht. Ich gab mir keine Mühe mehr. Beim Klauen, beim Schummeln. Ich log so offensichtlich, dass sich nicht nur die Balken bogen, sondern das ganze Gebäude einzustürzen drohte. Und mit jedem Trick, der gelang, wuchs meine Verachtung, sank mein Respekt – wie alle guten Lügner wollte ich erwischt werden. Im Lauf der Zeit verstand ich, woran das lag. Mir wurde klar: ich war wirklich vollkommen unsichtbar. Ein interessanter Gedanke. Wenn das so war, hieß das nicht, dass ich tun konnte, was ich wollte, dass ich also frei war? Ich griff zum letzten Mittel. Dachte mir eine Krankheit aus. Wurde krank. Ging kaputt. Entzwei. Philine. Und ich. Wurde, zumindest offiziell, wieder gesund. Es blieben: Zweifel. Ernsthafte Zweifel an meiner Existenz. War ich überhaupt da? Oder war ich – in Wahrheit vielleicht doch – unsichtbar?

    »Ich frage mich«, sagte Planta, »ob das wirklich die ganze Geschichte ist.«

    »Wie meinst du das? Das Rührei ist übrigens gut. Sehr, sehr gut sogar. Es ist … perfekt. Das perfekte Rührei. Wie hast du das nur gemacht?«

    »War nicht schwierig«, sagte Planta, und: »Verschweigst du mir etwas, Philine?«

    Er hatte mich durchschaut. Entdeckt, enttarnt, erkannt. Enthüllt. Befürchtung meines Lebens, nun war sie Wirklichkeit geworden. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich flog auf. Alle Masken fielen. Alle Tricks versagten. Ich musste lachen und das Rührei rutschte von der Gabel auf den Teller.

    Das Licht hier ist ein anderes. Es trennt. Hell von dunkel, vorne von hinten, oben von unten, Menschen von ihrer Umgebung. Es zeichnet scharfe Konturen.

    Jeden Morgen um sechs wirst du geweckt. Aufstehen! Wie soll das gehen? Schläuche und Geräte hindern dich. Flucht? Denk nicht mal daran. Aufstehen. Mehr sagen sie nicht. Um nichts Falsches zu sagen. Alles muss keimfrei bleiben. Antiseptisch. Du weißt gar nicht, was das heißt. Immer fragen sie: »Tut das weh?« Nein. Das tut nicht weh. Du spürst nichts. Beim hundertsten Mal weinst du. »Tat das weh?« Nein. Das tat nicht weh. »Warum weinst du dann?« Sie halten sich an das, was sie sehen können, was sich messen lässt. Das Unermessliche hingegen … Wenn du weinen möchtest, kommt nichts: Tränen, Rotz, Wasser – versickert in dir. Deine Augen versanden. Jeden Morgen werden sie, mit einem weichen Tuch, von Händen in Gummihandschuhen freigelegt. Nachts folgen sie gebannt den leuchtenden Streifen. Dir kommt eine Idee. Du bist wichtig für die Geräte. Nur durch dich funktionieren sie. Du bist zentral in diesem System. Du musst die Maschinen am Laufen halten. Du erfüllst deine Pflicht, Tag für Tag, Stunde um Stunde, gewissenhaft, vorbildlich. Und als Dank für deinen Dienst – entlässt man dich.

    Die Maschinen brauchen dich nicht mehr. Unbenutzt verstauben sie in der Ecke. Du darfst aufstehen. Herumgehen. Erst mit vorsichtigen, zaghaften, dann mit zunehmend sicheren Schritten. Hüpfst vom Bett auf den Boden, schlurfst auf Schlappen durch die Flure, zählst Treppenstufen, Leuchtstoffröhren, Heizungsrohre, Abnutzungsspuren auf dem Boden. Nachts gehst du auf die Suche.

    »Was machst du denn hier?«

    »Ich suche einen Raum.«

    »Welchen?«

    »Wo es so schön war.«

    »Das Café.«

    »So ruhig.«

    »Die Bibliothek!«

    »So hell.«

    »Die Terrasse?«

    »Den blauen Raum.«

    »Du musst dich verlaufen haben.«

    »Ich habe ihn gesehen. Ich bin dort gewesen.«

    Beweise? Leider keine. Du stehst da mit leeren Händen, den Kopf voller Fragen und die Nerven zum Zerreißen gespannt. Scharrst unruhig mit den Füßen, vergräbst die Fäuste in den Taschen, bohrst die Fingernägel durch den Stoff. Bleibst zurück mit einem kleinen Loch in der Hosentasche und einem gigantischen im Kopf.

    »Geh wieder ins Bett. Du willst doch gesund werden. Oder?«

    Ich verschwieg vieles. Warum? Ganz einfach: weil ich vergessen hatte. Weil ich keine Worte dafür hatte. Nur Bilder, Schatten, Dämmerung. Ahnungen, Träume und nachts konnte ich manchmal nicht schlafen. Ich hatte zu viel gesehen. Und nichts davon durfte ich mitbringen, nichts als die Erinnerung an –, daran, dass da etwas war. Und nicht nichts. Und ich die Einzige, die es gesehen hatte. Die Einzige, die davon wusste. In einem Moment war ich der glücklichste und in einem anderen der traurigste Mensch der Welt. Glücklich, weil ich wusste, was ich wusste. Traurig, weil ich es mit niemandem teilen konnte. Einsam. Und so hat mich das Wissen um das Schönste zu einem traurigen Menschen gemacht. Ich hatte so viel zu erzählen. Hätte so viel zu erzählen gehabt. Aber keine Worte. Keinen, der zugehört hätte, ohne einen Einwand zu haben, eine Entgegnung, ein Kopfschütteln, ein Runzeln der Stirn, ein Zucken der Brauen, und sei es noch so winzig – es entging mir nicht. Kein Gegenüber. Kein Du. So blieben die Bilder eingesperrt in mir. Eine Erinnerung an etwas. Eine Idee. Eine Ahnung, ein Hauch. Bedeutung. Ein Gefühl. Ein Pendeln, ein Schaukeln, ein Schweben. Aber auch: Freiheit. Fliegen. Und ich wollte all das wiederhaben, wiedererleben.

    »Erzähl du mir deine Geschichte, Planta. Und danach sage ich dir, was ich davon halte. Das wäre fair.«

    Das Rührei vernichtet, die Tomaten ersoffen im eigenen Saft. Ich tunkte Brot in Saucenreste. Planta spülte die Pfanne aus. Sein Vater verließ das Haus. Die Welt wachte auf. »Was ist? Traust du dich nicht?« Er würde ja, meinte Planta. Das Problem war nur: er hat keine. »Keine Geschichte? Das glaube ich nicht. Das gibt es nicht. Jeder hat eine. Mindestens.« Aber Planta bestand darauf, eine Ausnahme zu sein. Und weil er von dieser Meinung überhaupt nicht abzubringen war, weil er eine absolute Ausnahmeerscheinung ist, sagte ich: »Dann ist das eben deine Geschichte: dass du keine hast.«

    »Braucht man denn unbedingt eine?«

    »Ja«, sagte ich, »ganz klar. Ohne Frage. Auf jeden Fall.«

    »Warum?«

    »Weil’s kein Leben ist, wenn es keine Geschichte ergibt.«

    Geboren, weil wir müssen. Sterben, weil wir müssen. Leben – das dazwischen. Nein. Das kann nicht sein. Ich wollte mehr. Bescheidenheit ist eine Zier. Mir stand sie nie.

    »Ich hätte«, fing Planta leise an, »einmal fast einen Menschen überfahren. Ein Mädchen. Es war plötzlich da. Auf der Straße. In der Dunkelheit.«

    »Was zum Teufel ist in sie gefahren?«

    »Der Teufel vielleicht? Als hätte sie es mit Absicht gemacht.«

    »Vielleicht hat sie das.«

    »Es war knapp.«

    »Oder gut kalkuliert.«

    »Sie hatte Glück. Mehr als Verstand.«

    »Immerhin eines von beidem. Das reicht im Leben. Was gibt es zum Nachtisch?«

    Pflaumen, Kirschen, Steinobst. Alles, was Kerne hat.

    »Äpfel?«

    »Keine Äpfel.«

    Der Tag, als du nach Hause darfst. Du bekommst eine Liste mit Verboten.

    »Schule?«

    »Keine Schule.«

    Keine Äpfel, keine Schule. Soll niemand sagen, es hätte sich

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