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Das leere Fenster
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eBook820 Seiten12 Stunden

Das leere Fenster

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Über dieses E-Book

Erstmals in die deutsche Sprache übersetzt, beinhaltet dieser Band eine anspruchsvolle Sammlung chinesischer Gegenwartsliteratur.
Der deutsche Leser wird hier mit den Lebensschicksalen von Menschen ganz verschiedener sozialer Schichten in China vertraut gemacht. Von Wanderarbeitern, die vom Land in die Städte ziehen; von kleinen Funktionären, denen selbst Mittel der Korruption recht scheinen; von mutigen, selbstbewussten 'modernen' Frauen, die mit den alten gesellschaftlichen Normen einer tradierten Frauenrolle brechen und Wege des Glücks und der Liebe für sich suchen, ist hier die Rede. Aber auch mit Kriminalgeschichten wartet diese Erzählsammlung auf.
Eine Vielzahl der Texte namhafter chinesischer Schriftsteller wurde bereits mit nationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Fünf Erzählungen erhielten den Lu Xun-Preis, einen der höchsten Literaturpreise in China.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpielberg Verlag
Erscheinungsdatum27. Feb. 2011
ISBN9783954520510
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    Buchvorschau

    Das leere Fenster - Jin Tao

    Tao

    Einführung

    von Gerhard vom Hofe

    Die in diesem Band versammelten Erzählungen, durchweg in den letzten zehn Jahren in der Volksrepublik China veröffentlicht und hiermit erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt, präsentieren den deutschen Lesern nicht nur ein heterogenes und vielseitiges Spektrum, sondern zugleich auch ein interessantes Panorama chinesischer Gegenwartsliteratur. Dies gilt in thematischer wie in formaler Hinsicht. Die Autorinnen und Autoren, zumeist Mitglieder des renommierten Chinesischen Schriftstellerverbandes und in der Mehrzahl bisher in Deutschland kaum, wogegen in anderen europäischen Ländern schon oft durch Übersetzungen verschiedener Werke bekannt, erfreuen sich in China sämtlich hoher Anerkennung der öffentlichen Kritik. Viele der hier vorgestellten Prosatexte wurden mit namhaften Literaturpreisen ausgezeichnet. Allein fünf Erzählungen trugen den Verfassern den Lu Xun-Preis ein, einen der höchsten Literaturpreise in China, dem Georg Büchner-Preis in der deutschen Literaturszene in etwa vergleichbar. Und bedenkt man den Ruhm, den Lu Xun als bedeutender Schriftsteller des 20. Jahrhunderts heute in der Volksrepublik China genießt und der einem Thomas Mann in der deutschen Literaturgeschichte gleichkommt, so dürfte man eine Vorstellung vom Gewicht der jüngeren Autoren gewinnen, denen so viel Zuspruch und literarische Qualität in ihrem Heimatland zuerkannt wird.

    Der deutsche Leser wird hier mit den Lebensschicksalen von Menschen ganz verschiedener sozialer Schichten in China vertraut gemacht. Von Wanderarbeitern, die vom Land in die Städte ziehen, um möglichst rasch reich zu werden; von kleinen Funktionären, denen selbst Mittel der Korruption recht scheinen, damit sie ihre Karrierewünsche um jeden Preis erfüllt sehen; von mutigen, selbstbewussten »modernen« Frauen, die sich im Berufsleben trotz aller Widerstände behaupten, die mit den alten gesellschaftlichen Normen einer tradierten Frauenrolle brechen und Wege des Glücks und der Liebe für sich suchen, ist hier die Rede. Aber auch mit Kriminalgeschichten wartet diese Erzählsammlung auf, wobei mancher Gauner und Verbrecher sich schließlich wider Erwarten in eine verteufelt humane Figur verwandelt, eine existentielle Umkehr vollzieht und zuletzt sogar das optimistische Weltbild eines naiven Romantikers zu bewahrheiten scheint. Vielen dieser in ihrem Grundzug durchaus realistischen und verbunden damit zumindest implizit gesellschaftskritischen Erzählungen eignet eine Dimension des Utopischen. Einige Texte sind erzähltechnisch offensichtlich mit »romantischen«, ja mit märchenhaften Motiven durchsetzt. Der Sieg des Menschlichen, des Hu- manen, des guten Gewissens über das Böse scheint das überwiegende Credo, dem vielleicht (will man Psychologen Glauben schenken) ein Charakteristikum der chinesischen Mentalität entspricht.

    Für die charakteristisch chinesische Ausprägung dieser gegenwartsbezogenen Erzähltexte und für diese literarischen Zeugnisse des zeitgenössisch kommunistischen China auf dem Weg zur »Moderne« freilich spricht die Beobachtung, dass die erzählten individuellen Schicksale und Geschichten persönlicher Identitätsfindung durchweg in einem sozialgeschichtlichen Zusammenhang gesehen werden. Die Geschichten individueller Probleme, Irritationen und Nöte erscheinen unverkennbar im Kontext eines allgemeinen sozialen Wandels in China. Individuelle Selbstbestimmung und rationale Selbstkontrolle stoßen immer wieder auf hartnäckige Widerstände und schwer zu überschreitende Grenzen. Konflikte entstehen nicht nur auf Grund von Faktoren der jeweiligen Lebenssituationen und besonderer Umstände. Oft genug werden sie auch durch Momente des Zufalls bewirkt.

    Überhaupt gewinnen viele Erzählungen den Blick für die Bedeutung der sozialen Determinanten, die gerade in einer Zeit des wirtschaftlichen und sozialen Wandels, der damit verbundenen Veränderungen der Lebensformen, des Umbruchs gesellschaftlicher Werte und Normen eine wichtige Rolle spielen und die persönlichen Freiheitsräume doch notgedrungen einschränken. Hierdurch betroffen sind vor allem die Versuche von Frauen, eine neue Identität und gesellschaftliche Rolle zu finden. Dargestellt werden Frauen, die sich von ihrer vormaligen, von der Männerwelt vorbestimmten Position zu emanzipieren versuchen und keineswegs mehr widerstandslos die herkömmliche »Opferrolle« zu spielen bereit sind. Von einer Zeitenwende zeugen hier auch die Versuche, ein neues Verständnis gesellschaftlich bestimmter Berufsrollen zu definieren, deren Konturen nicht mehr allein durch die Machtposition oder den gesellschaftlichen Rang reguliert werden, sondern mittlerweile weitaus stärker durch persönliches Profil, Charakter, Begabung und fachliche Qualifizierung geprägt erscheinen.

    In der neuen chinesischen Gesellschaft, die sich inzwischen nicht zuletzt auf Grund ihrer Familienpolitik durchaus auch auf einen größeren Anteil älterer Menschen und deren Probleme einstellen muss, hat durchaus auch eine spürbare Auseinandersetzung mit der Selbsterfahrung des Älterwerdens und des Alters begonnen. Solche Altersreflexionen spiegeln sich in mancher Erzählung wider. Es ist nicht mehr allein die bisher in China immer noch dominante und fraglose Anerkennung der Autorität und Würde, die der älteren Generation zukommt und die ihr den von den Jüngeren geschuldeten Gehorsam und die gebührende Ehrfurcht abverlangt, womit ein wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung der Identität der Älteren geleistet wird. Zur »Lebensphilosophie« gerade der älteren Chinesen zählt offenbar auch die Einübung einer altersbedingten Gelassenheit und Selbstironie, die eine melancholische Reflexion der »reißenden« Zeit und der Vergänglichkeit, gelegentlich sogar der Vergeblichkeit freilich einschließt. Auch ein Moment von Schicksalsergebenheit mag darin zum Ausdruck kommen. Aber gleichwohl bleiben Spielräume für einen Kampf gegen den puren Fatalismus; und diese werden, wie einige Erzählungen zeigen, natürlich jeweils abhängig vom Subjektivitätsverständnis und vom Intelligenzgrad, durchaus auch genutzt. Die verbleibenden individuellen Freiräume für die persönliche Lebensgestaltung werden verschiedentlich ausgeleuchtet und treten in den vorliegenden Erzählungen vor allem bei denjenigen Figuren ins Bewusstsein, ja werden von ihnen auch in Lebenspraxis umzusetzen versucht, die als Repräsentanten der jüngeren (der »neuen«) Generation in Betracht kommen. Die Auseinandersetzung mit den Vertretern der Väter- und der Elterngeneration und deren gesellschaftlichen moralischen Normen, Lebensweisen und Verhaltensregeln ist ein großes Thema, welches im heutigen China auf dem Wege zur »Modernität« nicht mehr nur in den Städten Konjunktur hat und das erwartungsgemäß in den hier vorliegenden Erzählungen einen großen Raum einnimmt.

    Was die spezifischen Möglichkeiten poetisch-literarischer Darstellung und der Sprachformen anbelangt, so fällt eine viele Texte charakterisierende Tendenz ausgesprochen komischer Gestaltung ins Auge. Dabei treten die Spielarten satirischer zugunsten doch eher heiter-komischer, gelegentlich grotesk-komischer Darstellung deutlich zurück. Dies gilt nicht nur für die Erzählung Suche nach Spaß, die einer Pekinger Lebensart, der Suche vorwiegend älterer Menschen nach den kleinen, unschuldigen Lebensfreuden und Unterhaltungen – übrigens jenseits der Angebote der modernen Konsumgesellschaft – nachgeht und die ohnehin die heitere Seite des Lebens thematisiert. Die Beleuchtung von komischen Verhaltensweisen bleibt darauf aber keineswegs beschränkt. Komische und humoristische Darstellungen findet man nicht minder gerade auch in den Texten, welche die »Schattenseiten« des Lebens zur Darstellung bringen. Einige stark behinderte, also gesellschaftlich erheblich benachteiligte Figuren wie etwa die stumme Frau in der Erzählung Ruf über die Berge erscheinen durchaus in komisch wirkenden Situationen. Das gilt in einem noch ausgeprägteren Maße für die »sprachlosen«, jeweils eines Sinnesorgans ermangelnden Familienmitglieder im Leben ohne Sprache. Diese werden keineswegs nur als bedauernswerte Behinderte und Mitleid erregende Menschen mit ihren Gebrechen gezeigt, sondern der Erzähler rückt ihre Kommunikationsfähigkeit, die wegen der fundamentalen Mängel der Stummheit, Taubheit und Blindheit erheblich reduziert ist, in einer humanen, ja stets liebenswürdigen Optik ins Licht permanenter und durchaus komisch wirkender Missverständnisse. Denn die oft gravierenden Verständigungsprobleme bringen den Betroffenen weder Schaden noch Nachteile. Sie werden menschlich beleuchtet und relativiert; und sie widerlegen oder beeinträchtigen in keiner Weise die Demonstration solidarischer Selbstbehauptung und der wechselseitigen Hilfeleistung aller als einer Bedingung der Möglichkeit einer gleichwohl intakten (»gesunden«) Familie in der Gesellschaft.

    Schlaglichtartig und in Stichwörtern folgt eine Einführung in Thematik, Form und Struktur der einzelnen Erzählungen, die eine Rezeption des Lesers keineswegs einseitig lenken, geschweige denn festlegen, vielmehr ihm lediglich mögliche Interpretationshinweise geben möchte. Die Titelgeschichte Das leere Fenster unterscheidet sich von den anderen Texten durch die Komplexität ihrer Form, aber auch durch ihren Inhalt, die Thematisierung der Poesie (Literatur), deren Voraussetzung, deren Bedingung ihrer Möglichkeit und deren Wirkung auf das Leben.

    Die Ich-Erzählerin, die bewusst ein vertrautes Verhältnis zum Leser sucht, gibt vor, einer selbst erfahrenen und von ihr erzählten Geschichte eines ihr befreundeten Paares »eine kleine Erkenntnis« ihres Lebens zu verdanken. Diese betrifft die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Licht und Dunkelheit. Die notwendige Verbundenheit und deren Gleichzeitigkeit, scheint ihr, zumal existentiell bewahrheitet, wichtiger als die Bestimmungen der Polarität und der Komplimentarität. Sie nämlich hat das »Wertvollste«, ihr Augenlicht, verloren, lebt folglich in der Dunkelheit und sucht mit Herz und Seele nach dem Licht. Dasselbe Ziel hat der alte Mann in ihrer Geschichte, der in einer zunächst rätselhaften Beziehung zur Ich-Erzählerin steht: Auch er, durch den Verlust seiner Frau einsam geworden, sucht nach Licht, d.h. nach einem neuen Lebenssinn. Er glaubt, durch die ihm vom Postchef anvertraute neue Aufgabe, sich um die nicht mehr zustellbaren Briefe (die »toten Briefe«) zu kümmern, die Sonne neu gefunden und damit eine neue Existenzberechtigung gewonnen zu haben. Doch dessen letzte Mission, die Besorgung des letzten »toten Briefes«, belastet ihn schwer. Als wäre es »der letzte Brief der ganzen Menschheit«! Dieser Brief gilt einer Frau, die täglich bei Sonnenaufgang ein Fenster öffnet und Ausschau hält. Folglich treibt den alten Mann die Sehnsucht, diese an einem offenen Fenster in die Ferne blickende Frau zu finden. Das »Wunder« geschieht: Eines Tages entdeckte er früh im Morgenlicht eine Frau, die er meint schon irgendwo gesehen zu haben. Es ist in der Tat keine andere als die blinde Ich-Erzählerin, die ihm »mit geöffneten Augen« von sich erzählt: Das »Wertvollste«, was sie verloren, sei ihre »Welt von Licht« gewesen. Sie selbst habe täglich frühmorgens in der Geschichte des alten Mannes am Platz der Frau gestanden, die bei Sonnenaufgang in die Weite geschaut und »mit Herz und Seele« nach dem Licht geschaut habe. So werden hier zwei Geschichten miteinander verschlungen. Die Erzählerin erklärt dem Alten ihre Erkenntnis: Ihr Leben vollziehe sich auf zwei Ebenen, in Licht und Finsternis zugleich. Während sie als Blinde »mit Lächeln in den Tag der Finsternis« hineingeht, vollzieht sie gleichzeitig »Schritte des Sonnenscheins«, nämlich als produktive Dichterin, die paradoxerweise im »schwarzen Sonnenschein« arbeitet und in stiller Nacht wandert, indem sie ihre Geschichten empfängt und in ihrer Phantasie ausgestaltet. Und auch die Ich-Erzählerin bekennt, von einer Sehnsucht beherrscht zu werden. Diese gilt ihrer am Anfang der Erzählung erschienenen und nun verschwundenen Freundin, die singen, musizieren und schreiben kann; sie gilt dieser Frau als die Verkörperung ihrer sie inspirierenden Muse.

    Diese blinde Ich-Erzählerin gesteht, auf den alten Mann am Fenster gewartet zu haben. Ihrem inneren Appell: »heraus aus der Beharrung« folgend, lebt sie in der Zuversicht, mit ihrem geistigen Auge auch künftig die Geschehnisse der »verschlungenen Welt«, die Geschichten des Tages wahrzunehmen und noch viele »Geschichten des Lichts« zu finden, sie mit der erlernten Blindenschrift aufzuschreiben und der Welt als Zeichen des Lichts zu vermitteln. Sie ist der festen Überzeugung, der alte Mann werde sie, die Autorin, im leeren Fenster sehen. Sie hatte ihm bestätigt: Sie sehe täglich aus ihrem Fenster ein Bild, d.h. sie »erfinde« einen poetischen Text, dessen Gehalt im Unterschied zur gemeinen und analytischen Sprache eine bildkräftige Gestalt auszeichnet. Deshalb muss und kann sie ihren Fensterplatz verlassen, um eine neue Geschichte zu erkunden. Der alte Mann darf, ja muss weiter nach der Bestimmungsperson für die Zustellung seines letzten »toten Briefes« suchen. Die blinde Frau trägt es ihm auf, denn sie hat das Fenster immer wieder verlassen, um im Finstern zu wandern und neue Geschichten zu schreiben, mit denen sie auch den alten Mann zu ihrem Leser macht. Dieser aber gewinnt damit erneut seine Lebensberechtigung, gerade weil er die Frau selber, die täglich bei Sonnenaufgang ihr Fenster öffnet und Ausschau hält, nicht antrifft, sondern nur ihr »leeres Fenster« ausmachen kann. Das aber gerade ist sein Trost und verbürgt ihm für die Zukunft mit dem Licht der Poesie den Sinn seines Lebens. Eine Geschichte also über eine hochgemute Bestimmung und überaus erfreuliche Wirkung des »Lichtes« der Literatur!

    Der Poesie sollte indes nicht nur die erbauliche Wirkung des Nutzens, die Aufgabe eines möglichen Erkenntnisgewinns oder sogar einer Lebenshilfe und für den Autor wie für den Leser möglichen Sinnerfüllung des Lebens zugemutet werden. Ihre primäre und viel »unschuldigere« Aufgabe erfüllt sie mit ihrer Funktion der erfreulichen, vielleicht auch gebildeten Unterhaltung durch ihre Bilder und Geschichten. Das hatte schon der berühmte Dichter der europäischen Antike Horaz in seiner »Poetik« für alle Zeiten verbindlich formuliert, wenn er die doppelte Aufgabe der Dichtung mit der Formel »prodesse et delectare« (Nutzen, Belehrung und angenehme Unterhaltung) zu bestimmen versuchte. In der Erzählung Suche nach Spaß geht es genau um diese heitere Unterhaltungsfähigkeit und Unterhaltungsmöglichkeit, um die unverzichtbare Bedeutung des »delectare« für die menschliche Gesellschaft und für das Leben des Einzelnen. Nur ist hier nicht von der angenehmen Unterhaltungsleistung der Poesie und der Literatur die Rede, sondern von der Lebensfreude, welche sich der Kunst, dem Gesang und dem (Theater- und Opern-) Spiel verdankt. In dieser Hinsicht haben Poesie, Literatur und die anderen Künste eine fundamentale Gemeinsamkeit: Sie alle wollen keineswegs nur die Menschen »belehren«, ihnen etwas zu denken geben und ihnen »Erkenntnisse« vermitteln. Das ist zweifellos ein oft erhobener und legitimer Anspruch, aber keineswegs der einzige Berechtigungsgrund für dieses wichtige »Nebengeschäft« im Leben. Die Kunst, die Literatur will gerade auch, vielleicht sogar in erster Linie »unterhalten« und »erfreuen«.

    Um eine Demonstration der Wahrheit und der praktischen Umsetzung einer Redensart »Ein bisschen Spaß muss sein« geht es in der Erzählung Suche nach Spaß. Hier feiert die kreative Tätigkeit der Selbstunterhaltung älterer Menschen in Peking fröhliche Triumphe. Der Schauplatz solcher allabendlichen Lebensfreuden ist ein »Kulturamt« in der chinesischen Hauptstadt. Denn man hat es mit einer spezifischen und ortsgebundenen Spielart von Alleinunterhaltung zu tun: Ältere Zeitgenossen inszenieren Opernauftritte, spielen und singen in mehr oder weniger gelungener Manier, imitieren große Stars der lokalen Pekingoper und verwirklichen eigene Träume. Die Lust der Nachahmung verschafft nicht nur den Spielern selbst immer wieder kleine Glücksmomente, auch die Zuschauer werden, obwohl sie keine Originaloper erleben, vollkommen illudiert, aus der Realität in eine andere Sphäre entrückt. Wie früher an der »Himmelsbrücke« die Schmähredner mit ihren Spottversen ihre Zuhörer vergnügt und einen Platz in der Stadt zu einer Art »Speaker‘s Corner« erhoben haben, so geschieht es in der veränderten Welt gegenwärtig in der Hauptstadt des Reichs der Mitte. Eine kuriose Versammlung von »Opernfreaks« und »Sängerstars«, die Abend für Abend das »Kulturamt« in ein lebendiges Theater, in eine Opernbühne verwandeln, bildet ein neues und unverzichtbares Element des »modernen« Pekinger Soziallebens. Die hier sich engagierenden älteren Menschen warten mit einem verblüffend authentischen Spiel und mit Gesang auf, der aus genauer Beobachtung und ehrgeizigem Nachahmungstrieb hervorgegangen ist. Der Initiator dieses Unternehmens ist ein 70jähriger früherer Sargträger und Rikschakuli, der in einer unvergleichlichen Karriere zum »Generalmusikdirektor« der besagten »Oper« aufsteigt: ein Komiker, Schwätzer, Sänger, Organisationstalent, der stets neue »Helden« animiert und besonders fernsehgeschädigte ältere Männer zur Kunst der kreativen Selbstunterhaltung »verführt« und ihnen zumeist erfolgreich das Singen als lohnende Aktivität und als »Heilmittel« und Arznei gegen die lähmende Langeweile und die bedrückenden Alltagssorgen empfiehlt. Das »Kulturamt« »boomt« zeitweilig. Dem Anspruch einer »Opernschule« freilich werden die oft anarchischen Zustände, die hier herrschen, wohl kaum gerecht. Und auch das »Geheul« und »Geplärre« der neu angeworbenen »Nachwuchskräfte«, welche die etablierten alten »Stars« denn doch oft genug bei ihren Auftritten verstören, sind an grotesker Komik kaum zu überbieten! Ins Licht des Komischen wird neben der Ambition einer Gesangsschule auch der wunderbare Ehrgeiz der Sänger- und Spielergruppe gerückt, den ausgesetzten Preis für fortschrittliche Kulturveranstaltungen zu gewinnen. Durch Umtextierungen alter Opern und Einlagen von Texten sozialkritischer »moderner« Themen wie Familienplanung oder Kampf gegen Verbrechen hofft man diesem Ziel näher zu kommen. Ein »Opfer« der Kulturrevolution wittert freilich hier immer wieder die Verpflichtung zu Aktionen der Selbstkritik. Ein weiteres Moment grotesk-komischer Gestaltung verbindet sich mit der Einführung eines Universitätsdozenten und Autors, der als passiver, aber treuer Zuhörer und Zuschauer der Abendveranstaltungen eigentlich von der Pekingoper überhaupt nichts versteht und überdies nicht einmal fähig scheint, eine Statistenrolle zu übernehmen.

    Hilf- und segensreich aber scheint die Institution der selbst inszenierten Unterhaltungsabende für alle älteren Männer, die ihren familiären Sorgen und Problemen aus dem Alltag entfliehen wollen und hier nicht nur »ein bisschen Spaß« finden, sondern ein Mittel kreativer Spielkunst für sich entdecken, womit sie allabendlich wahre »Glücksmomente« erleben dürfen. Auch wenn der Sohn des »Direktors« seinem Vater die Vorzüge moderner Radio- und Fernsehunterhaltung oder andere modische Konsummöglichkeiten, Spaß zu gewinnen, noch so überzeugend anzupreisen versucht, so bleibt sein Vater doch letztlich unberirrt in seinem »Kulturamt«, um sich dort köstlich zu amüsieren und dem Leben auch im Alter auf diese unvergleichliche und kreative Weise die »heitere Seite« abzugewinnen.

    Nicht direkt die literarische Produktion, aber doch auch den historischen Spürsinn und die oft genug sich in phantastische Deutungen verirrenden Forschungsarbeiten thematisiert die merkwürdige Erzählung Grüngelb. Hier scheint es um eine Ironisierung des Ehrgeizes der Quellenforscher zu gehen und um eine parodistische Demonstration der Fragwürdigkeit ätiologischer Sagenforschung. Denn die Forscherhypothese, welche ihren Ausgang von Gerüchten über eine obskure Fischerboot-Kolonne nimmt und welche durch unbefriedigende Quellen einer Dorfgeschichte und einer Geschichte chinesischer Prostituierter vermeintlich seriöser Historiker genährt wird, beim Wort »grüngelb« müsse es sich um den Titel einer bislang unentdeckten Chronik über eben diese Fischerboot-Kolonne auf dem Suzifluss handeln, wird am Ende Lügen gestraft durch die zufällige Entdeckung der Wortbedeutung in einem Buch über die Bedeutungsforschung aus der Ming-Dynastie, die keineswegs das Resultat gründlicher quellenkritischer Forschungsarbeit ist und die in ihrer Banalität (»Grüngelb« als Bezeichnung einer »grasartigen Pflanze«) den ganzen Aufwand an Spekulationen und die Anstrengungen historischer Quellenforschung ad absurdum führt.

    Gleichwohl wirkt der Inhalt dieser Gerüchte durchaus kurzweilig. Wenn hier ein Erzähler in die Rolle des Dialektforschers schlüpft und seinem Motiv persönlicher Nachforschungen im Dorf Mai nachgibt, Gespräche mit den Autoren der bislang wenig verlässlichen Bücher zum Gegenstand führt und persönliche Erkundigungen vor Ort einholt, dann ergeben sich aus den zusammengetragenen Erinnerungsfragmenten verschiedener Zeitzeugen doch noch einige interessante Aspekte, die eine kleine phantastische, gelegentlich geradezu grotesk anmutende Geschichte um einen Herrn Zhang und dessen noch lebende Tochter Grünchen bilden. Diese hatten offenbar zuletzt vor vierzig Jahren die besagte Fischerboot-Karawane, die in Zeiten der Hungersnot als Bordell gedient hatte, verlassen und sich im Dorf Mai als Fremde angesiedelt, waren indes total Fremde geblieben, da ihre Ahnen melusinenartig mit dem Wasser verbunden schienen.

    Ohne einen näheren thematischen Zusammenhang mit den anderen Texten in diesem Sammelband präsentiert sich auch die kürzere Erzählung Ein Tag (und ein Leben). Auffällig ist hier die Erzähltechnik: der beinahe übergangslose Wechsel von einer punktuellen in eine durative Erzählweise, der aber sachlich begründet ist. Das Lebensschicksal eines einfachen Arbeiters, dessen Tagesrhythmus gleichförmig wiederkehrt und dessen Arbeitsrhythmus die gehorsame Erfüllung seines ganzen Lebens bestimmt, kommt hier zur Darstellung. Überzeugt vom Nutzen seiner Tätigkeit, der stets gewissenhaften Produktion von Stecknadelköpfen, scheint Herr Zhang die alten gesellschaftlichen Normen im Arbeitsleben und im familiären Sozialleben zu erfüllen. Und nach einem Leben ohne besondere (glückliche oder auch unglückliche) Höhepunkte und in der Wiederkehr des ewig gleichen Tages scheint er ohne Probleme »ruhmvoll in Rente« zu gehen. Der Leser gewinnt den Eindruck der Demonstration eines vollkommen angepassten, undramatischen Lebens, dessen reduzierte Lebensweise kaum ein realistisches Abbild der chinesischen Arbeiterschaft zu sein scheint; oder doch? Die scheinbar affirmativ oder wenigstens doch ohne wertende Beurteilung geschriebene Geschichte reizt den Leser zum Widerspruch. Das allein kann es doch nicht sein!

    Die auf das Jahr 1995 datierte Geschichte Vor und nach dem Frühlingsfest provoziert auf andere Weise den Leser zum kritischen Nachdenken. Weniger der »Held« dieser Geschichte, der karrierebewusste Dorfvorsteher Li Delin, gerät hier ins Visier der Kritik als vielmehr das System der Verwaltung und der Kreis der »Mächtigen«, die dessen gesellschaftlichen Aufstieg wenn nicht behindern, so doch wenigstens verzögern. Immerhin werden auch andere Gründe geltend gemacht, die eine Chance auf die baldige Versetzung des »Dorfkaders« beeinträchtigen: die gerade erst vollzogene Reorganisation der Verwaltung und die Einführung strengerer Regeln. In den Augen der städtisch geprägten Familie seiner Frau gilt Li Delin als nicht standesgemäßer Partner. Hinzu kommt, dass er noch nicht einmal die Voraussetzung für eine Versetzung in die Stadt erfüllt. Notwendige Vorstufe wäre die Position des Parteisekretärs. Auf dem Dorf scheint die Mitarbeit am Aufbau einer »modernen Gesellschaft« zudem kaum möglich. Außerdem beschäftigen Li Delin familiäre Probleme: Er hat keinen Sohn, erfüllt mithin auch in dieser Hinsicht nicht die gesellschaftliche Norm. Die staatliche Förderung für ein Projekt zur Regulierung der Wasserwege in seinem Dorf müsste er schon gewinnen, wollte er jemals eine Versetzung in die Kreisstadt erreichen. Doch der Weg dahin scheint nur mit Bestechungsversuchen möglich. Ohne Korruption scheint es nicht abzugehen. Aber alle seine Anstrengungen sind letztlich vergeblich. Die »Mächtigen« entziehen sich einer Kontaktaufnahme, sie haben keine Zeit, schwelgen in der Zeit vor dem Neujahrsfest in kulinarischen Genüssen. Auch Li Delins Neujahrsbesuche richten nichts aus. Er erfährt lediglich am Tag des Laternenfestes, er könne den unerwünschten Posten eines Vizeleiters erhalten. Schließlich wird entschieden, dass Li Delin als Parteisekretär in ein anderes Dorf versetzt werden soll, womit die Hoffnung, künftig vielleicht doch noch in die Stadt versetzt zu werden, an die Voraussetzung neuer Bewährung geknüpft bleibt. Um sein Schicksal zu beschwören, muss Li Delin (das wird ihm klar) ein Lied anstimmen, in welchem sein gedämpfter Optimismus zum Ausdruck gebracht scheint: »Günstiger Wind und pünktliche Regenfälle schnell zum wohlhabenden Leben renne.«

    Ebenfalls zum Zeitpunkt des Frühlingsfestes, allerdings eines unbestimmten Jahres in der Gegenwart, begegnen wir den melancholischen Reflexionen eines alt gewordenen Kommissars mit Namen Huang, der vor einem noch ungelösten Fall und vor einer schweren Aufgabe steht. Die Erzählung Ein einsames Neujahrsfest ist die Geschichte eines Polizisten »alter Schule«, eines mit Intuition und großer Analysekraft begabten, scharfsinnigen Einzelgängers, der im gegenwärtigen Polizeiapparat ohne Macht und Position gleichwohl eine vorbildliche Berufsauffassung vertritt und im Unterschied zum stellvertretenden Polizeichef nicht nur kraft seines Alters Autorität und Souveränität genießt, sondern auch dank seiner erfolgreichen und akribischen Arbeit. Der Alte Huang lehnt illegitime Mittel einer Operation mit Aufsehen erregender Gewalt, unstatthafte Erpressungen von Geständnissen durch Einsatz von Brutalität und Prügelei entschieden ab und distanziert sich auf diese Weise von den jüngeren Polizisten und deren Berufsverständnis. Aber auch demonstrative Großaktionen im Falle von Autodiebstählen und Raubüberfällen (wie sie sein Vorgesetzter Liu liebt) scheinen ihm unangemessene Methoden. Er repräsentiert eher den Typus des »klassischen Detektivs«, der mit den Mitteln der genauen Beobachtung und konsequenter Spurenverfolgung einzelne Kriminalfälle zu lösen versucht. In diesem Sinne liest sich die Erzählung Ein einsames Neujahrsfest teilweise durchaus als eine typische Detektivgeschichte, die zumindest in ihrem ersten Teil viele Elemente dieser literarischen Gattung aufweist: den zu lösenden rätselhaften Mordfall, die Spurensicherung und Spurenauswertung, die Ablenkung durch eine falsche Spur, die scharfsinnige Analyse und Aufklärung. Dies erinnert an den idealtypischen Detektiv vom Schlage Sherlock Holmes. Auf diese Weise wird der Fall des ermordeten Taxifahrers, des Bruders der Frisöse, deren Rasierkunst der Alte Huang geradezu genießt, schließlich von ihm gelöst. Kombiniert wird dieser Teil der Kriminalgeschichte dann mit einem späteren Erzählstrang, welcher dem literarischen Schema des Thrillers folgt und dessen inhaltliche Struktur realisiert: mit der Fahndung, Verfolgung des Verdächtigen und Überführung des Täters, die mit einer entscheidenden Kampfszene aufwartet. Dies wird chronologisch-sukzessiv erzählt. Am Ende bleibt wiederum die Hauptfigur, der Alte Huang, der Sieger. Doch die Erzählung endet nicht mit diesem Triumph. Der überwältigte Kriminelle (Gangzha mit Namen), welcher verliebt ist in die stumme Kleine Yu, die dem Alten Huang sehr gut bekannte Frisöse, empfindet zur Überraschung des Kommissars plötzlich Reue und zeigt humane Regungen. Er bittet den Polizisten, der ihn gestellt hat, seiner Geliebten für ihn ein Geschenk zum Neujahrsfest zu besorgen, weil er selber sein Versprechen, spätestens an diesem Tag seine Geliebte wiederzusehen, nicht werde einhalten können. Das aber wird eine – wie sich später herausstellt – für den Alten Huang nicht nur »schwere Aufgabe«. Das wird für den versierten Detektiv am Ende sogar eine zu schwere Aufgabe, zumal ihn dann noch ein ungelöster Fall stark belastet: die Ermordung seines Vorgesetzten. Der Leser begegnet der Hauptfigur in der Neujahrsnacht am Ende der Geschichte mit Neujahrsgeschenken in Form von Feuerwerkskörpern, die er der stummen Kleinen Yu hatte bringen wollen, die er dann aber doch in seiner Verlegenheit und Zerstreutheit allein entzündet. Und noch beim Entzünden dieser symbolischen Zeichen, womit er ohne persönliche Hoffnung das neue Jahr begrüßt, bleibt er in Gedanken versunken, fühlt sich »ausgelaugt« und in seiner Altersmelancholie befangen. Sein Blick schweift in den Himmel mit seinen schimmernden Lichtern, der ihm zum Bild für die verströmende Zeit gerinnt. Er weiß sich in seiner Berufsrolle gefangen, aber in seinem Selbstbewusstsein, welches sich seiner beruflichen Qualifikation verdankt, keineswegs mehr aufgehoben und seiner Identität durchaus nicht mehr sicher. Die ihm zuletzt zugeschriebene gesellschaftliche Berufsrolle allein hat ihm sein Selbstvertrauen nicht mehr bestätigen können. Persönliche, familiäre Enttäuschungen haben hier wohl eine Rolle gespielt, vielleicht sogar die vergebliche heimliche Liebe zur sympathischen kleinen Stummen. Vor allem aber sein Ohnmachtsgefühl, seine altersbedingte Einsamkeit, seine drohende Zukunftslosigkeit stimmen zum Bild, mit dem der Erzähler seine Geschichte schließt.

    Eine Kriminalgeschichte anderer Art bietet die Erzählung Ruf über die Berge. Deren Opfer sind eine stumme Frau und ein geflohener und gesuchter Mörder, der zugleich schwere Schuld an der menschlichen Verkrüppelung seiner Frau trägt, denn er hat sie (wie eine eingelegte Vorgeschichte berichtet) überhaupt erst zu einer Stummen gemacht. Später gerät dieser selber zufällig in eine Dachsfalle, die ihn, da mit einer Sprengladung versehen, das Leben kostet. La Hong heißt dieser fremde Flüchtling, der mit seiner stummen Frau und zwei Kindern eines Tages in ein Bergdorf kommt und dort in Armut und entschiedener Distanz zu den Dorfbewohnern eine Bleibe findet. Hanchong, ein Junggeselle und Mühlenbesitzer am Ort, der seinen Mais vor den fressgierigen Dachsen schützen will, versieht seine Falle mit einer Sprengladung, die dem Fremden zum Verhängnis werden soll. Dieser spektakuläre Kriminalfall, dessen Aufklärung kein Problem ist, gerät aber zu einem Justizfall voller Brisanz. Denn wie soll der an diesem Unfall Schuldige bestraft, wie soll die vom Tod des Mannes betroffene Familie der Stummen entschädigt werden? Die neuen Regeln sehen vor, dass man die Polizei und die oberen Kader einschaltet. Die Dorfbewohner indes versuchen das Problem pragmatisch zu lösen wie seither üblich. Die Dorfältesten plädieren für eine finanzielle Entschädigung als Strafe und Maßnahme der Gerechtigkeit. Der schuldige Fallensteller Hanchong soll die Familie der Stummen versorgen und ihr eine größere Geldsumme zahlen, die dieser natürlich nicht aufbringen kann, es sei denn, er würde das Geld leihen. Dies bringt neue Schwierigkeiten mit sich.

    Der unglückliche Tod La Hongs bewirkt paradoxerweise eine glückliche Verwandlung: nicht Verzweiflung der Stummen, sondern ihre »Erlösung« von der Sprachlosigkeit und ihre Befreiung zur Liebe gerade für den Mann, der ihre Familie eigentlich ins Unglück gestürzt hat. Sie erlebt eine Metamorphose, die ihr ganzes Leben betrifft: Sie erwacht aus dem Alptraum ihrer alten Existenz unter dem Diktat ihres Mannes, der sie zur Stummen verurteilt hatte, und findet zuletzt in verschiedenen Phasen eines Verwandlungsvorgangs, begleitet von Ritualen der Waschung und eines Ausbruchs in dionysische Verzückung in der Natur, indem sie selber versucht, in den Ruf über die Berge einzustimmen, einen Weg zum Glück, zur Liebe und zur kommunikativen Existenz.

    Parallel zu diesem Prozess vollzieht sich mit dem von der stummen Frau heimlich geliebten Hanchong durch den ungewollt verschuldeten Tod La Hongs die Verwandlung in einen barmherzig tätig werdenden, sozial engagierten Mann, der mit seiner Bereitschaft, für die stumme, nunmehr sprachfähig werdende Frau und deren Kinder fortan zu sorgen, geradezu einen mustergültigen Lehrgang in der praxis pietatis durchläuft und besteht.

    Das Ende der Erzählung wartet dann noch mit einer komischen Verwechslung des gesuchten und bis ins Bergdorf verfolgten Mörders La Hong mit dem unfreiwillig zum Mörder gewordenen Hanchong auf. Dieser wird bezichtigt, seine kriminelle »Tat« den Behörden nicht gemeldet zu haben, mit der Folge, dass man ihn in Untersuchungshaft nimmt. Wichtiger aber als der mit diesem Umstand verbundene offene Schluss sind die verschiedenen Zeichen der Bestätigung des Verwandlungsvorgangs: Die wahre Bedeutung des Namens der Stummen »Rote Wolke« kommt künftig erst vollkommen zur Geltung, denn die Frau nimmt nach ihrer wunderbaren Metamorphose die »goldenen Sonnenstrahlen« wieder in sich auf. Sie wird empfänglich für die herrlich leuchtende Natur und für das Leben neu geboren. Das bisher nie gekannte Gefühl der Liebe begründet eine neue Existenz. Sie wird schließlich mit der Rückgewinnung der Sprache resozialisiert. Und gleich wie das Verfahren für Hanchong ausgeht, ihm wird die Versicherung zuteil, die »Rote Wolke« habe ihre Sprache wiedergefunden. Und dem Leser bedeutet der Erzähler, Hanchong sei in dieses »Wundergeschehen« unbedingt einbezogen: Wenn die Mutter ihr jüngstes Kind als erstes Wort »Opa« sprechen lehrt, dann wird das zum sprechenden Zeichen, das kaum einen anderen Bezugspunkt als den liebevoll sorgenden Mann Hanchong haben dürfte, der damit als neues Familienmitglied willkommen geheißen wird.

    Von einem märchenhaften »Wundergeschehen«, welches nur am Ende leicht verschattet erscheint, darf man auch in der widersprüchlich komischen Erzählung Ein Leben ohne Sprache reden. Ein erblindeter Vater, dessen Frau gestorben, lebt mit seinem tauben Sohn zusammen, der in vielen Situationen seinen Vater in einer komisch wirkenden Weise missversteht, was jedoch die im Grunde genommen traurige Lebenssituation oft beinahe vergessen und immer wieder das heitere Klima des humorvoll Menschlichen dominieren lässt. Auch die mehrfach gescheiterten Heiratsvermittlungen, die der Vater für seinen Sohn inszeniert, sind aufs Konto bewusst komischer Darstellung im Interesse des vorherrschenden Humors zu schreiben. Den Gipfel solch humoristisch erzählter Begebenheiten bildet der Auszug des Sohnes Jiakuan in der Absicht, sein in einem Anfall von Selbsthass abgeschlagenes Ohr zu suchen. Dieser Auszug aber endet mit der Rückkehr eines statt des gesuchten Organs gefundenen hübschen Mädchens ins Dorf. Der deutsche Leser mag sich vielleicht im Blick auf diesen märchenhaften Glücksfund an den herrlichen Schluss von Goethes »Wilhelm Meister« Roman erinnern, wo das romantische Liebesglück des Helden mit dem bekannten Bibelzitat aus dem Alten Testament kommentiert wird: »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn des Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand«, worauf Goethes Figur Wilhelm antwortet: »Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht..., aber ich weiß, dass ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.« Schaut man auf die Folgen für Jiakuan in dieser chinesischen Geschichte, so dürfte dieser ähnlich empfinden. Denn sein eigentlich nicht gesuchtes Glück ist für den behinderten Sohn in dieser Erzählung mit dem unverhofft gefundenen stummen Mädchen auch so etwas wie ein »Königreich«. Diese Cai Yuzhen taucht auf dem Lande als eine Pinselverkäuferin auf und wird bald als Jiakuans Frau in die behinderte Familie Wang Laobings mit Freuden aufgenommen, wogegen eine Rivalin, die Tochter einer Nachbarsfamilie, Wang Jiakuan vergeblich als den vermeintlichen Vater ihres erwarteten Kindes zu beschuldigen sucht und sich aus Verzweiflung das Leben nimmt. Der zum Verlierertyp gestempelte Wang Jiakuan wird verdächtigt, sie in den Tod getrieben zu haben.

    Die Schulkinder des Dorfes spotten wohl über die »sprachlose« neue Familiengemeinschaft, und sie prophezeien mit ihrem unbedachten Gesang dem neuen außergewöhnlichen Paar taubstumme Kinder. Solch lästerlicher Singsang und andere Umstände der Missachtung bewegen schließlich die neue Außenseiter-Familie, die bisherige Dorfgemeinschaft zu verlassen und jenseits des Flusses an der Grabstätte des Großvaters ein neues Haus zu bauen. Dort versucht man, ein neues Leben in Isolation und in gehöriger Distanz zum Dorf zu beginnen. Am Umzugstag vollzieht die Familie das Ritual einer Reinigung, womit sie das erfahrene Unglück der Vergangenheit wegzuwischen und eine neue Existenz zu begründen versucht. Durch bewährte Solidarität und wechselseitige Hilfeleistung etwa beim gemeinsamen Dachdecken, dessen Szenerie von den benachbarten Dorfbewohnern wie ein Stummfilm verfolgt wird, in welchem sich die behinderten Personen wie Kunstfiguren bewegen, kann bei allen Familienmitgliedern das Bewusstsein entstehen: »Wir zusammen sind einem gesunden Menschen gleich«. Und wenn unglücklicher Weise der jungen Frau auch ein Ziegel auf den Kopf fällt, dann bleibt dies ohne schmerzliche Folgen, weil man tatkräftig zusammensteht und mit Heilkräutern rasche Gesundung bewirkt. Selbst ein heimtückischer nächtlicher Überfall auf die Frau Cai und ein misslungener Vergewaltigungsversuch können das Bündnis dieser Familie nur festigen. Das dadurch und durch die gemeinsame Abwehr des vermeintlichen Täters später nur noch besiegelte Bündnis findet symbolischen Ausdruck im Abreißen der Holzbrücke über den Fluss, womit die Familie ihre Selbständigkeit dokumentiert.

    Die Ehe Jiakuans und Cais wird, dem Lästerlied der Kinder zum Trotz, mit einem gesunden Kind gesegnet, welches vom Großvater den Namen Wang Shengli (in der Bedeutung von »Sieg«, »er kann diese Welt meistern«) erhält. Nur als der Junge später in die Schule kommt, verfolgt ihn erneut das fatale Lied der Mitschüler: »Cai Yuzhen ist stumm, sie ist verheiratet mit einem Tauben, ihr Kind ist ein Taubstummer.« Und dies hat geradezu »tragische« Konsequenzen: Der gesunde Junge, von den Eltern und dem Großvater über die wahre Bedeutung dieses Liedes aufgeklärt, verhält sich nämlich schließlich nicht anders als jemand, der blind, taub und stumm ist! »Ein Leben ohne Sprache« als Erfüllungszwang des Spottliedes und damit als Folge der Achtlosigkeit und Verachtung der sozialen Dorfgemeinschaft, auf welche die behinderte Familie, ihrer vermeintlich lebensfähigen und Autarkie gewährenden Solidarität zum Trotz, am Ende doch angewiesen bleibt. Eine fatale Konsequenz der letztlich unvermeidbaren und ambivalenten Abhängigkeit auch der Keimzelle der Gesellschaft, einer Familie, von der menschlichen Gemeinschaft im Ganzen!

    Die Geschichte Der Lieblingsbaum gewinnt das Profil einer vielschichtigen historischen Erzählung, die hauptsächlich auf die Biographien zweier Intellektueller, eines Universitätsprofessors und dessen ambitionierter jüngerer Frau, einer Lehrerin und Malerin, sowie auf die Lebensgeschichte von deren einer Tochter, der einzig anhänglichen, zugeschnitten wird. Es ließe sich hier auch von einer spannungsgeladenen und komplexen Familiengeschichte sprechen, die bis in die 30er Jahre zurück reicht und hauptsächlich in der Zeit der japanischen Besetzung Chinas spielt. Diese Familiengeschichte bleibt in hohem Maße verschränkt mit der politischen Geschichte. Und sie wird sogar mit einer Ursprungsgeschichte der chinesischen Heimat des »Großen Herrn« verbunden, welche sich mythischer Vorstellungen und Bilder bedient.

    Eine entscheidende Rolle spielt in dieser Geschichte das sich emanzipierende gesellschaftliche Rollenbewusstsein der Frau. Sie heißt hier Meiqiao, eine selbstbewusste, bildungshungrige, ja gelehrte junge Frau, Repräsentantin der »neuen Jugend«, die bereits als 16jähriges Mädchen mit dem »Großen Herrn«, einem schon in die Jahre gekommenen prominenten Akademiker, ja Professor verheiratet wird und die mit Entschiedenheit auf ihrem Recht beharrt, einen Studienabschluss zu erreichen und als Lehrerin zu arbeiten. Zur Richtschnur ihres Lebens erklärt sie sogar ihren Wunsch, als Malerin nach Paris zu gehen, den zu verwirklichen ihr jedoch versagt bleibt. Sie hat den Mut, ihre Unabhängigkeit vom »Großen Herrn« zu behaupten, mit dem gemeinsam sie vier Kinder erzieht, von denen nur die Tochter Lixiang lebenslang stark auf sie bezogen bleibt. Und sie hat den Mut und trifft die moralisch nicht unanfechtbare Entscheidung, dies dadurch zu beweisen, dass sie sich in einen Lieblingsschüler ihres Mannes verliebt, diesen nicht zuletzt mit ihrer Malkunst für sich einnimmt und seinetwegen ihre Familie verlässt. Ihre Tochter Lixiang wartet »ewig« auf die Rückkehr ihrer Mutter unter dem Lieblingsbaum im Hof, der als ein von der Mutter emotional und dynamisch gemaltes Bild voller roter Blüten zu einem vorausdeutenden Symbol des schmerzvollen Abschieds werden soll.

    Während die Japaner China erobern, geht der Vater in seine Heimat zurück und erlebt als enthusiastischer Patriot die Kriegszeit, deren verheerende Wirkung in der Natur ablesbar ist, beispielsweise an den gefallenen Früchten der Kakifeigenbäume, die wie ein »rotes Blutmeer« wirken. Die Geschichte seines Heimatorts, eine ätiologische Erzählung in mythischen Bildern einer Verbindung von Himmel und Erde, findet sich hier eingeschaltet, in der die Landschaft als eine empfängnisbereite Frau imaginiert wird. Diese erfährt ihre Fortsetzung mit der Geschichte des Baus einer Herbstpagode und der Erinnerung an einen zum Dichter gewordenen Han - Kaiser. Hierher war der »Große Herr« vor den Japanern geflohen. Hier wollen ihn die japanischen Besatzer seines guten Rufes wegen zum Kreisstadtvorsteher machen. Aber er entzieht sich diesem Vorhaben und sucht als stolzer Patriot den Ort auf, der für ihn zum Ursprungsort »unserer Geschichte« geworden und wo die chinesischen Kaiser für ihre Vorfahren Altäre gebaut haben.

    Dem gealterten »Großen Herrn«, der trotz seelischer Verletzungen durch die Japaner seine Würde behält, vermittelt seine Tante eine neue Frau: die Große Ping, eine einfache Bäuerin, die das Gegenbild seiner früheren Frau ist, aber selbstlos und liebevoll Haus und Hof verwaltet. Der »Große Herr« wird angesichts der reichen Natur zum Dichter, der sich über sein gegenwärtiges Leben hinweg tröstet, der aber die Verdienste der Großen Ping anerkennt.

    Seine Tochter Lixiang ist unterdessen auch sechzehn Jahre alt und verfolgt entschieden wie ihre Mutter ihr Ausbildungsziel, verdient ihr Geld bei der Zeitung und schreibt über ihre Erlebnisse im von den Japanern eroberten Land. Ihre Idee, die Mutter aufzusuchen, lebt in ihr fort. Nach erfolgreicher Erkundung ihres gegenwärtigen Wohnorts begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise, zuletzt mit einem Boot, welches von den Japanern bombardiert wird. Sie überlebt. Und nach acht Jahren kommt es zum lang ersehnten Wiedersehen. Die Mutter und ihr neuer Mann leben in Krankheit und Armut. Sie leiden in der Zeit der Hungersnot.

    Bald zwanzig Jahre später besucht Lixiang, die inzwischen selber Mutter zweier Kinder ist, nach wie vor sonntäglich ihren Vater, der nach der Befreiung Dekan einer Fachhochschule geworden ist. Und sie pflegt weiterhin Kontakt mit ihrer Mutter, die stärker als ihr früherer Mann von der Not betroffen ist. In der neuen Zeit des Friedens bittet der mittlerweile krebskranke »Große Herr« seine Tochter, ihn zu einer Konferenz zu begleiten. Ihn treibt der Wunsch, seine frühere Frau, der er hin und wieder über seine Tochter Zigaretten hatte zukommen lassen, noch einmal zu sehen. Im Wartesaal des Provinzbahnhofs treffen sich beide nach 34 Jahren wieder, offenbar verlegen und schweigsam, und rauchen zusammen eine Zigarette. Der »Große Herr« erwähnt, er habe ihr früheres Zuhause besucht; die »wunderbare Akazie«, ihr Lieblingsbaum, sei gefällt worden. Meiqiao hatte auf ihrem Bild dessen Blüten in blutroten Farben gemalt und dessen Blätter in »blaue Wellen« getaucht, den auf transzendente Bedeutungen verweisenden Symbolcharakter des »Lieblingsbaums« damit betonend.

    Das Finale dieser Erzählung bringt ebenfalls in anschaulichen und über die Gegenstände selbst hinaus weisenden Bildern die Vergänglichkeit zum Ausdruck: Die Spuren der Zeit zeichnen sich in Meiqiaos Gesicht ab, denn der Sonnenschein fällt durchs Glasfenster auf sie. Und die unwiederbringliche Zeit erscheint in diesem Licht. Man trennt sich bedeutungsvoll schweigend, denn der »Große Herr« bringt seine gewollten Abschiedsworte nicht mehr über seine Lippen. Der Erzähler, der seine Gedanken lesen kann, muss hier für den »Großen Herrn« sprechen: Ob er Meiqiao bei einer Wiederbegegnung im nächsten Leben wohl noch erkennen würde? Ein offener, melancholischer, aber keineswegs hoffnungsloser Abschied!

    Mit Identitätsfragen und einem neuen Rollenverständnis der Frau in der »modernen« chinesischen Gesellschaft setzt sich auch die Hauptfigur in der Erzählung Der leere Spiegel auseinander. Die Probleme Sun Yans, einer jungen Pekinger Frau, die in ihrem Berufsleben (ob als Buchhalterin oder im Verlag) durchaus erfolgreich ist, stellen sich allerdings anders als der entschiedeneren und vergleichsweise selbstgewisseren Intellektuellen, der man in der zuletzt charakterisierten Geschichte (»Der Lieblingsbaum«) begegnet ist. Sun Yan begreift das Problem ihrer Frauenrolle als ein noch offenes »Rätsel« und »Geheimnis« ihres Lebens, das es erst und durchaus auch noch experimentell zu erkunden gilt, wobei die Antworten, welche ihr die ältere Generation bereit hält, wenig einleuchten, aber auch nicht von vornherein abzulehnen und verwerflich erscheinen. Doch im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten, die das gegenwärtige »moderne« Leben eröffnet, glaubt sie, die Moralvorstellungen der »alten« Zeit und der älteren Generation kritisch hinterfragen zu müssen.

    Ihre zentralen Fragen lauten: Gibt es die Möglichkeit einer Erfahrung von Glück und Liebe (vielleicht sogar mit der gleichzeitigen ästhetischen Befriedigung) im Alltagsleben und im Zusammenhang mit einer beruflichen Auslastung als Sinnerfüllung des Lebens einer Frau? Und welcher Weg führt dahin? Scheint dies nur im Einklang mit den alten gesellschaftlichen Normen und deren Erfüllung möglich, also nur in einer Ehe und in einer kindgesegneten Familie, wie es die Tradition und die ältere Generation vermitteln? Oder gibt es diese Erfahrungsmöglichkeit auch in der Verwirklichung einer freien Partnerschaft? Oder, noch kühner, besteht diese Möglichkeit vielleicht sogar zusammen mit einer Entscheidung für ein »Single-Leben«?

    Der metaphorisch verwendete und literarisch vermittelte Titel der Erzählung verrät nichts über eine prinzipiell offene Zukunft und das künftige Schicksal, lässt mithin diese fundamentale Frage unbeantwortet. Die Erzählung bietet also hier keine »Lösung«, wartet nicht mit einer »Botschaft« auf, gibt kaum Orientierungshilfen. Die junge Frau bleibt auf sich selbst verwiesen. Und sie bleibt skeptisch. Auch das zunehmende Altersproblem (ihrer selbst wie des jeweiligen potentiellen Partners) versagt eine klare Erkenntnis. Die Zeit ist hier auch kein Zaubermittel. Doch sie neutralisiert auch nicht die bleibende Frage. Sun Yan hat ihre Wunschvorstellungen, hegt ihre unbefriedigte Sehnsucht nach Liebesglück im Herzen. Und sie weiß, sie erfüllt die herkömmlichen Erwartungen ihrer Eltern nicht. Sie lässt sich lediglich experimentell auf den traditionellen Brauch einer Heiratsvermittlung ein. Sie macht dabei die Erfahrung einer offenkundigen Diskrepanz ihrer Wunschvorstellungen und der »alten« Normen, also dessen, was sich gehört.

    Die junge Frau wird mit verschiedenen Liebeskonzepten konfrontiert. Ihre arrangierten Partnerschaften mit Pan Shulin und Zhai Zhigang, diesen durchaus »anständigen«, ja in den Augen anderer fast »idealen« Männern, konnten ihr das ersehnte Glück nicht bringen. Der Freund Luo, der die Doppelrolle eines Ehemannes und Freundes, für sie eigentlich die Rolle eines treulosen Liebhabers spielt, gilt ihr trotz ihres Verhältnisses mit ihm und trotz schöner gemeinsamer Stunden am Ende als das Muster eines selbstgefälligen Mannes, dessen Begehren sie nur mit Skrupeln nachgibt. Ihr Konflikt bleibt ungelöst: der Erfolg im Berufsleben scheint erkauft mit dem Verzicht auf ein dauerhaftes glückliches Liebesleben.

    Ein alternatives Liebeskonzept vertritt ihre Schwester Sun Li. Sie repräsentiert die Denkweise des »modernen Menschen«: egoistisch auf unbedingte Erfüllung ihrer Liebeswünsche sinnend, ohne Rücksicht auf die moralische Verpflichtung ihrem Ehemann und dem Kind gegenüber, ohne Rücksicht auch auf die von ihren Eltern vertretenen gesellschaftlichen Normen. Sie entscheidet sich für die Trennung von Zhang Bo zugunsten eines amerikanischen Liebhabers. Die sexuelle Befriedigung ist für die Schwester nicht identisch mit der »romantischen« Liebe, von der ihrer Meinung nach alle »dummen Weiber« träumen. Sun Yan kann dieser Auffassung nur bedingt folgen.

    Ihr Schwager Zhang Bo nimmt seine ihm eigentlich aufgenötigte Scheidung wie einen »Naturvorgang« gelassen hin. Er schien ohnehin eingestellt auf die Erwartung eines nur mäßigen Liebesglücks. Und dessen Liebesauffassung überzeugt seine Schwägerin: seine zumindest behauptete Erfahrung eines absoluten Augenblicks von Liebesglück, unabhängig von der Erfüllung und dem Erweis moralischer Zuverlässigkeit des Partners, welche erst eine Dauer des Glücks ermöglichen.

    Zhang Bos ständige Erinnerung an das geliebte Mädchen seiner Jugend als eine Form der Liebespassion und des Selbstopfers für die Liebe findet in einem amerikanischen Film für Sun Yan glaubwürdigen und nachhaltigen Ausdruck, wenn das Liebesopfer hier (Myra mit Namen) in Gestalt der erinnerten Geliebten fortlebt. In Identifikation mit dieser fiktiven Figur glaubt Sun Yan das Geheimnis ihrer unerfüllbaren Liebe für ihren Schwager, die eben auch den Geist der Selbstopferung enthalte, zu bewahren. Diese Selbstopferung scheint ihr notwendig, weil sie (noch) nicht fähig ist, offen gegen die tradierten gesellschaftlichen Normen zu verstoßen und eine alternative Form von Liebesglück gut zu heißen und als mögliche Erfüllung erleben zu können. Sun Yan ahnt und erkennt: Offenbar hat jeder sein persönliches Schicksal. Ob ihr zeitweiliger Mann Zhai Zhigang, mit dem sie im Grunde ein »gutes Gespann« gebildet hatte, mit seiner Meinung, sie sei wohl ein »Pechvogel«, nicht vielleicht doch das Rechte getroffen hatte?

    Die nunmehr Vierzigjährige, also älter gewordene Frau beginnt sich in Resignation die Vergeblichkeit des erträumten Liebesglücks einzugestehen, zumindest die offenkundige Wahrheit, es bislang nicht erfahren zu haben. Ausschließlich pragmatische Gründe bewegen sie, ihrer Freundin, die besorgt nochmals die Vermittlerin spielt, wiederholt zu willfahren. Und der Zufall will’s, dass sie nun die irritierende Erfahrung der Wiederbegegnung mit ihren vormaligen Männern macht. Eine Wiederholung der Heirat mit Pan Shulin führt trotz eingestandener altersmäßiger Harmonie aber doch nur zu einer weiteren Desillusionierung, einmal davon abgesehen, dass diese Verbindung durch ein tragisches Unglück schon nach nicht einmal einem Jahr wieder ein Ende findet. Die zufällige Wiederbegegnung mit dem anderen früheren Mann, mit Zhai Zhigang, für den ihre damalige Fehlgeburt der Scheidungsgrund gewesen, und der inzwischen unglücklich mit einer »bösen Frau« verheiratet, außerdem mit einem mongoloiden Kind belastet leben muss, bestätigt nur ihren schon früher gehegten Gedanken und wirkt deshalb beruhigend, ihre einstige Trennung sei doch vielleicht ein Glück gewesen. Denn vielleicht würde sie sonst heute selbst ein geistig behindertes Kind zu versorgen haben. Doch das Lebenskapitel der deprimierenden Wiederholungen ist für die Hauptfigur dieser Geschichte damit nicht abgeschlossen. Auch den früheren Freund, den Kleinen Luo, trifft sie wieder, ohne des erhofften Glücks wenigstens in ihrer Erinnerung versichert zu werden. Und natürlich muss ihr zum Schluss der Erzählung auch noch der heimlich geliebte Schwager Zhang Bo wieder begegnen, überdies noch in Begleitung einer jungen Frau und eines »fröhlichen Sohnes«, mithin in einer stilisierten idyllischen Szenerie. In aller Deutlichkeit wird ihr damit auch diese versäumte Lebensmöglichkeit ihres Liebesglücks vor Augen geführt. Sun Yan wendet ihr Gesicht zum in der Maisonne glänzenden Himmel, der einem großen Rundspiegel gleicht und der wie ein »Zauberspiegel« alles auf Erden bescheint. Dieser Blick in den Himmelsspiegel beruhigt sie angesichts des gerade auf Erden Geschauten. Diese Ruhe ist aber doch vielleicht nur eine für den Augenblick gewährte Beruhigung ihrer unerfüllten Sehnsucht. Sie bedeutet keine Lösung ihres Lebensrätsels. Denn auch der Himmelsspiegel zeigt außer der Weite kein einer Orientierung dienendes und verstehbares Bild, welches das Geheimnis des Lebens und den Weg zum Liebesglück vielleicht in einer symbolischen Botschaft offenbaren würde. In dieser Hinsicht bleibt für sie selbst der doch sonst so wunderbare Spiegel des herrlichen Maihimmels am Ende ohne Trost und leer. Ihre unerfüllte Sehnsucht scheint in bleibende Wehmut überzugehen.

    Die zweiteilige Erzählung Die Fremden, die mit einer allgemeinen Feststellung der in gegenwärtiger Zeit klein gewordenen Welt beginnt, demzufolge man allerorten Bekannte trifft, betont damit keineswegs die Problemlosigkeit, Fremdheit zu überwinden. Das Gegenteil wird gezeigt: Der anonyme Ich-Erzähler, der selber mit der Sorge der Vereinsamung in die Hauptstadt Peking gekommen ist, findet seine skeptische Erfahrung der zumeist oberflächlichen und nur kurzlebigen Kontakte selbst mit zufällig wieder getroffenen Bekannten aus der Heimat mehrfach bestätigt. Fremde: So nennen die Chinesen generell die Wanderarbeiter, die, aus welchen Motiven auch immer, vom Land (ihrer Heimat) in die Städte (in die Fremde) ziehen. Zu deren Schicksal gehört in der Regel ein aufreibender, oft zermürbender Kampf um eine Arbeit und um eine Aufenthaltserlaubnis. Dies jedenfalls gilt für Peking.

    Der Ich-Erzähler scheint diese Hindernisse überwunden zu haben. Er hat ein Restaurant in der Hauptstadt eröffnet. Und ihm widerfährt zufällig im »weiten Meer« der Großstadt die Wiederbegegnung mit einem alten Bekannten, dem alten Chen, der, in einer weniger glücklichen Lage, seinen Unterhalt zunächst als Abfallarbeiter, später als Schrotthändler und Kleinunternehmer verdient. Der Erzähler erfährt beim Schnapstrinken von ihm: Pure Not habe ihn, den alten Chen, zu einem »Wanderarbeiter« gemacht; denn er habe seinen Posten, aber auch seine ihm untreu gewordene Frau verloren. Ihn, den inzwischen 40jährigen, hat niemand mehr einstellen wollen. Ein Leben als Bettler hat er führen müssen, bis er in der Vorstadt auf einer Schweinefarm einen Job gefunden. Erst nach drei Jahren war ihm der »Aufstieg« zum Kleinunternehmer (Schrotthändler) geglückt. In Peking könne man eigentlich nur Fuß fassen, wenn man bestimmte Fachkenntnisse vorweisen könne. Der Ich-Erzähler gibt ihm zu bedenken: Das Gefühl, ein Fremder in Peking zu sein, könne sich möglicherweise verlieren, wenn Chen sich eine Wohnung kaufen würde. Aber Chen glaubt nicht daran, in der Hauptstadt heimisch werden zu können. Hier finde man keine Ruhe; überdies sei eine Wohnung ohne Familie unnütz. Dem Ich-Erzähler vertraut der alte Chen seine ganze Lebensgeschichte an. Der Geschiedene hängt nach wie vor an seinem Sohn, der offenbar allein ihm noch Heimat bedeutet. Der Versuch, diesen wiederzusehen, war indes kläglich gescheitert. Weder das beanspruchte Sorgerecht hatte er erhalten, noch hatte sich der Junge als würdiger Sohn erwiesen und zu ihm bekannt. Zurück in der Stadt, begleitet der selber ratlose Ich-Erzähler den total hilflosen, verzweifelten und betrunkenen Chen mit einem Taxi in seine Klause und muss ihn dem Elend der Fremde überlassen. Der Titel des ersten Teils dieser Geschichte »Wozu weinen?« bleibt doppelt beziehbar: Auf die Perspektive des Erzähler-Freundes wie auf seinen heimatlos gebliebenen alten Bekannten, der ein Opfer seiner desolaten Herkunftsgeschichte und seiner offenkundigen Verurteilung zu einem gegenwärtigen und künftigen, eindeutig hoffnungslosen Leben in der unüberwindlichen Fremde geworden ist.

    Der zweite Teil der Erzählung, der den Titel »Papierasche« trägt, beschäftigt sich mit einem anderen und vertrauteren Bekannten des Ich-Erzählers und Restaurantbesitzers. Es ist ein halber Nachbar, der in der gleichen Gasse ein Gemischtwarengeschäft eröffnet hat. Minzi, so sein Name, der mit Frau und Tochter ebenfalls in Peking als einem Ort der Fremde eine neue Existenz zu begründen versucht hat, stammt aus der Provinz. Eines Abends im Restaurant erzählt Minzi, aus welchem Grund er seine Heimat verlassen und es ihn hierher verschlagen hat. Der Ich-Erzähler erfährt von dessen Totschlagdelikt, wenn auch nur der Hund des Dorfvorstehers das Opfer gewesen sei. Er habe damit den Dorfvorsteher, der seinen Vater auf dem Gewissen habe, bestrafen wollen. Dieser, ein gewissenhafter Buchhalter in einer Ziegelfabrik, war Korruptions- und Bestechungsversuchen des Dorfvorstehers auf die Schliche gekommen und hatte auf Betreiben des Fabrikleiters seinen Posten verloren und war zu einer Schwerstarbeit verurteilt worden, an der er zerbrochen ist. Nach dessen Tod wird zuletzt auch die Hoffnung des Sohnes auf eine Entschädigung enttäuscht, da die Funktionäre sich gegenseitig decken. Minzi verliert zudem seine Mutter und den Familienbesitz, was ihn nötigt, in der Hauptstadt eine neue Existenzgrundlage zu suchen. Vor seiner Abreise habe er, so erzählt er dem Ich-Erzähler, das Grab seines Vaters besucht, dort Erde angehäuft und – chinesischem Brauchtum gemäß – Papiergeld geopfert und verbrannt. Mit dem Spaten in der Hand sei er auf dem Rückweg dem Dorfvorsteher mit seinem Hund begegnet, habe diesen angelockt und erschlagen, um damit seinen Herrn zu bestrafen. Dann sei er eilig geflohen.

    Die Schatten dieser Geschehnisse in seiner Heimat verfolgen Minzi noch immer; er wagt nicht mehr dorthin zurückzukehren, bleibt in die fremde Stadt verbannt. Die Geschichte endet dramatisch mit einem nächtlichen Telefonanruf beim Ich-Erzähler. Minzi meldet erregt, mit Frau und Kind von der Polizei festgesetzt worden zu sein wegen einer angeblich nicht mehr gültigen Aufenthaltserlaubnis in der Stadt. Abschiebung drohe. Doch gegen Geldzahlung käme man frei. Die Geschichte klingt elegisch aus. Während seiner Einladung im Restaurant des Erzählers erklärt Minzi, er müsse noch diese Nacht das Gebot der Familienpietät erfüllen und für den verstorbenen Vater Papiergeld verbrennen. Bei ihrem letzten fehlgeschlagenen Versuch hatte die Frau dem Ordnungspersonal die Wohnerlaubnis nicht nachweisen können. Der Ich-Erzähler erklärt sich dies Mal zur Begleitung bereit. An einer leeren Kreuzung lässt Minzi das Taxi anhalten und vollzieht das Ritual. An einer Kreuzung muss dies stattfinden, weil chinesischem Glauben entsprechend von hier aus die Asche des verbrannten Papiergeldes in alle Richtungen entweichen und also ihr Bestimmungsziel erreichen kann. Mit dem Bild der davonfliegenden Asche, denen die Tränen der Trauer folgen, endet die Erzählung in einer Moll-Tonart: Die Fremde der Stadt kann vielleicht doch nie zur Heimat werden.

    Eine ungewöhnliche, ja geradezu romantische Kriminalgeschichte voller phantastischer, märchenhaft anmutender Motive bildet die diesen Erzählband abschließende Geschichte Unter dem Himmel gibt es keine Räuber. In ihrem Mittelpunkt steht der nach wenigen Jahren fleißiger und gewissenhafter Tätigkeit in der Fremde reich gewordene Wanderarbeiter Shagen, dessen sprechender Name »dumme Wurzel« hier durchaus schon auf seinen Charakter, auf seine Arglosigkeit und rührende Naivität hindeutet. Die Kunde von seinem Reichtum hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und scheint nahezu alle potentiellen Geldräuber, die es freilich Shagens Überzeugung nach überhaupt nicht gibt, auf den Plan gerufen zu haben. Mit 21 Jahren erfährt dieser junge Wanderarbeiter ein ihn elektrisierendes Urerlebnis in der Begegnung mit einer stillenden Frau in der nahen Kreisstadt, das ihn fortan als sein »Geheimnis« beunruhigt und dazu bewegt, mit seinem in fünf Jahren verdienten Geld demnächst in seiner Heimat ein Haus zu bauen und eine Frau zu heiraten. Gegen den Rat aller will er die von der Bank abgehobene Geldmenge persönlich mit auf die Reise nehmen, und dies trotz der allerorten lauernden Gefahren eines Überfalls. Sein Vorgesetzter, seine Kollegen haben ihn vergeblich gewarnt und geraten, sein Geld mit der Post zu schicken. Shagen aber, dieser naive Romantiker, schlägt alle Warnungen aus. Er glaubt nicht an die schlechte Welt. Sein Grundvertrauen, erwachsen aus seiner ländlichen Sozialisation und genährt durch Erfahrungen der Verlässlichkeit seiner Mitmenschen und kindlichen Bezugspersonen, widerspricht dem ihn nun befremdenden Misstrauen in der Welt.

    Auf seiner Heimreise im Zug ergibt sich eine merkwürdige Konstellation von Fahrgästen seines Abteils: Ein jüngeres Paar setzt sich offenkundig bewusst neben ihn, und ein »verdächtiger« Mann mit einem Narbengesicht sitzt in der Fensterecke und scheint den jungen Reisenden ebenfalls von Zeit zu Zeit aufmerksam zu beobachten. Der allwissende Erzähler informiert den Leser: Hinter dem Paar verbergen sich gesuchte Räuber, eine Kunststudentin und ein Architekturstudent, keine Eheleute, sondern nur »Geschäftspartner« mit einem gemeinsamen Reiseinteresse. Beide finanzieren ihre Unternehmungen mit gestohlenem Geld. Ihre Opfer sind gezielt Reiche, Kader und Funktionäre; zu ihren Methoden gehört der Einsatz der Frau als »Köder«. Ihnen geht es nicht primär um eine unrechtmäßige Bereicherung. Sie sind Kriminelle um der Ästhetik willen geworden, um Natur und Kunst zu erkunden und zu genießen. Wir haben es also mit ganz untypischen Dieben zu tun, mit einer Spezies »romantischer« Räuber, die aus ihrer Schwärmerei für die Natur und ihrer Passion für die Kunst zu Verbrechern geworden sind. Auch Wang Bo und Wang Li, so die Namen der beiden, haben offenbar in der Wüste, wo Shagen als Wanderarbeiter tätig gewesen, ihr erstes entscheidendes Erlebnis gehabt: Ihre Faszination durch die Eintönigkeit und Unerbittlichkeit dieser Gegend hat ihren Entschluss einer Rückkehr zur künstlerischen Produktion ausgelöst. Und die zufällige Begegnung mit dem naiven, arglosen und unschuldigen Shagen hat sie spontan berührt und betroffen und die bereits vorbereitete »Wende« ihres Lebens nur »aktualisiert«. In Gegenwart des jungen Shagen vollzieht sich eine Verwandlung der Räuber in Schützlinge vor den Dieben, die sie eigentlich selber sind. Die hartnäckige, unerschütterliche Überzeugung des jungen Wanderarbeiters von einer harmonischen und guten Welt, der hier in ihrer Gegenwart, mit seinem schweren Geld beladen, vertrauensselig wie ein Kind den Schlaf des Gerechten tut, scheint diese Umkehr bewirkt zu haben, das Wunder einer »Bekehrung« der bisherigen Räuber zu Künstlern! Besonders die Frau Wang Li fühlt plötzlich einen unwiderstehlichen Drang, den »Schutzengel« zu spielen und ihren gefährdeten Nachbarn Shagen vor Dieben zu schützen. Und die Erfüllung dieses »schönen romantischen Traums« wünscht auch Wang Bo herbei. Die erhoffte Schutzaktion gelingt tatsächlich, wenn auch nicht ohne persönliche Einbuße. Die »romantischen« Räuber gewinnen ein Bewusstsein dafür, Unrecht getan zu haben, und entschließen sich reumütig für die Verteidigung der Unschuld und der guten Welt, wobei sie allerdings selber Opfer zu bringen haben.

    Um die komplexe Geschichte und deren dramatisches Finale begreifen zu können, erfährt der Leser weiterhin vom Erzähler, der die inneren Zusammenhänge überschaut, was es mit dem narbengesichtigen Mann im Zugabteil auf sich hat: Es handelt sich hier um einen erfolgreichen Kommissar, welcher dem inzwischen innerlich verwandelten Räuberpaar seit drei Jahren auf der Spur ist und die beiden nun zufällig im besagten Wüstenbahnhof gesichtet hat. Deren sonderbares Verhalten im Zug allerdings hatte ihn irritiert und die geplante Festnahme hinauszögern lassen. Menschliche Rührung hatte auch ihn erfasst angesichts des Widerspruchs, dass Räuber ihre Rolle aufgeben und sich bereitfinden, offenbar Gutes zu tun. Und dies ungewöhnliche Verhalten führt ihn schließlich zu der Entscheidung, dem Paar jetzt beizustehen, mithin ein »romantisches Abenteuer« einzugehen, welches seinem Beruf total zuwiderläuft. Während Shagen noch immer in tiefem Schlaf befangen ist, kommt es zu einem längst erwarteten dramatischen Geschehen. Ein unbekannter Räuber bemächtigt sich der Segeltuchtasche Shagens mit dem Geld und macht Anstalt zu entfliehen, wird daran aber von dem Mann mit dem Narbengesicht und von Wang Li gehindert. Dem folgt ein weiterer dramatischer Höhepunkt mit dem Auftauchen eines zweiten Diebes und dessen Flucht mit der geldgefüllten Tasche. Das für die literarische Form des Thrillers konstitutive Element einer Verfolgungsjagd und eines Kampfes folgt, Wang Li gebärdet sich dabei wie eine »ungestüme Löwin«, Wang Bo wird dabei mit dem Messer des verfolgten Diebs verletzt. Der narbengesichtige Kommissar überwältigt schließlich den Dieb und übergibt ihn der örtlichen Polizei.

    Shagen erhält die gestohlene Tasche mit dem Geld zurück, ohne von dem ganzen Geschehen etwas gemerkt zu haben. Sein positives Weltbild bleibt dank seines Unwissens jedenfalls für ihn ungetrübt bewahrt. Das Ende der Erzählung aber bleibt offen. Wird das zuletzt so hilfsbereite und menschlich handelnde Diebespaar doch noch bestraft? Oder ergeht Gnade vor Recht? Ein überzeugender Sieg der Menschlichkeit und des Guten scheinen das letzte Wort zu behalten. Man hat es hier in der Tat mit einer »unerhörten sich ereigneten Begebenheit« (wie Goethes Bestimmung einer Novelle lautet) zu tun: mit einer hintergründigen Kriminalgeschichte gegen den Strich, mit einer romantischen Kriminalgeschichte, die sich in eine literarische Utopie auflöst und die der harmonischen Vorstellung von einer Welt ohne Räuber wenigstens ein poetisches Argument liefert.

    Das leere Fenster

    von Chen Ran

    Für einsame Menschen ist die Post der am häufigsten aufgesuchte Ort. Das hatte der alte Mann an einem Abend vor zwei Jahren herausgefunden. Er war vollkommen überzeugt von dieser Feststellung, ob du es nun glauben willst oder nicht. Vor zwei Jahren an einem schwülen, trüben Nachmittag hatte der leise rieselnde Nebelregen nach sieben Tagen und sieben Nächten endlich aufgehört. Mit kaltem Glanz wie von einem Dolch brachen die gleißenden Strahlen der Sonne am westlichen Himmel hervor, an dem sie eigentlich sinken sollte, und fielen quer über die Mitte der Mausstraße. Es war schon spät am Abend. Der alte Mann stand auf einer Straßenseite und beobachtete gerade etwas. Er bemerkte, dass sein Gesicht zur Hälfte im Sonnenlicht und zur Hälfte im Schatten lag. Er schob es daraufhin ganz in den Schatten hinein, der von oberhalb der hohen Treppen bis zur Straßenecke reichte.

    Dieses Verhalten hatte etwas mit seiner Gemütsverfassung zu tun. Ich begleitete beispielsweise eines Abends zwei Freunde zur Bushaltestelle, einen Mann und eine Frau. Sie waren gute Freunde von mir. Weit auseinander lebte der eine im Süden des Himmels, der andere im Norden der Erde. Vor diesem Besuch kannten sie einander nicht. Eigentlich gäbe es keine Geschichte über diese beiden zu erzählen. Ich verdanke aber einer Begebenheit an diesem Tag eine kleine Erkenntnis meines Lebens, und das ist der Grund, warum ich von diesem Abschied erzählen möchte.

    Die Frau war von hübschem Aussehen, sie wirkte aber traurig. Der Wind bewegte ihre dunklen langen Haare spielerisch auf und ab wie eine schwarze weiche Seidenfahne. Ihre großen Augen, zuweilen in der nächtlichen Dunkelheit schimmernd, ließen leicht diese Traurigkeit erkennen. Der Anblick wirkte anrührend.

    Tief in mir, fast schmerzhaft, empfand ich Sympathie für unser Geschlecht, das Frauen hervorbringt mit Augen von solchem seelischen wie ästhetischen Reiz. Meine Freundin war gerade geschieden und aus einem entfernten Ort im Norden in die Stadt geflüchtet, in der ich lebte.

    Die Abenddämmerung hatte sich bereits ziemlich verdichtet. Hoch aufragend leuchtete an der Haltestelle eine Straßenlaterne. Bei der Dunkelheit, die sich ringsherum einstellte, vermittelte ihr Licht das Gefühl, bloßgestellt zu werden. Nachdem wir drei an dem Bushalteschild angekommen und stehen geblieben waren, nahm ich als erste Bewegung wahr, wie die Frau einen Schritt zurücktrat, so dass ihr Gesicht in den langen schmalen Schatten des Strommastes geriet. Gleich darauf spürte ich in mir einen flüchtigen Ruck, dem dekuvrierenden Licht zu entgehen. Ich stellte mich parallel zu ihr jetzt mit beiden Füßen auf den quer über der Mausstraße liegenden Schatten des Mastes. Wir befanden uns nun beide von Kopf bis Fuß vollkommen im Schutz des Schattens.

    Uns gegenüber, im grellen, keine Deckung erlaubenden hellen Licht, stand der Mann, den ich zu diesem Zeitpunkt in meinem Herzen zu einer makellosen Gestalt aufgebaut hatte; ein Mann, in den ich in meiner Phantasie vernarrt war, der aber mit der realen Person letztlich nichts zu tun hatte. Er stand uns von Angesicht zu Angesicht frohen Mutes gegenüber. Seine Augen blieben unter dem strahlenden Licht ganz ruhig. Er kam aus einer kleinen abgelegenen Stadt im Süden, kämpfte sich durch dick und dünn für einen Job in meiner Stadt, deren kulturelle Atmosphäre stärker entwickelt war, und sollte mich gleich wieder verlassen wegen eines Studiums in einem weitab liegenden Land. Er war so voller Zuversicht und Hoffnung, dass er bei dem Gedanken, sich von mir zu trennen, keine Empfindung von Verlust spürte.

    Zu der kleinen Erkenntnis meines Lebens kam es zu diesem Zeitpunkt. Wenn du in irgendeinem Licht – sei es nun im Licht der Augen, der Sonne oder im Lampenlicht – zwei, oder auch drei oder vier Menschen miteinander stehen siehst, ist es ohne Zweifel kein Zufall, dass sie in dem vorhandenen Raum jeweils eine eigene, bestimmte Position wählen, ob sie zum Licht aufsehen oder ihm den Rücken kehren. Maßgebend ist hier zweifellos ihre Gemütsverfassung. Ihre Position scheint zufällig, ist aber tatsächlich eine zwangsläufige Entscheidung. Seit zwei Jahren brachten mich verschiedene Erinnerungen immer wieder zum Nachdenken über das Verhältnis von Dunkelheit und Helligkeit, die paradoxerweise einander sowohl polarisierend gegenüberstehen, als auch sich bedingend miteinander verbunden sind. Diese Frage betrifft meine nachfolgende Geschichte.

    * * *

    Es war an einem bestimmten Tag gegen Abend, als der Himmel nach der regnerischen Periode aufklarte. Durch die unversehens durchbrechenden Sonnenstrahlen geriet der alte Mann in den Schatten, der oberhalb der hohen Treppen östlich der Mausstraße lag. Gerade dort befand sich eine kleine Post. Nach sieben Tagen und sieben Nächten andauernden Regens herrschte in der Post besonders viel Betrieb. Der einsame alte Mann bemerkte plötzlich, dass es in seinem absolut stillen Leben einen Ort gab, der sich mit der ganzen Welt verband. Hier unterhielt man sich klar und deutlich mit seinen Familienangehörigen und lieben Freunden jenseits des Pazifischen Ozeans. Ein Mädchen erzählte begeistert, als sie aus der Telefonzelle trat, wie sie das Geräusch eines Sprengwagens wahrgenommen hätte, der in New York frühmorgens die Straßen reinigte. Aus ihm unbekannten Gründen entstand im Herzen des

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