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Die Lüge: Roman
Die Lüge: Roman
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eBook318 Seiten4 Stunden

Die Lüge: Roman

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Über dieses E-Book

1944 lernen Heinrich Fausten und Gretel Sanders sich kurz vor einem Luftangriff kennen und lieben und verabreden sich für den nächsten Nachmittag. Am nächsten Morgen jedoch wird Heinrich vorzeitig abberufen. Die Alliierten sind in der Normandie gelandet. Heinrich und Gretel verlieren sich aus den Augen.
Durch eine Nierenkrankheit gelingt es Gretel, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner bringt sie ihren Sohn zur Welt. Im Chaos dieser Nacht erklärt Gretels Mutter das Kind als ihr eigenes, um Gretel die Schande einer unehelichen Mutter zu ersparen. Doch Gretel leidet zeitlebens unter dieser Lüge. Zwei ernsthafte Gelegenheiten, zu heiraten, schlägt sie aus. Mehrmals kommt es beinahe zu einer neuen Begegnung zwischen Gretel und Heinrich, aber nie wirklich. Heinrich heiratet Helma, die ihn im Lazarett aufopfernd pflegte...
Heinrichs und Helmas Tochter Petra lernt in Hamburg einen Arzt kennen, der bald an einem Missionskrankenhaus in Papua-Neuguinea arbeiten soll. Er bittet Petra, trotz des großen Altersunterschieds, seine Frau zu werden und lädt ihre Familie ein zu einem ersten Kennenlernen vor der Verlobung.
Als sie eintreffen, erkennt Gretel, dass der erwartete Schwiegersohn niemand anders als der Vater ihres Sohnes ist. Der seit seiner Geburt erwartete Tag - aber wie ganz anders!
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum14. Juni 2016
ISBN9783740736606
Die Lüge: Roman
Autor

Wilma Klevinghaus

Wilma Klevinghaus, geboren 1924 als Bauernkind in der Pfalz. Nach dem Besuch der Volksschule zunächst im elterlichen Betrieb tätig, mit 17 Jahren Eintritt in die Abschlussklasse der Mittelschule und danach Besuch der Lehrerbildungsanstalt. Nach dem Examen 1945 Lehrerin in mehreren pfälzischen Volksschulen bis zur Heirat 1951. Bis 1957 mit ihrem Mann im Sauerland, dann bis 1984 in Düsseldorf, seitdem in Erkrath wohnhaft.

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    Buchvorschau

    Die Lüge - Wilma Klevinghaus

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Kapitel 52

    Kapitel 53

    Kapitel 54

    Kapitel 55

    1

    „Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich geh nochmal ins Städtchen."

    „Ins Städtchen – auf einmal? Du sagst doch, das Nest hier ödet dich an!"

    Nicht nur das Nest hier, auch du selbst, dein ewiges Betütteln und das Bewundern meiner Schwestern, denkt er. Aber so höflich ist er immerhin, das nicht auszusprechen. Und außerdem: was ödet ihn nicht an, wenn er ehrlich ist?

    „Was hast du vor?" fragt sie unruhig.

    „Weiß ich nicht. Einfach nochmal raus, den schönen Tag genießen, antwortet er kurz angebunden, „Warte nicht mit dem Abendessen auf mich!

    „Dein vorletzter Urlaubstag! jammert die Mutter, „Übermorgen musst du schon wieder an die Front!

    Er achtet nicht darauf, verschwindet einfach, durchstreift ziellos das kleine Städtchen und lässt sich schließlich treiben von den Menschen, die zum Marktplatz vor dem Rathaus strömen. Gelangweilt lässt er sich auf eine der Bänke unter den alten Linden nieder, die ihn umgeben. Typisch Kleinstadt, denkt er mit der Überlegenheit des Großstädters. Aber eigentlich sehnt er sich nicht nach Düsseldorf zurück, der Stadt, in der er aufgewachsen ist.

    Ein einzelnes Mädchen fällt ihm auf. Zum zweiten oder dritten Mal scheint es nun schon das Kinoprogramm zu studieren. Von Zeit zu Zeit schaut es nervös in eine der kleinen Nebenstraßen hinein, als erwarte es jemand und wendet sich dann wieder der Reklame zu. Schade, denkt er, sieht so nett aus, direkt zum Ansprechen. Wartet aber anscheinend auf einen Andern.

    Plötzlich ein Ruf aus einer Seitenstraße:

    „Hallo, Gretel!"

    Das Mädchen wendet sich um.

    „Elfriede! Endlich!" ruft es, erleichtert oder vorwurfsvoll, schwer zu unterscheiden. Ein blonder Lockenkopf, etwa gleich alt, noch unter zwanzig, schätzt er, erscheint. Sie schießen auf einander zu.

    „Entschuldige, dass ich dich so lang hab' warten lassen, sprudelt die Blonde aufgeregt und noch ganz außer Atem hervor, „Stell dir vor: Lutz ist gekommen! Hat drei Wochen Urlaub: Ich glaub', ich träume!

    Sie fällt Gretel um den Hals, wirbelt sie herum, ist nichts als Freude und Glück.

    „Also nichts mit Kino", hört er Gretel sagen.

    „Kannst du doch hoffentlich verstehen", lacht Elfriede und verschwindet.

    „Viel Spaß!" ruft Gretel hinter ihr her. Aber das hört Elfriede schon nicht mehr. Ratlos bleibt Gretel zurück, schluckt an Tränen, die keiner sieht, macht unschlüssig ein paar Schritte; da ist Heinrich neben ihr.

    „Versetzt?" scherzt er. Sie wirft ihm einen wütenden Blick zu.

    „Haben Sie anscheinend mitgekriegt. Ist aber ein plausibler Grund. Und geht Sie im Übrigen einen Dreck an, verstanden?"

    „Verstanden", antwortet er und weicht nicht von ihrer Seite.

    „Ich bin nicht so eine, wie Sie sie suchen. Hauen Sie gefälligst ab", fährt sie ihn ärgerlich an.

    „Woher wissen Sie, was für eine ich suche?"

    „Na, was für eine schon? meint sie wegwerfend. „Sie scheinen keine gute Meinung von deutschen Soldaten zu haben, erwidert er.

    „Sind Sie denn einer?" fragt sie mit einem misstrauischen Blick auf seinen Zivilanzug.

    „Wollen Sie mein Soldbuch sehen?" lacht er und greift nach seiner Jackentasche.

    „Ach nein; ich glaub' Ihnen auch so, sagt sie verlegen, „Sind Sie hier im Lazarett?

    „Seh' ich so aus? Ich bin kerngesund. Bin nur auf Urlaub hier. Meine Familie ist hierher evakuiert. Nachdem sie in Düsseldorf ausgebombt wurde."

    „Ausgebombt? Sie auch? Ich komme aus Ludwigshafen."

    „Und wohin gehen Sie jetzt an diesem herrlichen Nachmittag?"

    „Wahrscheinlich nach Hause. Was sonst? Ins Kino lassen sie mich jetzt nicht mehr hinein. Die sind immer recht sauer, wenn dauernd noch Leute „Sind Sie denn noch Schülerin oder schon Studentin?" Sie lacht.

    „So was Feines bin ich nicht."

    „Was heißt hier: Feines? Sind Sie denn schon berufstätig?"

    „Genau."

    „Da haben Sie aber schon früh Feierabend", staunt er.

    „Dafür muss ich allerdings auch schon um sieben im Büro sein. Der Chef will, dass wir zur selben Zeit da sind wie die Arbeiter."

    „Aber das heißt doch nicht, dass Sie jetzt schon nach Hause müssen, Sie könnten zum Beispiel noch ein bisschen spazieren gehen. Mir das Städtchen zeigen."

    „Bin doch selber fremd."

    „Ist doch nicht schlimm. Da können wir ja gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen", schlägt er vor.

    Sie zögert. Eigentlich ist er ihr nicht gerade unsympathisch. Sieht auch nicht aus wie einer, der ein Abenteuer sucht. Eher wie einer, der sich langweilt.

    „Warum eigentlich nicht", sagt sie mehr zu sich selbst als zu ihm und wundert sich dann über ihren eigenen Mut,.

    „Vielleicht auf den Burgberg. „Ist eine herrliche Aussicht da droben. Bei gutem Wetter sieht man bis zum Odenwald."

    Sie führt ihn den Weg, den fast alle um diese Zeit zu gehen scheinen.

    „Wie friedlich das alles aussieht, sagt sie, als sie das Städtchen hinter sich gelassen haben, „So schön und doch so bedroht.

    „Nicht nur die Schönheit. Alles ist bedroht, antwortet er, froh, ein Thema gefunden zu haben. „Manchmal denke ich, sagt sie leise, „dass die schlimmste Bedrohung die aus uns selber ist."

    „Hören Sie auf! Um Himmels willen", fällt er ihr erschrocken ins Wort. Sie lacht bitter.

    „Keine Angst. Ich werde keine Wehrkraftzersetzung treiben, wenn Sie das fürchten. Ich meine es ganz allgemein: dass wir nämlich nicht nur andere, dass wir auch uns selbst zerstören, jeder Einzelne vielleicht unerkannt und sicher oft unbewusst, aber unausweichlich ..."

    „Nicht so pessimistisch, Gretel!" wehrt er ab und spürt doch beglückt, dass da jemand ist mit denselben Gedanken und Ängsten wie er.

    „Woher wissen Sie meinen Namen?" fragt Gretel erstaunt.

    „Ich habe doch Ohren. Elfriedes Ruf war nicht zu überhören. Sie sind also ein Gretchen."

    „Gretel, nicht Gretchen. Nur alte Frauen heißen heute noch Gret-chen."

    „Mir fielen dabei eben Faust und Gretchen ein."

    Sie sieht ihn fragend an.

    „Kennen Sie nicht? Goethes Faust ..."

    „Nein, gesteht sie verschämt, „Goethes größtes Drama, meinen Sie das?

    Er nickt.

    „Den Namen kenne ich natürlich, fährt sie fort, „Den hat doch jeder in der Schule gelernt. Aber gesehen oder gelesen habe ich Faust noch nicht. Würde ich mir auch nicht zutrauen. Ist was für Gebildete, solche wie Sie wahrscheinlich einer sind. Aber nicht für mich. Ich bin zu ungebildet dazu. Vielleicht auch zu dumm.

    „Genau wie Fausts Gretchen, lacht er, „Die dachte das auch. Und sah doch mit ihrem schlichten Herzen tiefer als er mit seinem alles ergründen wollenden Verstand.

    Sie findet keine Antwort.

    „Faust und Gretchen, fährt er fort, „Ist das nicht ein Zufall? Du heißt Gretchen und ich heiße Faust. So ähnlich wenigstens. Aber mein Vorname ist genau der des Doktor Faust: Heinrich.

    „Und die Nachnamen? Wie heißt Gretchen mit Nachnamen?"

    „Das verriet uns der Herr Goethe leider nicht. „Aber ich, falls du das meinst, - ich habe nur zwei Buchstaben mehr als Doktor Faust: Fausten." Er schiebt seinen Arm unter den ihren.

    „Du kannst ruhig Heinrich zu mir sagen" flüstert er fast und zieht sie näher an sich heran. Sie lässt es verwirrt geschehen. Noch nie hat ein Bursche, ein junger Mann sie so berührt.

    „Ich glaube, hier haben sich zwei gefunden, die zu einander gehören", wagt er einmal zu sagen.

    „Ist das nicht doch noch etwas zu früh, so etwas zu sagen? versucht sie, abzuwehren, „Wir kennen uns doch erst so kurz.

    „Mir ist, als habe ich dich von Anfang an gekannt" gibt er zurück und zieht sie fester an sich heran. Eng umschlungen gehen sie weiter, als seien sie sich niemals unbekannt gewesen. Sie plaudern, erzählen, wechseln zwischen Lustigem und Ernstem. Von ihren Träumen sprechen sie nicht. Weder von ihren Albträumen noch von denen für ihre Zukunft. Wahrscheinlich haben sie beide in dieser Stunde keine. Weil diese Stunde selbst wie ein Traum ist. Herausgerissen aus Raum und Zeit, eingetaucht in eine scheinbare große Harmonie und einen Frieden, von dem sie sich nicht zugeben, wie unwirklich er ist.

    Überall auf dem Burgberg küssende Paare, scheu oder übermütig an Bäume oder zwischen die bemoosten Mauern gekuschelt, die meisten Männer in Uniform. Immer hat Gretel bisher solche Mädchen insgeheim beneidet. Hat kaum noch zu hoffen gewagt, dass auch sie sich einmal so in die Arme eines Mannes schmiegen dürfte. Nie hat sich bisher ernsthaft einer für sie interessiert. Zu Hause, im Beruf: immer war sie die Fleißige, Verlässliche, mit der man rechnen konnte und die man brauchte. Tat immer ihre Pflicht, manchmal auch ein bisschen mehr, nie weniger. Muss schön sein, geliebt zu werden, denkt sie und dann mit klopfendem Herzen: Ob das Liebe ist, dieses Aufregende, das ihr den Atem zu rauben droht?

    Noch nie hat sie so etwas gespürt. Und da kommt so ein Fremder daher, lädt sie zu einem kleinen Spaziergang ein und ihr ganzes Herz pulst ihm entgegen.

    Und auch über ihn kommt es mit einem Mal, dass er glaubt, die Liebe habe ihn ergriffen. Bei ihm allerdings nicht zum ersten Mal. Bisher jedoch war das nur wie ein flüchtiges Ahnen, nichts Bleibendes. Dies hier ist anders als bei all den Mädchen, mit denen ich mir bisher zu spielen erlaubte, ist er sich plötzlich gewiss und erschrickt beinah bei dem Gedanken und bei der Art, wie sie es geschehen lässt, dass sie immer enger an einander rücken.

    „Gretel, sagt er zärtlich und sie hört es beglückt, „Gretel, du Liebe ...

    „Heinrich", haucht sie. Er drückt sie fester an sich.

    „Frierst du? fragt er, „Du zitterst ja.

    Sie wischt sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. Aber da ist keine Haarsträhne, die sie zurück drängen müsste, da ist nur noch Sehnsucht - und vielleicht etwas Anderes. Eine dunkle, unerklärliche, nie so gespürte Angst. Eine Angst, die aber überstrahlt wird von diesem Andern, Neuen, dem Unerklärlichen...

    „Frieren, lacht sie, „Mir ist eher heiß.

    „Aber der Wind ist kühler geworden", sagt er besorgt und legt zärtlich seinen Arm um ihre Schultern. Dass doch dieser Augenblick nie aufhören möchte, denkt sie und schließt die Augen.

    „Wir haben uns noch so viel zu sagen, stellt er fest. Und das ist keine Lüge, „Aber wir haben nicht viel Zeit. Übermorgen muss ich wieder zur Front. Bleibt uns nur noch ein einziger Tag, vielleicht nur ein paar Stunden ...

    Und leise, fast flüsternd, mehr zu sich selbst:

    „Und eine Nacht. Vielleicht auch zwei."

    Er sucht nach ihrem Mund und spürt, wie ihre Lippen sich öffnen, erstaunt und wie unbewusst Spürt, wie eine Welle von Zärtlichkeit ihre ganzen Körper durchflutet.

    „Halt mich fest", keucht er.

    Und sie möchte doch von ihm gehalten werden bis an das Ende der Welt. Er schließt die Augen. Spürt die Wärme ihres jungen Körpers. Und ein alles andere übersteigendes Drängen zu ihr hin.

    „Gretel, flüstert er nach einer Weile, die ihm unendlich erscheint. „Übermorgen muss ich wieder zur Front ... Und ich habe noch nie eine Frau ... Würdest du sie erste sein? Die erste und ... Einen Auenblick zögert er; dann bricht es aus ihm heraus: „Und die einzige? Und als sie nicht antwortet; „Jezt weiß ich: Ich liebe dich doch. Vom ersten Augenblick an, als ich dich sah. Nein, eher schon! Ich glaube, ich habe dich immer geliebt. Gesucht und geliebt. Und endlich gefunden. Spürst du das nicht?

    „Heinrich", schluchzt sie und überlässt sich dem Streicheln seiner Hände und einer neuen Flut von Küssen ...

    Seligkeit und Angst, beide in einander verschlungen wie sie selbst. Keine Fragen. Was jetzt geschieht, geschehen wird, geschieht jenseits von Denken und Wissen. Ist nicht geplant, kommt über sie wie eine Urgewalt. Sie suchen beide mit den Augen nach einem Platz, der verschwiegen genug ist, das Stöhnen ihrer schmerzlichen Lust zu bewahren. Kriechen fast lautlos unter einen dichten Holunderbusch eines leicht verwilderten Gartens vor ihnen. Sie halten den Atem an und gehen auf Zehenspitzen, als fürchteten sie, mit ihren Schritten etwas sehr Großes, vielleicht sogar Heiliges zu zertreten ...

    Über der Haardt neigt sich die Sonne und versinkt fast unmerklich. Schatten, ins Ungewisse wachsend, hüllen bald den Burgberg ein. Die Zeit bleibt nicht stehen, weil zwei Menschen in die Mitte der Seligkeit eintauchen ...

    Unten im Städtchen schließt das Kino. Ein Film von Heldentum und Liebe. Die Liebenden auf dem Burgberg fragen nicht danach. Sie fragen nach nichts. Die Fragen werden später kommen ...

    Jäh bricht die Wirklichkeit über sie herein. Die Sirenen heulen. Wieder einmal.

    „Fliegeralarm!" sagt Gretel kreidebleich. Er hält ihr den Mund zu. Sie zittert, als sie sich mit einem Ruck von ihm löst und hastig sich anzukleiden beginnt.

    „Lass doch die Welt untergehen", flüstert er.

    „So schnell geht sie nicht unter", antwortet Gretel bitter.

    Heinrich bringt seinen Anzug in Ordnung.

    „Kommst du mit mir in unsern Stollen? fragt Gretel. „In Zivil lassen sie dich sicher hinein.

    „Besser nicht, antwortet er, „Aber wir müssen uns wiedersehen, morgen. Unbedingt! Es geht um unser Leben.

    Nach Dienstschluss, vereinbaren sie. Schon im Laufen ruft sie ihm zu:

    „Nicht am Büro selbst. Lieber am Kino. Das kennst du ja. Vor der Reklame. Kurz nach fünf!" Sie rennen nach verschiedenen Seiten. Überall Menschen, die den Berg hinunter hasten. Lichtfinger greifen bereits in den Himmel, kreuzen, bündeln sich. Wird eine heiße Nacht werden, denkt Heinrich, während er sich dem Städtchen nähert.

    Schade, denkt Gretel und winkt rasch im Gehen.

    2

    In den Städten gibt es Bunker, in die alle hasten, die ihre Beine gebrauchen können, so bald die Sirene ertönt. In den Dörfern und Kleinstädten bleibt keine andere Zuflucht als die Keller oder manchmal alte Stollen, die von irgendwelchen Vorfahren vor langer Zeit in die Erde getrieben wurden, weiß einer, wozu. Auch in Dürnstein hat man rechtzeitig vor dem Ausbruch des Krieges ein paar solcher Geheimgänge entdeckt und der Bevölkerung zur Verfügung gestellt.

    „Was ist denn mit dir los? fragt die Nachbarin, die ihr den Platz im Stollen freigehalten hat, „Du zitterst ja. Bist du krank oder hast du auf einmal Angst? Alle sagen sie hier Du zu ihr, tun so, als hätten sie sie schon von Kindesbeinen an gekannt. Oder als sei sie noch ein Kind.

    „Quatsch, sagt Gretel, „Bin bloß so gerannt.

    „Wo warst du denn so lange? hakt die Mutter ein, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, „Das Kino ist doch längst zu Ende.

    „Spazieren. Das schöne Wetter ausnützen. Darf ich das nicht?" gibt Gretel schnippisch zurück.

    „Oh," grinst die Nachbarin.

    „Stille Wasser gründen tief, frozzelt eine andere Frau und stößt Gretels Mutter an, „So fängts an. Ganz heimlich still und leise, Passen Sie auf! Die mausert sich.

    Von draußen dringt Fluggetöse herein.

    „Die sind schon über uns", sagt jemand.

    Die ersten Detonationen.

    „Das kann nicht weit von hier gewesen sein, vermutet eine Stimme, „Nicht in Ludwigshafen, aber wahrscheinlich auch nicht direkt hier.

    Einige Kinder wimmern.

    „Die tun uns doch nichts, versucht eine Mutter sie zu trösten, „Unsern Stollen kriegen sie nicht klein. Schlaf ruhig weiter!

    Aber wie kann man ruhig weiter schlafen in solcher Nacht? Aus dem ersten Schlaf gerissen, über die dunklen Straßen gehetzt, aufgescheucht wie junge Hasen sind sie fast alle. Vergebliche Mühe, sie zu beruhigen.

    Wie im Traum erkennt Gretel ihre Geschwister und nimmt wie gewöhnlich Katja und Detlef in den Arm, versucht leise, ein Wiegenlied zu singen. Ist ja schließlich nicht die erste Nacht, die sie im Bunker verbringen. Die Kleinen klammern sich an die große Schwester wie so oft. Lauschen und hoffen, zittern und versuchen, dabei ein zu schlafen. Einmal wird die Müdigkeit sie übermannen, weiß Gretel aus Erfahrung.

    „Scheinen weiter zu fliegen, stellt jemand fest, „Wahrscheinlich haben wir nochmal Glück. Aber die armen Menschen in Ludwigshafen!

    „Freut euch nicht zu früh! Die sind noch nicht zurück, jammert eine Frau, „Das bedeutet nichts Gutes. Heute Nacht habe ich geträumt, sie hätten hier Brandbomben geworfen und halb Dürnstein habe gebrannt. So ein klarer, deutlicher Traum. Ich fürchte, das ist wirklich eine Warnung. So etwas gibt es doch!

    „Mein schöner Teppich und meine guten Möbel! jammert eine andere Stimme, „Wenn ich daran denke, dass das alles ...

    Und ärgerlich weist eine andere sie zurecht:

    „Wenn du jetzt schon so flennst, wenn jemand anderes so etwas nur träumt, was willste dann erst machen, wenn es wirklich geschieht? Jeden kann es treffen. Schämen solltest du dich! Es geht um Sein oder Nichtsein unseres Volkes in diesem Krieg - und du bibberst vor Angst, wenn du dir nur vorstellst, einen Teppich zu verlieren!"

    Stille. Niemand wagt eine Erwiderung.

    Einige Hände falten sich in solchen Nächten heimlich oder auch gelegentlich laut zum Gebet. Bei manchen ist es nicht mehr als ein stummes Schreien ohne Hoffnung auf Erhörung. Beten fällt schwer, wenn man aus der Übung gekommen ist, vielleicht sogar darüber gespottet hat, wie es Mode war in den letzten Jahren und jetzt erst recht propagiert wird. Andere flüstern miteinander. Irgendwie muss man die Zeit doch totschlagen, wenn man nicht schlafen kann.

    „Hast du schon von dem Polen gehört?" tuschelt jemand hinter Gretels Rücken. Nicht zu ihr; aber die Stimme ist ihr nicht fremd. Rosa, die Vorlaute, eins der wenigen Mädchen, die sie hier kennt. Aber wer kennt diese Rosa nicht? Jede Neuigkeit weiß sie zuerst und gibt sie weiter, am liebsten im Bunker. Da ist es so schön schaurig, genau richtig für Gruselgeschichten.

    „Von welchem Polen?" fragt eine andere, noch junge Stimme. Rosa kichert.

    „Frag doch nicht so dumm! Von welchem schon? Du weißt genau: von dem Polen vom Untergassen-Bäcker. Dem schönen Wladim. Der die Anneliese im Schlaf überfallen hat."

    „Sag bloß, du glaubst das. 'Wenn meine Tochter mir mit einem Bankert ankommt, die schlag ich eigenhändig tot', soll der August einmal gesagt haben. Und der wär' dazu imstande! Klar, dass die Anneliese sich da eine Geschichte ausdenken musste, wenn ihr ihr Leben lieb ist. Dem August möcht' ich auch nicht in die Hände fallen in so einer Situation. Aber so kann er die Anneliese jetzt sogar nach allen Regeln der Kunst bedauern. Vergewaltigt, das arme Ding! Und noch dazu von einem Polen. Einem von diesen Untermenschen, die unsere germanische Rasse bedrohen! Nur komisch, dass die Anneliese das alles erst ein paar Wochen später erzählte!"

    „Meinst du wirklich, es war ein anderer?"

    Wieder dieses hässliche Kichern.

    „Du dürftest so ziemlich der einzige Mensch sein, der darauf hereingefallen ist außer dem August. Für so dumm hätt' ich dich nicht gehalten, nee."

    Katja, die Neunjährige, zuckt im Schlaf. Speichel fließt aus ihrem Mund. Sie versucht, mit den Armen um sich zu schlagen. Gretel hält sie fest.

    „Schlaf schön weiter", murmelt sie ihr ins Ohr.

    „Was ist los?" fragt die Mutter. Sie sitzt ihr gegenüber, an Martin gelehnt, ihren ältesten Sohn. Schwer zu sagen, wer wen zu stützen vermag. Mit fast fünfzehn ist einer so gut wie erwachsen in dieser Zeit.

    „Nichts Besonderes", beruhigt Gretel.

    Und zu Katja wie beschwörend:

    „Schon gut, lass die Andern erzählen!"

    Und weiter streichelt sie Katja und Detlef. Nicht alle haben im Grauen des Krieges das Streicheln verlernt ...

    „Und was ist jetzt mit dem Polen? fragt hinter Gretel eine Stimme aufgeregt, „Man kann doch nicht einfach einem Menschen so etwas nachsagen!

    Wieder dies böse Lachen.

    „Kann man wohl. Sogar unter Eid, wenns drauf an kommt."

    Auch im Flüsterton schlägt die Erregung durch. Und wieder Rosas harte Stimme:

    „Wer fragt denn nach so einem? Ist doch bloß ein Pole ... Was soll mit dem schon sein? Abgeholt haben sie ihn heute Morgen."

    Und wieder erschrocken die andere Stimme; Angst schwingt darin und eine Spur Menschlichkeit:

    „Zum Prozess?"

    Rosa lacht. Wieder dies hässliche Lachen, bei dem einen beim Hören schon friert.

    „Prozess? äfft sie nach, „Wie ich den August kenne und bei seiner Freundschaft mit dem Ortsgruppenleiter, nur einen kurzen. Einen ganz kurzen.

    „Mein Gott!"

    Stöhnte jemand hinter ihr oder entsprang das Stöhnen nur ihr selbst? Gretel zuckt zusammen, löst ihre Hand von Detlefs Schulter und schlägt sie vor die Augen.

    „Mein Gott! Wohin sind wir hier geraten? In welch einer Welt leben wir?" schreit sie lautlos auf.

    Eine neue Detonation draußen, heftiger als die vorherigen. Aufschreie aus verschiedenen Kehlen. Gretel klammert sich an die Nachbarin, über deren Dummheit oder Einfalt sie sich sonst gelegentlich amüsierte. Sie weiß nicht, wer das Mädchen ist, dem Rosa die Sache mit Anneliese und dem Polen erzählte. Die Einheimischen scheinen sich fast alle unter einander zu kennen. Sie selbst wird hier nie heimisch werden, spürt sie. Ist nur geduldet. Aufgenommen auf Befehl, wie so Vieles in diesen Zeiten nur auf Befehl geschieht. Notgedrungen, nicht aus Erbarmen ...

    Und sie ahnt, dass so wie in diesem Bunker in Dürnstein auch an anderen Orten Menschen reden. Auch in Ludwigshafen und ...

    Einzig die Kinder überhören das Sirren und Bersten der fallenden Bomben und schlafen. Obwohl es ziemlich nah zu sein scheint heute.

    „Notabwürfe, vermutet jemand, als es wieder stiller wird, „Der Angriff gilt bestimmt wieder Ludwigshafen.

    „Oder Mannheim."

    Wie man sich damit beruhigen kann, denkt Gretel, dass man selbst weiter lebt, während andere

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