Der stille Befehl: Widerstand und Opfergang einer bürgerlich und christlich geprägten Familie im NS-Staat 1933 bis 1945
Von Stephan Kessler
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Über dieses E-Book
Stephan Kessler
Der Autor Stephan Kessler ist 1947 in München geboren, wo er auch lebt. Der gelernte Speditionskaufmann arbeitete unter anderem auch beim Freistaat Bayern. Von Jugend an schreibt er Gedichte und machte Lichtbilder, mit denen er seine Bände illustriert. Diesen Band gestaltet er mit seinen Mandalas aus. Er befasst sich auch mit Computerkunst und der Gesangskunst als Solist und im Chor. Literarische Prosatexte verfasst er erst in neuerer Zeit. Seine Werke sind begründet auf seiner Lebenserfahrung.
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Buchvorschau
Der stille Befehl - Stephan Kessler
INHALT
Gedicht „Gefährten" von Albrecht Haushofer
0 Persönliche Vorbemerkungen.
1 Einleitung
Kurze Zusammenfassung des Inhalts des Buches
1.1 Widerstand
1.1.1 Überleitung
1.1.2 Bestimmungen des Begriffs „Widerstand"
1.2 Diskussion von Widerstandsformen
1.2.1 Kirchlicher Widerstand
2 Leben und Widerstand des Dr. phil. Ernst Keßler.
2.1 Vorbemerkung
2.1.1 Begründung der Beschäftigung mit Dr. phil. Ernst Keßler
2.2 Jugend- und Studienzeit
2.2.1 Kindheit und Jugend
2.2.2 Studium
2.2.3 Promotion – Militärdienst – Staatsexamen – Eine Zwischenbilanz
2.3 Erziehung und Charakterentwicklung
2.3.1 Streng mit sich selbst
2.3.2 Herbe Erfahrungen: stets Wendepunkte im Leben
2.3.3 Wissensdrang: erste Wanderschaft
2.3.4 Reisefreudigkeit
2.3.5 Bekenntnis zur Disziplin
2.4 Die Entwicklung der religiösen Grundhaltung
2.4.1 Gottvertrauen von Jugend auf – Großmutter zum Vorbild
2.4.2 Traumatisches Erlebnis
2.4.3 Ministrantenzeit
2.4.4 Gelebte Frömmigkeit – Resümee
2.5 Im Schuldienst bzw. Ende des Schuldienstes
2.5.1 Beginn des Berufslebens – Verlobung
2.5.2 St. Wendel
2.5.3 Koblenz
2.5.4 Neuß
2.5.5 Köln – München-Andernach
2.6 Dr. phil. E. Keßlers Haltung zum NS-Staat
2.6.1 Angeleitet, der Heimat zu dienen, ohne Hybris Fremdem gegenüber – der Enthaltsamkeit in politischen Dingen verpflichtet
2.6.2 Würdigung der Standfestigkeit Keßlers – Brief aus Israel
2.7 Im Widerstand
2.7.1 Berufung nach Duisburg – Verworrene politische Lage
2.7.2 Direktor Keßlers Ohnmacht
2.7.3 Dr. Ernst Keßler quittiert den Schuldienst – Würdigung seiner Verdienste
2.8 Nach Ende des Schuldienstes.
2.8.1 Familie
2.8.2 Tod
3 Gerda Kessler (geb. Kirchner) – Leben und Widerstand gegen den Nationalsozialismus
3.1 Vorbemerkung.
3.1.1 Das Besondere an Gerda Kesslers Standpunkt zum Nationalsozialismus
3.2 Gerda Kesslers erste Lebensjahre
3.2.1 Ihre Herkunft und Kindheit
3.3 Entwicklung ihrer politischen Haltung
3.3.1 Unvoreingenommen und klug
3.3.2 Ewald Funkes Tod
3.3.3 Der KJVD Barmen
3.3.4 Gerda Kirchners Funktion in der KPD
3.4 Gerda Kirchner im Widerstand
3.4.1 Gerda: bereit zum Widerstand
3.4.2 Gerda Kirchners Gefängnisaufenthalt
3.4.3 Gerda Kirchners psychische Erfahrung des Gefängnisaufenthaltes
3.4.4 Gerdas Träume
3.4.5 Nach der Entlassung
3.5 Nach der Widerstandszeit von Gerda Kirchner – Aus nächster Nähe: Die Münchner Studentenrevolte
3.5.1 Das zweite Gesicht
3.5.2 Beginn der Beziehung mit Wolfgang Kessler
3.5.3 Wolfgang Kesslers Freundeskreis
3.5.4 Wolfgang Kesslers Begegnung mit den Geschwistern Scholl und Alex Schmorell
3.5.5 Der Katastrophe entgegen – die Münchner Studentenrevolte
3.5.6 Bombenangriff auf Kirchners Haus in Wuppertal
3.5.7 Gerda Kirchners Umzug nach Bad Aibling
3.5.8 Hochzeit und Geburt des ersten Kindes
3.5.9 Nachkriegszeit (Neuanfang)
4 Biographie Dr. Ernst Viktor Kesslers einschließlich seiner Tätigkeit im Widerstand
4.1 Vorbemerkung
4.1.1 Die Leistung des Ernst Viktor Kessler im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus
4.2 Ernst Viktor Kesslers Herkunft und Jugend
4.2.1 Ernst Viktor Kessler: die Jahre 1914 bis Oktober 1933
4.3 Ernst Viktor Kesslers Leben während der NS-Herrschaft (1933-45)
4.3.1 Studium und Zwangsmitgliedschaft bei SA und NSDAP
4.3.2 Examina, Heirat und Promotion von Ernst Viktor Kessler
4.3.3 Das Leben von Pater Dr. phil. Alfred Delp S.J. (Erweiterte Kurzbiographie) .
4.3.4 Die Freundschaft zwischen Ernst Viktor Kessler und Pater Alfred Delp
4.3.5 Kesslers Weg in den Kreisauer Kreis mit Hilfe von Pater Delp S. J.
4.3.6 Ernst Kessler und Pater Augustin Rösch S. J.
4.4 Die Verhaftung von Pater Delp
4.4.1 Plötzensee, Gedicht von Renatus Deckert bzw. Delps Festnahme.
4.4.2 Ein „erschütternder" Brief des P. Delp an sein Patenkind
4.5 „Die dritte Idee"
4.5.1 „Die dritte Idee" – Hinführung
4.5.2 „Die dritte Idee" – Zusammenfassung von Kesslers Aufsatz
4.3.7 Die Flucht von Dr. Ernst Viktor Kessler
4.3.8 Antrag des Dr. Ernst Viktor Kessler auf Rehabilitierung und Entlastung bei der Spruchkammer und seine Begründung
4.3.9 Dr. Ernst Viktor Kesslers Wiederzulassung als Anwalt und die Einstellung des Verfahrens der Spruchkammer
4.6 Dr. Ernst Kessler in der Nachkriegszeit
4.6.1 Dr. Ernst Viktor Kesslers weiteres Leben nach dem Kriege (nach 1945) und sein Tod
5 Harald Dohrn und Hans Quecke: Leben, Opposition zum NS-Staat und die Folgen
5.1 Vorbemerkung
5.1.1 Gründe für die Beschäftigung mit Dohrn u. Quecke
5.2 Harald Dohrns Lebenslauf
5.2.1 Harald Dohrns Eltern
5.2.2 Harald Dohrns beruflicher Werdegang
5.2.3 Harald Dohrns Ehen
5.3 Hans Queckes Lebenslauf
5.3.1 Hans Queckes Herkunft
5.3.2 Hans Queckes Geschwister
5.3.3 Hans Queckes eigene Familie
5.3.4 Hans Queckes Werdegang bis zum Verlassen Berlins 1945
5.3.5 Hans Quecke in Bad Wiessee
5.4 Der Lebenslauf des Christoph Probst
5.4.1 Der Werdegang des Chr. Probst bis zum Studium und seine Ehe mit Herta Dohrn
5.5 Harald Dohrns Anfänge oppositionellen Verhaltens zum NS-Staat
5.5.1 Harald Dohrns Verhältnis zu den Nationalsozialisten vor seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit der Weißen Rose
5.6 Die Weiße Rose
5.6.1 Allgemeines über die Weiße Rose
5.7 Christoph Probst und die Weiße Rose
5.7.1 Christoph Probst in der Weißen Rose
5.7.2 Harald Dohrn und die Weiße Rose
5.7.3 Harald Dohrns Untersuchungshaft
5.7.4 Harald Dohrns Freilassung aus der Untersuchungshaft
5.8 Die Freiheitsaktion Bayern FAB
5.8.1 Allgemeines über die FAB
5.8.2 Hans Quecke leiht der FAB den Dienstwagen
5.8.3 Harald Dohrn hört Rundfunkaufruf der FAB
5.9 Harald Dohrns und Hans Queckes Schicksale nehmen ihren Lauf
5.9.1 Harald Dohrns Denunzierung
5.9.2 Ein Herr aus Berlin
5.10 Die Verfolgung Dohrns und Queckes
5.10.1 Verhaftung und Überstellung nach München
5.10.2 Ermordung
5.11 Beurteilung des Geschehens
5.11.1 Ernst Viktor Kesslers eigene Sicht
5.11.2 Waren Dohrn und Quecke Märtyrer?
5.12 Aufklärung der Ermordung
5.12.1 Kessler setzt sich für die Aufklärung ein
5.12.2 Die mutmaßlichen Denunzianten und deren Strafverfolgung
5.12.3 Die Strafverfolgung der mutmaßlichen Mörder
5.12.4 Die Urteile für die mutmaßlichen Mörder
Anschließend:
Quellenverzeichnis bzw. Endnoten aller Kapitel
Inhaltsverzeichnis des Anhangs
Anhang
Literaturverzeichnis
Erklärung der Umschlagcollage
Danksagung
Gefährten
Als ich in dumpfes Träumen heut versank,
sah ich die ganze Schar vorüberziehn:
Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin,
die Hassell, Popitz, Helfferich und Planck –
nicht einer, der des eignen Vorteils dachte,
nicht einer, der gefühlter Pflichten bar,
in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr,
nicht um des Volkes Leben sorgend wachte.
Den Weggefährten gilt ein langer Blick:
Sie hatten alle Geist und Rang und Namen,
die gleichen Ziels in diese Zelle kamen –
und ihrer aller wartete der Strick.
Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt.
Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt.
ALBRECHT HAUSHOFER (Aus den „Moabiter Sonetten")¹
Albrecht Haushofer wurde am 23.4.1945 zusammen mit dreizehn Mitgefangenen auf dem ULAP-Gelände in Berlin-Moabit von SS-Soldaten ermordet. Sein Bruder Heinz fand ihn erst am 12.5.1945 dort auf. In seiner Manteltasche befanden sich 80 Sonette, die er in der Haft im Gestapogefängnis an der Lehrter Straße in Berlin als „Moabiter Sonette" verfasst hatte. Sie wurden 1946 veröffentlicht, gehören zur wichtigsten Lyrik des deutschen Widerstands und gingen mit der genannten Bezeichnung in die Literaturgeschichte ein. Die Originalgedichte fanden 2015 im neu errichteten NS-Dokumentationszentrum in München eine Heimat.
0 Persönliche Vorbemerkungen
Versuche, mich dem Thema Nationalsozialismus zu nähern
Meine Kindheit war, der ich knapp zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, insbesondere von der Rolle meines Vaters geprägt, die er zuvor während der NS-Zeit als Widerständler gegen den Nationalsozialismus eingenommen hatte. Zugleich wurde mir, solange ich zuhause wohnte, immer wieder seine besondere Beziehung zum Jesuitenorden vor Augen geführt, zumal ich schon damals innig christlich glaubte. Dort hatte er viele Freunde, die bei uns ein- und ausgingen. Vor allem kam ich mit den Namen der Jesuitenpatres Augustin Rösch, Alfred Delp, Rupert Mayer in Berührung, die im Widerstand gegen die Nationalsozialisten eine größere Rolle spielten und außer Pater Mayer meinem Vater nahestanden. Pater Augustin Rösch hatte mich getauft, und ich besuchte ihn als 14-Jähriger zusammen mit meinem Vater am Sterbebett. Auch erhielt ich sein Sterbekreuz. Mein Bruder Alfred Sebastian war das Patenkind von Pater Alfred Delp, der von den Nazis zum Tode verurteilt und erhängt wurde. Als ich mit acht Jahren einen schweren Unfall an den Füßen erlitt, wurde für mich zu Pater Rupert Mayer gebetet, der aufgrund einer Kriegsverletzung oberschenkelamputiert war und eine Beinprothese trug. Er hatte als Geistlicher und Prediger den Nationalsozialisten mutig die Stirn geboten, war eingesperrt worden; 1987 wurde er in München selig gesprochen. Das Beten half: Mein Fuß konnte gerettet werden.
Dessen ungeachtet verspürte ich viel später, also etwa seit dem Jahr 2000 immer stärker den Drang, etwas über die Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben, ohne zu wissen, was es sein könnte. Wie ich jetzt, im Januar 2015, nachdem ich die Veröffentlichung „Der stille Befehl..." beinahe fertiggestellt habe, zu wissen glaube, war ich in der Zwischenzeit darum bemüht, in obigem Zusammenhang meine Kindheit und Jugend schriftlich aufzuarbeiten, ohne mir dessen bis vor kurzem bewusst zu sein. Und so entstand der nun folgende Text.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ich musste erst von außen angestoßen werden, über das zu schreiben, was mich in meiner Kindheit und Jugend besonders geprägt hat: Informationen über Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus dem Umfeld meiner Familie. Was die Freundschaft meines Vaters zu Mitgliedern des Jesuitenordens angeht, verlor nach dessen Tod 1993 allmählich an Bedeutung, und dennoch ließ ich dies in meinem Buch nicht außer Acht.
Als ich begann, mich in meinem Umfeld nach weiteren Personen, die sich gegen den NS-Staat stellten, etwas weiter umzusehen, kamen mir außer meinem Vater weitere Verwandte in den Sinn, die mehr am Rande standen. Sie prägten mich zwar schwächer, gehörten vom Hörensagen jedoch auch zu meiner Kindheit und Jugend. Es waren die Namen zweier Onkel: Harald Dohrn und Hans Quecke. Sie wurden von den Nationalsozialisten unter tragischen Umständen getötet. Hinzu kam neben meinem Vater und dessen Vater auch meine Tante Gerda Kessler (geborene Kirchner), die Schwägerin meines Vaters.
Bei meinen Überlegungen, auf welche Art und Weise ich mich den und dem Genannten nähern könnte, kamen mir zwei Geschehnisse zu Hilfe, die mir den erwähnten Anstoß gaben.
Erste Impulse, die in diese Veröffentlichung mündeten
Diese beiden Ereignisse waren ein Brief, den ich erhielt, und eine Reise, zu der ich eingeladen wurde.
Die erste Person, die auf Anfrage mein Interesse an der NS-Zeit aufgriff und mir einen handfesten Vorschlag für eine Arbeit unterbreitete, war eine gute Freundin meiner elterlichen Familie, zu der auch ich selbst einen guten Draht besaß: Baronin Dr. phil. Johanna von Herzogenberg (1921 – 2012), eine Kunsthistorikerin. Sie schrieb mir am 22. Februar 2004 – im Herbst desselben Jahres sollte mein Vorruhestand mit viel freier Zeit beginnen – einen Brief, worin sie zunächst hierauf Bezug nahm.
(Zufällig, sicherlich ungewollt, da sie es andernfalls erwähnt hätte, traf das Datum des Briefes exakt mit dem 61. Jahrestag des gewaltsamen Todes von Hans und Sophie Scholl bzw. Christoph Probst im Jahr 1943 zusammen, die dem studentischen Widerstand Weiße Rose gegen die Nationalsozialisten angehörten, von dem später ausführlich die Rede sein wird.)
Ferner sprach von Herzogenberg an, dass ich noch im Schatten der NS-Zeit geboren wurde und das Thema Widerstand gegen die Nazis und wie der Tyrann Adolf Hitler beseitigt werden könnte, seit meiner frühesten Kindheit groß im Raum stand bzw. ich damit immer verstrickt war. Sie teilte mir ihre Idee mit, wie ich „über bestimmte Personen etwas Neues oder aus einem neuen Blickwinkel erfahren könne, indem ich ganz einfach meine Erinnerungen an jene Zeit und das, was die Menschen erzählt hätten, aufschreiben sollte. Es gebe auch noch lebende Zeitzeugen, die ich befragen könnte, wie meine Tante Gerda Kessler, und sie erinnerte an Hans Quecke. Darüber hinaus nannte sie die „Probstkinder
(also die Kinder des oben erwähnten Christoph Probst), die ich befragen könnte. Das ist im Kern die Botschaft des Briefes.
Was zur Berufung führte
Ich verlasse den Brief hier und nehme Bezug auf die angesprochene Reise. Ihr ging die Einladung dazu von Frau Irmgard Heise, der Mutter meiner Frau Katharina, voraus, die sie in „2/2005 brieflich an mich richtete. Sie forderte mich zur Mitfahrt im Wagen „zur Mai-Konferenz, die immer am Himmelfahrtstag beginnt und 2 – 3 Tage dauert,
auf, mit sich und ihrem Mann, Dr.-Ing. Othmar Heise, nach Kreisau in Polen.
An dieser Stelle sei erklärt, welche Bedeutung das Dörfchen Kreisau (polnisch: Krzyżova) in Niederschlesien im heutigen Polen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hat.
Kreisau gab der von den Nationalsozialisten Kreisauer Kreis genannten Widerstandsorganisation den Namen. Dort betrieb 1940 Helmuth James Graf von Moltke ein Schlossgut, und zusammen mit Peter Graf Yorck von Wartenburg begründete er die genannte Organisation. Der engere Kreis bestand aus etwa zwanzig Personen, die bei drei großen Konferenzen 1942 und 1943 in Kreisau berieten, wie ein Deutschland nach dem Scheitern des Dritten Reiches bzw. einer Liquidierung Hitlers aus politischer, wirtschaftlicher, christlicher Sicht aussehen könnte bzw. es wurde ein Deutschland und dessen politische Führung nach dem Zusammenbruch vorbereitet. [Näheres zum Kreisauer Kreis siehe unten, Abschnitt (4.3.5).]
Mein Vater Dr. Ernst Viktor Kessler (1914 – 1993) hatte einen besonderen Bezug zum Kreisauer Kreis insofern, als er mit den schon erwähnten Jesuitenpatres Alfred Delp (1907 – 1945) und Augustin Rösch (1893 – 1961), beide Kreisauer, nicht nur gut befreundet war, sondern, nachdem er durch Delp in den – äußeren – Kreis gekommen war, insbesondere mit ihm im Untergrund gegen die Nazis zusammenarbeitete.
Und meine Schwiegereltern, Irmgard (* 1937) und Othmar Heise (* 1935), wiederum sind bis in die heutigen Tage hinein „Donatoren" der Freya-von-Moltke-Stiftung für das neue Kreisau und unterstützen das neue Kreisau auf vielfache Weise.
Nach 1989 ging das Gut in eine Stiftung und in ein Internationales Jugendbegegnungszentrum über. Dort wurden zwischen 1989 und 2008 die so genannten Frühjahrskonferenzen abgehalten, wo man sich begegnete und an einem Europa der Zukunft arbeitete.
Zu diesen Zusammenkünften war Frau Irmgard Heise jährlich gefahren.
Das Ehepaar Heise hatte bis zum Wegzug meines Vaters um 1992 vom Augustinum München-Hasenbergl nach Darmstadt großen Anteil an seinem Widerstand gegen die NS-Herrschaft genommen und ließ sich viel davon erzählen.
Das entscheidende Erlebnis
Am Himmelfahrtstag, 5. Mai 2005, kam es für mich zu einem denkwürdigen nachhaltigen Ereignis, das in Bezug auf meine schriftstellerische Tätigkeit im Zusammenhang mit der NS-Herrschaft richtungsweisend sein würde, wie sich jedoch erst später herausstellen sollte.
Am Abend dieses Tages wurde auf dem Gut Kreisau von jungen Polen ein Stück pantomimisch dargestellt, welches Leben und Sterben der Familie Moltke thematisierte. Die Akteure spielten derart authentisch, echt, überzeugend, dass sich zumindest jene Zuschauer, die durch eigene Erfahrung oder mittels Film, Fernsehen, Theater, Literatur die Nazizeit „erlebt" hatten, in sie zurückversetzt fühlten.
Eben dies löste in mir einen so starken Impuls aus, dass ich mich seither unumstößlich und endgültig veranlasst sehe, berufen und beauftragt fühle, zur schriftlichen Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend eine wie eingangs bereits angesprochene, aber nicht zu Ende gedachte Arbeit im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus endlich zu beginnen, zu dem Thema: Widerstand gegen den Nazi-Staat in meiner Großfamilie.
Erst, nachdem ich mit meinem Lektor und literarischen Berater das Thema in allen Einzelheiten ausgeleuchtet und betrachtet hatte, kristallisierte sich der Begriff „Familiengeschichte" heraus, präzisiert gesagt die Schicksale aller Personen meiner näheren Großfamilie, die in irgendeiner Form bei den Nationalsozialisten angeeckt sind.
Findung des Titels
Und so gelangten wir in der Folge auch zu einem das Thema genau abgrenzenden Titel. Dabei kam mir auch mein zwei Jahre älterer Bruder Alfred Sebastian, bekanntlich das Patenkind von Pater Alfred Delp, mit dem Ausspruch „der stille Befehl" zu Hilfe. Diesen hatte Delp in einem der letzten Briefe bzw. Kassiber, die heimlich aus dem Gefängnis geschmuggelt wurden, vor seiner Hinrichtung Anfang Februar 1945 in Berlin-Plötzensee zu Papier gebracht. Dieses Wort bildet den Anfang des Titels, der also lautet:
„Der stille Befehl. Widerstand und Opfergang einer bürgerlich und christlich geprägten Familie im NS-Staat 1933 bis 1945"
„Christlich und nicht „katholisch
wählte ich deshalb, weil die Protagonistin Gerda Kessler, geborene Kirchner, protestantische und nicht katholische Christin war. Dies war mir bis zu ihrem Tod verborgen geblieben und stellte sich erst anlässlich ihrer Trauerfeier heraus, die in einer evangelischen Kirche von einem protestantischen Pfarrer in ihrem Wohnort Bad Aibling, Lkr. Rosenheim, abgehalten wurde. Bis auf diese Ausnahme handelt es sich bei meiner Großfamilie ausschließlich um mehr oder weniger aktive, jedoch zum Teil sehr strenggläubige Katholiken, wie am Beispiel meines und seines Vaters sowie an Hans Quecke zu sehen war.
1 Einleitung
Kurze Zusammenfassung des Inhalts des Buches
In dieser Veröffentlichung geht es um die Konfrontation mit den Nationalsozialisten von fünf Personen der Großfamilie des Autors, die mit ihm bzw. untereinander unmittelbar verwandt oder verschwägert waren, und deren Handeln sich in den Jahren 1933 bis 1945, also in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus, gegen die NS-Diktatur richtete oder die ihr Leben aufopferten. (Siehe hierzu auch die Stammbäume im Anhang.)
Es sind dies: Der Oberstudiendirektor Dr. phil. Ernst Keßler, der zur Zeit seines Widerstandes (1932 bis 1938) in Duisburg lebte, sich hartnäckig und standhaft weigerte, Mitglied der NSDAP zu werden. Er musste schließlich entkräftet 1938 mit nur 54 Jahren den vorzeitigen Ruhestand antreten; (siehe hierzu Kapitel 2). Des Weiteren seine künftige Schwiegertochter, die Bürokraft bzw. Lageristin Gerda Kirchner (später verheiratete Kessler) aus Wuppertal-Barmen, die einer kommunistischen Jugendorganisation angehörte, in der sie sich im Widerstand sehr engagierte. Wegen eines viel weniger schweren Vergehens saß sie 1935 bis 1937 zwei Jahre in Krefeld-Anrath im Gefängnis; (siehe Kapitel 3). Dazu kommt ihr zukünftiger Schwager, der Rechtsanwalt Dr. jur. Ernst Viktor Kessler aus München, Sohn des Dr. phil. Ernst Keßler, opponierte in vielfacher Weise im Untergrund gegen das Regime, unterstützte und verbarg Juden und andere Verfolgte, half ihnen praktisch und juristisch, beging zuletzt Fahnenflucht und musste sich verstecken; (siehe Kapitel 4). Als letztes möchte ich seine Schwäger erwähnen, den Krankengymnasten Harald Dohrn aus Bad Wiessee am Tegernsee, und den Ministerialrat Hans Quecke aus Berlin-Schlachtensee, zuletzt Bad Wiessee. Beide waren selbst miteinander verschwägert, wurden auf tragische Weise Opfer der Nazis, da sie Stunden vor Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren. Harald Dohrn wurde denunziert, Hans Quecke höchstwahrscheinlich verwechselt; (siehe Kapitel 5).
1.1 Widerstand
1.1.1 Überleitung
Die Geschichte der fünf Protagonisten ist Bestandteil der Geschichte des Widerstands gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Da der Begriff des Widerstands allzu häufig unpräzise und missbräuchlich verwendet wird, soll im Folgenden eine Begriffsbestimmung bzw. Eingrenzung versucht werden. Ich nehme hierbei in erster Linie Bezug auf eine Definition im Lexikon des Widerstands 1933 – 1945, das von Peter Steinbach und Johannes Tuchl herausgegeben wurde². Dort ist über den Begriff Widerstand zu lesen:
1.1.2 Bestimmungen des Begriffs „Widerstand"
„In der Regel bezeichnet das Wort W. Reaktionen eines Menschen oder von Gruppen auf Machtmißbrauch, Verfassungsbruch und Menschenrechtsverletzungen. Deshalb erscheint W. immer dann als geboten oder gerechtfertigt, wenn Grundsätze des modernen Naturrechts oder Grundprinzipien einer demokratischen, freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung gegen Übergriffe verteidigt werden sollen. Weil sich W. vor allem auf die Verteidigung einer menschenwürdigen Ordnung bezieht, hängt die innere Anerkennung des W.s von der Formulierung der Grenzen und Ziele des Staates ab, deren Gefährdung und Verletzung widerständiges Verhalten notwendig macht. In der Regel wird W. durch Attribute präzisiert. Dadurch soll deutlich gemacht werden, daß W. als eine Form abweichenden Verhaltens ein breites Verhaltensspektrum abdeckt – vom passiven W. und der Verweigerung über die innere Emigration, den ideologischen Gegensatz und die bewußte Nonkonformität zum Protest, zur offenen Ablehnung und schließlich zur Konspiration, die sich sowohl auf die gedankliche Vorbereitung der Neuordnung nach dem Ende des NS-Staates konzentrieren konnte als auch versuchen mußte, aktiv den Umsturz des Regimes vorzubereiten und durchzuführen... Das Lexikon begrenzt, ebenso wie ich, den Begriff ganz auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur. Peter Steinbach schreibt: „Im Verständnis der Deutschen wird der Begriff W. vor allem durch die Erfahrungen des (!) NS-Zeit bestimmt. W. bezeichnet in diesem Zusammenhang jedes aktive und passive Verhalten, das sich gegen das NS-Regime oder einen erheblichen Teilbereich der NS-Ideologie richtete und mit hohen persönlichen Risiken verbunden war.
³
Kürzer definiert das Politiklexikon von Klaus Schubert und Martina Klein den Widerstandsbegriff: „Widerstand benennt ein politisches Vorgehen, das sich gegen eine als bedrohlich und nicht legitim empfundene Herrschaft wendet. Widerstand kann sich richten gegen Personen (einen Herrscher, Herrschende), eine Herrschaft (Diktatur) oder einzelne Maßnahmen."⁴
Mir persönlich war eine Begriffsbestimmung wichtig, die Dr. Michael Probst (1940 – 2010), der älteste Sohn von Christoph Probst und Herta Probst-Siebler bzw. der Enkel von Harald und Johanna Dohrn in einem Gespräch vom 10. Mai 2009 zu Protokoll gab:
„Meine Definition von Widerstand wird nicht allein durch das, was die Leute selber von sich hielten oder von dem, was sie taten, her definiert, sondern das definierten vor allem auch die Nazis. Für die Nazis war alles Widerstand, was nicht in ihr System, in ihre Ideologie gepasst hat. Insofern kamen auch völlig unschuldige oder harmlose Leute plötzlich dazu, dass sie schwer bestraft wurden, mit all den möglichen Strafen, die die da zu vergeben hatten, bis hin zum Tode für Lappalien. Die Leute selbst hätten sich nicht als Widerstandskämpfer definiert, aber dadurch, dass die Nazis sie so definiert hatten, waren sie welche. Das ist meine Meinung."⁵
1.2 Diskussion von Widerstandsformen
1.2.1 Kirchlicher Widerstand
Die Haltung der katholischen Amtskirche gegenüber der NS-Diktatur
Entsprechend der Haltung der Personen, um die es in erster Linie in diesem Buch geht, steht der kirchliche Widerstand im Mittelpunkt. Informationen darüber entnehme ich dem Buch Widerstand an Rhein und Ruhr 1933 – 1945