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Sammlung der Leidenschaften: Roman
Sammlung der Leidenschaften: Roman
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eBook287 Seiten3 Stunden

Sammlung der Leidenschaften: Roman

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Über dieses E-Book

Leben, Liebe, Leidenschaft - Gesellschaftsstudie mit Herz und unter besonderer Berücksichtigung des männlichen Teils.

"ANDERERSEITS - WOZU IM MANNE INTELLEKT SUCHEN?"
Erste Liebe, erstes Glück? Da hat sich die junge Olessja gehörig geschnitten. Ausgerechnet in den uncoolen Mitschüler und Bücherwurm Tolja verliebt sie sich, und der wagt es auch noch, ihre Liebe nicht zu erwidern. Eine schmachvolle Niederlage! Doch Olessja ist intelligent und selbstbewusst. Sie beginnt sich ernsthafte Gedanken über Leben, Liebe, Leidenschaften zu machen und beschließt, der Übersicht halber eine "Sammlung der Leidenschaften" anzulegen - eine höchst amüsante Studie der ukrainischen Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung des männlichen Teils.

CHARMANTES SPIEL MIT KLISCHEES VERSCHIEDENSTER ART
Ob Bücherwurm, Heavy-Metal-Rocker, Mathedozent oder verarmter Adliger: Die selbstbewusste junge Olessja verleibt sie alle ihrer einzigartigen Sammlung der Leidenschaften ein. Was in Lemberg seinen Anfang nahm, führt Olessja in Freiburg im Breisgau fort. Als Au-pair dehnt sie dort ihre Studien auf deutsche Gutmenschen und italienische Machos aus. Was dabei herauskommt? Ein charmantes Spiel mit Klischees der Nationalitäten, Kulturen und Geschlechter, dass der Leser nur so staunt. In Olessjas Liebesleben geht es indes munter weiter auf und ab.

MULTIKULTURELLER ROMAN VOLLER WITZ UND IRONIE
Natalka Sniadankos Debüt hat in der Ukraine längst Kultstatus erlangt. Mit Charme und viel Humor unterhält sie in ihrem Roman mit den "Geheimnissen des männlichen Herzens", der "Crux des vorehelichen Sex", mit "Windows für Unhöfliche" und einer "Gebrauchsanweisung für eine echte Galizierin" sowie mit einem Diskursversuch zum "Thema Leidenschaft im gesamtnationalen Kontext". Ein multikultureller Roman, der die Lachmuskeln ordentlich strapaziert!

Aus dem Ukrainischen von Anja Lutter
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum16. Feb. 2016
ISBN9783709937310
Sammlung der Leidenschaften: Roman

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    Buchvorschau

    Sammlung der Leidenschaften - Natalka Sniadanko

    Verlag

    Kindliche Leidenschaften

    Wann man damit anfangen sollte und worauf es nicht ankommt

    Tolja war der größte, der dickste und der lockigste Junge in unserer Klasse. Er schämte sich sehr dafür, dass ihm oft das Hemd über seinem Kugelbauch spannte und die Knöpfe seiner Jacke nicht zugingen. Seine Mutter zwang ihn, im Sommer Kniestrümpfe statt Socken unter den Hosen zu tragen, und im Winter lange, von seiner Oma gestrickte Wollstrumpfhosen. Ich fühlte mit ihm, denn meine Mutter zwang mich auch, unter meinem Schulkleid lange Schlüpfer aus grober Wolle zu tragen, die im Volksmund „Reformhosen" hießen und manchmal unter dem kurzen Rock hervorguckten. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein, dass sie hervorguckten; etwas derart Widerliches anziehen zu müssen, konnte einem jedenfalls das Leben vergällen. Ich weiß nicht, was Tolja mit seinen Strumpfhosen machte – ich zog ab etwa der sechsten Klasse meine Unterhosen im Hausflur aus, stopfte sie in den Briefkasten und zerrte sie nach der Schule wieder heraus. Bis meine Mutter einmal früher von der Arbeit kam und meine Reformhosen neben der Zeitschrift ‚Wissenschaft und Leben‘ entdeckte.

    Tolja war sehr schüchtern und wurde jedes Mal rot, wenn ihn unsere Mathelehrerin an die Tafel rief. In den Pausen, wenn alle anderen Jungen in den Hof stürzten, um Fußball zu spielen oder Bockspringen zu machen, suchte sich Tolja eine Ecke, in der ihn keiner sah, holte aus einer Geheimtasche seiner Jacke ein dünnes dunkelgrünes Büchlein hervor und verbrachte die ganze Pause mit Lesen, wobei er versuchte, unbemerkt zu bleiben, da solches Verhalten bei unseren Klassenkameraden kaum Billigung gefunden hätte. Für seine Lektüre verzog sich Tolja meistens in die oberste Etage des Schulgebäudes; dort, in einer kleinen Abstellkammer neben dem Physikraum, war es still und einsam, denn die Physiklehrerin, die den Raum unter ihrer Aufsicht hatte, war der Meinung, die Pausen seien nicht dazu da, dass die Schüler durch die Gegend rennen und herumkrakeelen, sondern dazu, dass die Lehrer sich ausruhen und auf die nächste Stunde vorbereiten können. Deshalb wachte sie streng darüber, dass neben ihrem Raum kein Bockspringen veranstaltet, Gummitwist oder gar Pfänderspiele gespielt wurden. Wer in dieser Ecke die Ruhe störte, konnte ziemlichen Stress bekommen, und manche bekamen ihn auch. Einer dieser Ruhestörer musste sich danach sogar in psychologische Behandlung begeben. Deswegen spielen jetzt alle etwas weiter weg vom Physikraum.

    In der ersten Klasse konnten Tolja und ich das jedoch nicht wissen, weil wir noch keinen Physikunterricht hatten und auch nicht von einem Raum in den anderen zogen wie die älteren Jahrgänge, sondern den ganzen Unterricht in ein und demselben Raum im „jüngeren Trakt absaßen, der dem „älteren Flügel gegenüberlag. Aus unserer ganzen Klasse waren Tolja und ich die Einzigen, die Ausflüge in den „älteren" Flügel unternahmen. Beide hielten wir unter der Schuluniform unsere dünnen dunkelgrünen Büchlein versteckt, und dann stellte sich sogar heraus, dass es sich um zwei identische Bücher mit dem Titel ‚Cosette‘ handelte. Diesen Auszug aus einem Victor-Hugo-Roman erkannte ich dank der Einheitlichkeit der sowjetischen Buchausgaben und der Gleichartigkeit der elterlichen Bücherbestände schon von weitem.

    Ich weiß nicht, warum Tolja und ich für unsere heimliche Pausenlektüre gerade dieses Buch ausgewählt hatten. Heute denke ich, dass unsere Wahl wenig mit kindlicher Romantik zu tun hatte; das Buch war einfach das kleinste und leichteste und dementsprechend am besten unter der Schuluniform zu transportieren. Doch damals schien mir diese Übereinstimmung geheimnisvoll und rätselhaft, und ich sah darin eine versteckte Bedeutung.

    Tolja war der Erste in unserer Klasse, der lesen konnte, und hatte immer die besten Noten in Schönschrift. Er war keineswegs in allen Fächern der Beste und gab den geisteswissenschaftlichen Disziplinen den klaren Vorzug vor den Naturwissenschaften, doch unsere Mitschüler spotteten trotzdem über ihn, wie oft über „künftige Medaillenträger" gespottet wird. Die Jungs nahmen ihn nicht einmal mit, wenn sie den Großen beim Fußball zugucken gingen.

    Am Ende des ersten Schuljahrs sprach Toljas Mutter mit dem Rektor, und er wurde direkt in die dritte Klasse versetzt, damit er unter seinen Altersgenossen, die um etliches kleiner und zierlicher waren als er, nicht so hervorstach. Den Stoff des übersprungenen Schuljahrs holte er über den Sommer nach. Seine Eltern waren Arbeitskollegen von meinen Eltern und kamen hin und wieder zu uns zu Besuch. Einmal fuhren wir in den Sommerferien sogar gemeinsam in Urlaub. In ein Erholungsheim in der Nähe von Odessa, und zwar, wie es damals in Mode war, mit dem eigenen Auto. Die ganze Fahrt über unternahm Tolja immer wieder Versuche, mein Interesse zu wecken, wollte mit mir Schach und Dame spielen oder sich über Bücher unterhalten. Aber uns beiden war derart schlecht, dass unsere Eltern alle halbe Stunde anhalten mussten. Unsere Mütter zerrten uns der Reihe nach an die frische Luft, wo wir uns unseres Mageninhaltes entledigten. Danach stiegen wir wieder ins Auto und hielten vorsichtshalber unsere Spucktüten umklammert, für den Fall, dass wir nicht rechtzeitig würden anhalten können. Infolge dieser Widrigkeiten gelang es uns nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden, und auch die ganzen darauffolgenden Ferien über konnte sich unsere Freundschaft nicht festigen. Zwar versuchte Tolja hin und wieder, mich zum Federballspielen auf dem Gelände des Erholungsheims zu bewegen – seine Familie hatte Schläger ausgeliehen –, doch ich hatte dauernd, und zwar recht bildlich, unsere gemeinsame Autofahrt vor Augen; ich musste daran denken, wie Tolja mir fast meine Shorts besudelt hatte, als er es mit der schon halbvollen Spucktüte in der Hand gerade noch schaffte, aus dem Auto zu springen, und schlug das Angebot aus.

    Außerdem missfielen mir die gelb gepunktete Unterhose, die Toljas Mutter ihm anstelle einer Badehose anzog, und Toljas Bauch, der über die gelb gepunktete Hose hing, zutiefst. Obendrein wurde mir, sobald wir die Schwelle des Speisesaals überschritten, Tolja fortwährend als Vorbild hingestellt:

    „Sieh mal, bekam ich von meiner Mutter regelmäßig bei jeder unserer Mahlzeiten zu hören, „Tolja hat schon alles aufgegessen, und du träumst hier über deinem Teller vor dich hin.

    Mit Tolja, der bei dreißig Grad im Schatten mit dem Ausdruck höchster Wonne zwei Portionen kalte Nudeln verschlang, sie mit warmem Brei aus getrockneten Birnen hinunterspülte, dann an den Strand ging und noch vier Portionen Butterbrot drauflegte, das es beim Frühstück zum Tee gegeben hatte, konnte ich natürlich nicht mithalten.

    Mit einem Wort, Tolja weckte keinerlei Sympathie bei mir, obgleich es in dem Erholungsheim keine weiteren Kinder in unserem Alter gab.

    Selbst wenn ich mich richtig schlimm langweilte, blieb ich standhaft und las, statt zu Tolja zu gehen, in der Zeitschrift ‚Wissenschaft und Lebern‘, die meine Eltern von zu Hause mitgebracht hatten. Weitere Lektüre hatte meine Mutter extra nicht mitgenommen, damit ich mir nicht „die Augen verdarb". Der Augenarzt hatte geraten, ich solle eine Lesepause einlegen, damit ich keine Brille tragen müsste.

    Besonders oft las ich einen Artikel über neue Entdeckungen auf dem Gebiet der Kristallchemie, vielleicht weil er ganz vorn in dem Heft stand, und einmal, als meine Eltern mich wieder einmal nötigen wollten, noch einen Fleischklops zu Mittag zu essen, hielt ich es nicht mehr aus und zitierte: „Der Geokristallchemie als einer neuen Richtung der traditionellen Kristallchemie gebührt oberste Priorität bei der Untersuchung der Mineralentwicklung in den Gesteinsarten verschiedener geologischer Formationen; außerdem spielt sie dank der Erforschung des Isomorphismus sowie des Polymorphismus mit Hilfe röntgenstruktureller, elektronografischer, neutronografischer chemischer sowie einer Reihe physikalischer Methoden unter Berücksichtigung der Energie der Kristallgitter eine wichtige Rolle für die Synthese von Stoffen mit bestimmten gegebenen Eigenschaften. Und ihr haltet euch hier mit solchem Pipifax auf." Damit leerte ich siegesbewusst mein Kompottschälchen, und meine Eltern konnten nur noch verblüfft zusehen, wie Tolja seine Portion Fleischklopse mit Perlgraupen verdrückte.

    Vielleicht war ein Teil dieses Monologs Tolja zu Ohren gelangt, jedenfalls hat er mich nie mehr aufgefordert, mit ihm und den entliehenen Schlägern eine Partie Federball zu spielen. Meine Eltern hielten die Zeitschrift ‚Wissenschaft und Lebern‘ von nun an vor mir versteckt, doch Appetit auf kalte Nudeln stellte sich bei mir dadurch nicht ein.

    Bedauern über meinen jugendlichen Hochmut empfand ich erst einige Jahre später, als mir in der achten Klasse klar wurde, dass ich mich zum ersten Mal verliebt hatte.

    Michael Jackson, die Poesie und der „Süße Mai"

    Im Grunde fiel der Mai dieses Jahres für die weibliche Hälfte unserer Klasse alles andere als süß aus. Es war eine Art Epidemie ausgebrochen. Meine Klassenkameradinnen bildeten drei Parteien: Die eine war bis zur Besinnungslosigkeit in Michael Jackson verliebt, die zweite in George Michael, und die dritte, die kleinste Gruppe, hatte sich zum Objekt ihrer Leidenschaft den Sänger der damals unionsweit angesagten Popgruppe „Süßer Mai" erkoren. Welche der drei Parteien am stärksten litt, ist schwer zu sagen.

    Die Symptome der Erkrankung waren, unabhängig von der Wahl des konkreten Objekts, immer die gleichen. Ausnahmslos alle, selbst die eifrigsten Streberinnen, trugen den Rock der Schuluniform plötzlich deutlich kürzer, hörten auf, die obligatorischen Bänder im Haar zu tragen (an Werktagen hellblau und an Feiertagen schneeweiß), mopsten ihren Müttern Schuhe mit hohem Absatz und zogen diese, auch wenn sie die falsche Größe hatten und ziemlich unbequem waren, erst nach der Schule und später sogar im Unterricht an.

    Die nächste Phase der Krankheit war durch in den unglaublichsten Rosatönen lackierte Fingernägel, dicht getuschte und mitunter auch angeklebte Wimpern sowie fein gezupfte Augenbrauen gekennzeichnet; manche erkühnten sich sogar, Lippenstift in Hellrosa aufzulegen. So sah es in der Schule aus. Nach Schulschluss wurde das Make-up noch um einiges intensiver und ließ mitunter an die Helden von James Fenimore Cooper denken; die Röcke wurden noch einmal stark gekürzt, unter mancher Jacke war überhaupt kein Rock mehr zu sehen; hinzu kamen übermäßige Dosen von Mamas Parfum und die ersten, im Hauseingang gerauchten Zigaretten.

    Das letzte und schwerste Stadium der Krankheit brachte Wände, die vollständig mit Postern aus der damals von sämtlichen Vertretern der entsprechenden Altersgruppe abonnierten Zeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ bepflastert waren, individuelle Postersammlungen, die aus anderen Heften stammten, sowie noch gravierendere äußerliche Veränderungen der Erkrankten mit sich. Alles Weitere hing von der jeweiligen Ausprägung der Erkrankung ab.

    Diejenigen meiner Mitschülerinnen, die eifrig Bilder von Michael Jackson sammelten, färbten sich vorzugsweise die Haare schwarz und ließen sich eine starke Dauerwelle machen. Wer George-Michael-Bilder sammelte, legte weniger Wert auf die Frisur, dafür bemühte man sich in dieser Gruppe darum, dass die eigene Garderobe eine möglichst große Anzahl schwarzer Rollis, Jeans und Jacketts aufwies, die in Kombination mit glatt nach hinten gekämmten Haaren und mehreren Paar Ohrringen getragen wurden.

    Die Bewunderinnen von „Süßer Mai kümmerten sich insgesamt weniger um ihr Äußeres; einesteils folgten sie darin ihren Idolen nach, zum anderen waren ihre Familien im Vergleich zu denen der Mädchen, die dem „westlichen Pop anhingen, materiell schlechter gestellt. Die Anzeichen ihrer Krankheit waren äußerlich weniger deutlich zu bemerken; ein ungeübtes Auge hätte sie sogar für vollkommen normale Jugendliche halten können.

    Dieser allgemeinen Verliebtheitsepidemie entging auch ich nicht, allerdings traten die Anzeichen bei mir etwas später auf als bei allen übrigen Mädchen in meiner Klasse und nicht ganz so, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen, ob der Prozess der sexuellen Reifung bei mir wohl richtig vonstattenging – beziehungsweise ob er überhaupt vonstattenging. Deshalb stürzte ich jeden Morgen, wenn ich aufwachte, als Erstes auf die Toilette, wo ich sorgfältig aus der Jugendzeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ herausgetrennte Poster von Michael Jackson und George Michael sowie einen kleinen Zeitungsausschnitt mit einem Schwarz-Weiß-Gruppenfoto von „Süßer Mai" aufgehängt hatte. Dort versuchte ich mir darüber klar zu werden, beim Anblick welches dieser Männer mein Herz schneller schlug.

    Da ich mich für meine verzögerte Entwicklung schämte, begann ich den Prozess künstlich zu stimulieren und dachte im Laufe des Tages der Reihe nach gezielt an jeden Einzelnen der Anwärter auf mein Herz. Eine Zeitlang tröstete ich mich damit, dass die Objekte meiner Zuneigung mir erst noch vertrauter werden müssten; dann versuchte ich es damit, die Toilette jeden Morgen zweimal aufzusuchen: einmal vor und einmal nach dem Frühstück, da ich mir dachte, dass die Liebe auf leeren Magen vielleicht langsamer wirkt als auf vollen. Binnen kurzem hatte ich mir einen regelmäßigen Rhythmus eingerichtet – alle halbe Stunde –, doch das führte lediglich dazu, dass meine Mutter sich erkundigte, was mit meinem Magen los sei, und mich zwang, irgendwelche Tabletten einzunehmen. Allerdings schlug mein Herz beim Anblick des Frühstücks ohnehin höher, als wenn mein Blick auf einem der Objekte der heißen Liebe meiner Klassenkameradinnen ruhte.

    Die Situation wurde kritisch, als eines Tages in der Schulkantine mein Blick zufällig auf Tolja fiel und ich merkte, dass mein Herz anfing zu rasen, als wäre ich gerade zur Straßenbahn gespurtet, die eben abfahren wollte. Erst traute ich meinen Augen nicht und schaute mir meinen ehemaligen Klassenkameraden, der gerade im Begriff war, die dritte Portion Würstchen mit Kartoffelbrei zu verdrücken, ein wenig genauer an. Doch je gieriger er sich das Sauerkraut in den Mund stopfte, von dem ihm kleine Stückchen am Kinn klebten, desto stärker wurde mein Verlangen, ihm dabei zuzuschauen, ich konnte den Blick nicht abwenden. Dazu muss ich sagen, dass Tolja in der Zeit unseres Heranwachsens beträchtlich an Körpergröße gewonnen, sich ansonsten aber kaum verändert hatte. Er war immer noch der Größte in der Klasse, sein runder Bauch hing immer noch über den Ledergürtel seiner Schuluniform, er lief in jeder Pause in die Kantine und spielte nie mit seinen Mitschülern Fußball. Jetzt trug er, inzwischen ganz offen, ein dickes Buch überall mit sich herum, sogar in der Kantine – ‚Quentin Durward‘ von Walter Scott –, und nutzte jede freie Minute, um zu lesen; selbst die Zeit, in der er darauf wartete, dass ihm das Tablett mit dem dampfenden Kartoffelbrei und den Würstchen gereicht wurde. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Tischnachbarn diese Zeit dazu nutzten, einander mit den Ellbogen zu traktieren, um den, der am Rand saß, von der Bank zu schubsen. Immer wenn einer zu Boden ging, erscholl am Tisch lautes, schadenfrohes Gelächter. Tolja mit den Ellbogen zu schubsen trauten sie sich nicht, wohl wegen seines soliden Körperbaus, denn mit ein bisschen Kraftaufwand hätte er sie alle miteinander von der Bank gefegt. Just zu der Zeit las auch ich gerade ‚Quentin Durward‘, allerdings heimlich und zu Hause, denn erstens hatte der Augenarzt mir wieder verboten zu lesen, und zweitens war das Buch zu schwer, um es neben all den Schulbüchern noch mitzuschleppen. Doch diese neuerliche geheimnisvolle Übereinstimmung ließ mein Herz schneller schlagen.

    Ich saß in der Falle. Aus dieser Situation würde ich ohne den Verlust meiner Würde nicht wieder herauskommen. Bis jetzt hatte ich mich bloß für meine Rückständigkeit vor meinen Mitschülerinnen geschämt, die sich jeden Morgen besorgt erkundigten: „Nun sag schon endlich, welcher dir gefällt! Meine Versuche, mich in eins der allgemein anerkannten Idole zu verlieben, wurden nämlich von der gesamten weiblichen Hälfte unserer 8 a gespannt verfolgt. Ich schlug dann die Augen nieder und musste bekennen: „Keiner. Ich war kurz davor, den letzten Rest an Achtung einzubüßen, man fing schon an, mich für zurückgeblieben zu halten. Doch nun wurde alles noch schlimmer. Indem ich Tolja zum Objekt meiner ersten Liebe erwählt hatte, hatte ich mein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Mit dieser Wahl konnte ich bei keiner meiner Freundinnen auf Verständnis rechnen – diese Geschmacksverirrung, diese absolute Ignoranz gegenüber dem Wesen männlicher Schönheit, diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Spiel starker Muskeln und dem von einer eng sitzenden Hose umspannten Sinnbild der Männlichkeit in Kombination mit der sanften Erotik eines geschmeidigen Timbres, einer prachtvollen Frisur und zahlreichen Ringen im Ohr. Mit dieser Wahl war meine vollkommene Unfähigkeit in Sachen weiblicher Solidarität endgültig zutage getreten, denn so wie es alle machten, wollte es bei mir nicht klappen.

    Mein Erwählter hatte eine Figur, als hätte er dreißig Jahre einen Großbetrieb geleitet, und es war offensichtlich, dass nicht einer seiner Muskeln je mit einem Expander Bekanntschaft gemacht hatte, von Hanteln oder Gewichten gar nicht zu reden.

    Während ich mir, wenngleich unter größten Schwierigkeiten, immerhin vorstellen konnte, meiner besten Freundin zu gestehen, dass ich außerstande war, mich in Michael Jackson zu verlieben, so würde ich es doch niemals, nicht einmal unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit, fertig bringen, dieser Freundin zu erzählen, dass ich in Tolja verliebt war.

    Erstens hätte sofort die ganze Schule davon erfahren, denn welche Freundin kann so etwas schon für sich behalten. Zweitens, und das war das Schlimmste, hätte auch Tolja davon erfahren. Und das hätte ich auf keinen Fall überlebt.

    Die einzige Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen, ohne meine Ehre zu verlieren, war der Selbstmord. Doch bevor ich mich zu einem so schwerwiegenden Schritt durchrang, beschloss ich, meinen Kummer in Verse zu gießen. Mein erstes Werk hieß ‚An dich‘:

    An dich muss ich immer denken

    An dich will ich mich verschenken

    Kann weder schlafen noch essen

    Nie werd ich dich vergessen

    Du bist so stark und schlank

    Und ich vor Sehnsucht krank

    An dich reicht kein anderer heran

    Geliebter, begehrter Mann

    Trotz gewisser Zweifel angesichts der Worte „stark und schlank" im Hinblick auf Toljas Erscheinung gefiel mir mein Gedicht, und ich beschloss, mit dem Selbstmord noch zu warten, um der Menschheit meine unsterblichen Werke zu hinterlassen. Mein nächstes Gedicht entstand gleich in derselben Nacht und hieß ‚Für dich‘:

    Für dich allein schlägt mein Herz

    Für dich ertrag ich allen Schmerz

    Die Tränen steh’n mir im Gesicht

    Doch du, du siehst sie nicht

    Für dich gäb’ ich mein Leben

    Für dich würd’ ich alles geben

    Mein Leid soll erfahren die Welt

    in der mich außer dir nichts mehr hält

    Dies war bereits ein unbestreitbarer Fortschritt in der Entwicklung meiner schöpferischen Individualität. „Mein Leid soll erfahren die Welt – in der mich außer dir nichts mehr hält" – das war genial, allein auf diese außerordentlich poetische Weise ließ sich die Palette widersprüchlicher Gefühle umreißen, die mich mit der ersten Liebe ergriffen hatten. Kurz, stark und schrecklich – sehr expressionistisch. Morgens wachte ich mit dem Gefühl auf, es sei vielleicht alles gar nicht so schlimm. Wenn es mit der Liebe nicht klappte, würde ich vielleicht wenigstens als Dichterin in die Geschichte eingehen, und noch vor dem Frühstück verfasste ich ein Gedicht mit dem ­Titel ‚Ohne dich‘:

    Ohne dich kann ich nicht sein

    Ohne dich ist alles Pein

    Deine Gestalt, sie ist so schön

    Nie wieder will ich andre seh’n

    Wie gern würd ich’s dir sagen

    Doch sag, kann ich es wagen?

    Ohne dich geh ich zu Grunde

    Erlöse mich – noch diese Stunde

    Das hatte Anklänge an alte Volkslieder und klang, wenn nicht originell, so doch wenigstens ziemlich innig, und mit gewissen Einschränkungen konnte man es als Stilisierung auffassen. Ich war sehr zufrieden mit mir. Alle drei Gedichte schrieb ich in ein besonderes Heft und nannte es ‚Dich‘. In den folgenden Tagen schrieb ich alle Seiten des karierten Heftchens mit Gedichten voll, dann noch eins, bis mir klar wurde, dass ich mir ein richtig dickes Schreibheft anschaffen musste. Mein Werk zeichnete sich in dieser Phase durch eine besondere stilistische Einheitlichkeit aus, die schon an den Titeln abzulesen war. Nach dem

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