Vom Schicksal verweht: Erzählungen, Anekdoten
Von Sarah Santos
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Über dieses E-Book
Auch geeignet für ältere Menschen und als Geschenkbuch.
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Buchvorschau
Vom Schicksal verweht - Sarah Santos
Vom Schicksal verweht
Oktober, Berlin
Ich ziehe die Decke über den Kopf. Sie ist dünn und weiß. Verloren in dem großen Saal versuche ich Schutz in dem schmalen Metallbett zu finden. Eine Flasche Mineralwasser auf dem alten Nachtkästchen gibt mir das Gefühl, außer meinem Körper noch etwas zu besitzen. Eine Fremde unter Fremden plötzlich, das bin ich hier. Einen halben Meter links neben mir im Metallbett starrt eine ältere Frau an die hohe Zimmerdecke. Es ist still in dem großen Saal. Mittagsschlaf. Zwei Meter neben mir erweckt die weiße Holztür das Gefühl, im Durchgang zu liegen. Ab jetzt im Durchgang zu leben, ohne Privatzone, nur im Metallbett mit Nachtkästchen.
Alte hohe Fenster, jedes einzelne vergittert, lassen Herbstlicht in den großen Saal. Zwanzig Frauen liegen und leben in zwanzig schmalen Metallbetten, aneinandergereiht wie in einem Kriegslazarett. Jede von ihnen mit einem Schicksal, das ich nach und nach kennenlernen sollte. In der Mitte des großen Saales steht ein schwerer brauner Holztisch, an den sich selten jemand setzt. Armselig, kalt, einsam, verschreckt und verloren – so fühle ich mich unter meiner dünnen weißen Decke, ahnungslos, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen sollte…
3 Monate vorher, London, England
In nassen gelben Gummistiefeln marschiere ich über den edlen Teppich im Hilton. Schließlich bin ich 14 Jahre und muss demonstrieren (rebellieren?), wie wenig ich noble britische Konventionen respektiere. Ein tiefes zufriedenes Gefühl von Selbstständigkeit, Draufgängertum und endloser Freiheit pur durchdringt jede Zelle meines Körpers. Wie fantastisch ist die Welt hier in Großbritannien! Zum ersten Mal alleine auf Reisen! Zum ersten Mal weit weg von zuhause! Zum ersten Mal erwachsen und selbstständig und frei! Mein Gott, wie schön und leicht ist das Leben mit einem Mal! Mit roten Doppeldeckern stundenlang durch London fahren, Hop-on Hopoff machen und die Stadt auf eigene Faust erkunden. Man kann ja schon so viel Englisch unter Beweis stellen, welch ein Erfolg!
Sechs Wochen alleine in Großbritannien. Vormittags zum Sprachunterricht gehen, nachmittags am Strand baden oder mit anderen Jugendlichen Ausflüge nach Stonehenge, Salisbury, Brighton machen. Was für ein Leben!! Sorglos, erwachsen und endlich selbständig!
Zurück in der Schule, Berlin Deutsch
„Zieh keine Schau ab, zischt meine Nachbarin, „schreib den Aufsatz endlich!
Gequält denke ich: ‚ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht.‘ Seit 20 Minuten starre ich auf das weiße Blatt vor mir. Nichts. Ich verbiege mich innerlich nach dem Einleitungssatz. Nichts. Es kommt nichts. Kein einziges Wort bringe ich zu Papier. Die Minuten werden immer länger, immer qualvoller. Die Zeit läuft. 30 Minuten sind schon vorbei.
Was soll ich tun? Ich kann nichts schreiben, nichts erläutern, nichts begründen… alles, was mir sonst mit Leichtigkeit aus dem Füller floss, spielend von der Hand ging – es ist plötzlich weg. Meine Hände verkrampfen sich, mein Atem kommt verzweifelt und gepresst, ein panisches, zugleich tonnenschweres Gefühl legt sich auf meinen Körper, ich halte meinen Kopf schuldbewusst und schamvoll gesenkt auf das weiße leere Blatt vor mir… endlos kriechen die Minuten, schwer und schwerer wird es in meinem Kopf und meiner Seele. Als ich meine Arbeit abgebe, steht nur mein Name darauf.
Mathematik
Von fünf Aufgaben löse ich eine einzige, gebe nach langen, qualvollen Minuten das Blatt fast leer ab und erhalte auch hier die Note 6.
Latein
Die Schulaufgabe in meinem Lieblingsfach, das ich durchwegs mit sehr guten Noten bewältigte, wird zum nächsten Horrortrip: keine Vokabeln parat, keine Erinnerung an Grammatik, eine fehlerhafte Übersetzung und die Note 5.
Verschlechterung
Meine Lehrer und Mitschüler wundern sich über mich. Ich selbst bin verzweifelt, weiß nicht, was mit mir los ist. Meine Eltern sind besorgt und ratlos, melden mich in der Schule krank und lassen mich eine Weile zuhause. Ich kann plötzlich auch nicht mehr sprechen. Keine Worte mehr vorhanden. Nur quälende Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. Leere in meinem Kopf, meinen Gefühlen, meiner Seele, ein Zustand, den ich noch nie erlebt habe, der mir völlig fremd und unverständlich ist. Gesprächen kann ich inhaltlich nicht mehr folgen, einfache Handlungsabläufe nicht mehr bewältigen. Stumpf und energielos sitze ich, starre leer vor mich hin. Schuld- und Schamgefühle ohne Ende, ich bin ein schlechter Mensch, denke ich. Zu