Die mittleren Regionen: Über Terror und Meinung
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Über dieses E-Book
In Form eines Tagebuchs nimmt Philipp Stadelmaier eine polemische Dekonstruktion der Konzepte "Meinung" bzw. "Meinungsfreiheit", "Karikatur" und "Terror" vor. Dabei zeichnet er - ausgehend von Pasolinis Motivsuche für seine Verfilmung des Matthäusevangeliums in Palästina, einem Seminar bei Hélène Cixous, Mails von Freunden und Artikeln in deutschen und französischen Medien - die Metapsychologie (und die pathologischen Züge) der Figur der Meinung nach. Dieser wird mit den "mittleren Regionen" ein unstabiles, geografisch-geschichtliches Gefüge gegenübergestellt, das essenziell von einem Mangel an Sicherheit, "Meinung" und "Identität" bestimmt wird.
In einem Nachsatz zu diesem Tagebuch überprüft Stadelmaier nach den Anschlägen vom 13. November 2015 die Gültigkeit seiner zu Jahresbeginn entwickelten Thesen.
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Buchvorschau
Die mittleren Regionen - Philipp Stadelmaier
Copyright
Philipp Stadelmaier
Die mittleren Regionen
Über Terror und Meinung
He entered. Pure chaos surrounded him.
»Pasolini« von Abel Ferrara (2014)
Paris, 7. Januar 2015, 11:48 h
Terrorisiert.
23:57 h
»La rançon de la gloire« gesehen, heute gestartet, im Cinéma des Cinéastes. Vier Leute im Publikum. Benoît Poelvoorde wird aus dem Gefängnis entlassen und hat die Idee, die Leiche von Charles Chaplin zu klauen, um mit dem Lösegeld seinem muslimischen Freund (Roschdy Zem) zu helfen und die Krankenhausrechnung für dessen Frau zu bezahlen. Was kann man heute noch mit der Leiche von Chaplin anfangen, mit Chaplins Humanismus, mit dem Geist von Chaplins Humanismus? Was kriegt man heute noch für einen Chaplin?
Idiotischer Wunsch, dass alle an diesem Abend ins Kino gehen sollten, um diesen Film zu sehen; um sich zu fragen, was man heute noch mit Chaplin und seiner Leiche anfangen kann oder auch nicht; mit dem, was von Chaplin übrig bleibt – in diesen wunderbaren Einstellungen von Xavier Beauvois, die stets zwei Bereiche zusammenhalten und den Abstand zwischen ihnen öffnen: zwischen dem Bereich des Sakralen und dem des Profanen, zwischen Chaplins Geist und seinem schweren Körper, zwischen der Musik von Michel Legrand und dem flapsigen Dialog von Poelvoorde bleibt die Frage, wer sich von Chaplin heute angeschaut fühlt. Dass es jener Blick Chaplins auf sein Publikum ist, das er nie sehen kann, das ein abwesendes und noch zu kommendes ist, das also stets riskiert, ihn schon nicht mehr oder noch nicht zu sehen, und also ein – noch – blindes Publikum ist, wissen wir seit dem Ende von »City Lights« (und seit der Kritik von Serge Daney zu »Limelight«*), wo das vorher blinde Mädchen am Ende des Films Charlot zum ersten Mal sieht. Also ist es Chaplin selbst, der stets riskiert, an seinem Platz zu fehlen, »sein« Publikum nicht zu sehen oder von diesem (abwesenden) nicht gesehen werden zu können: eine Leiche zu sein.
Jenseits des Ruhms von Chaplin, jenseits dessen, was diese Filme je einspielen werden oder was man für sie ausgibt, ist Chaplin unbezahlbar, gibt es immer noch einen Rest, eine Reserve an Chaplin, die nicht bezahlt und nicht ausgelöst werden kann. Etwas, was von diesen Filmen ewig »gegeben« werden wird, wie ein ewiges Geschenk, sodass es nie genug geben kann, die es annehmen, und nie genug, die den Film sehen. Denn der immense Ruhm von Chaplins Filmen hat seinen Preis: Er ist nie groß genug, denn er ist unbezahlbar. Sein Preis ist die schiere Undankbarkeit: Man raubt noch Chaplins Leiche, und man kann ihm nicht mal für ein Lösegeld dankbar sein, das nicht bezahlt werden wird. Aber so wird aufgedeckt, was die Filme hätten geben sollen und niemals genug geben können: ein letzter, toter Rest von Chaplin, für den das Lösegeld unbezahlbar bleibt, der nie wirklich gegeben oder zurückgegeben werden kann zwischen den Filmen und ihren Zuschauern. Als könnten die Filme, für diesen Rest, noch immer nicht richtig gesehen werden. Aber nur so gibt es diese Reserve an Chaplin, diese Reserve an einem unbedingten Humanismus, für den noch ein toter Chaplin und noch ein (fast) leerer Saal verantwortet werden können, wie an diesem Abend im Cinéma des Cinéastes.
* Erschienen in den Cahiers du Cinéma No. 297, Februar 1979.
9. Januar, 22:59 h
Erneut terrorisiert: diesmal in einem jüdischen Supermarkt. In ihrem eingespielten Hass unendliche Trostlosigkeit der Ereignisse, ebenso wie die trostlosen Reaktionen, ebenso eingespielt.
Man kann die Menschen einfach nicht genug lieben. Man müsste heute diese Reserve anzapfen, die »unsichtbar« bleibt wie der Rest an einem Chaplin-Film, aber sich nie erschöpfen lässt und mit keinem Lösegeld je ausgelöst werden kann. Man müsste Chaplins/Beauvois’ Reserve anzapfen, die immer da ist, die nie erschöpft werden kann, um mit den Leichen jener anderen Komiker, der Karikaturisten von Charlie Hebdo, alle Muslime und Juden dieser Welt ebenso zu lieben und nie genug lieben zu können wie den Muslim im Film und seine Frau (noch unter dem Risiko ihres Raubs, denn das Lieben war nicht unbedingt die Sache dieser Karikaturisten, und wenn, dann nur in Form eben der Karikatur). Alle Muslime, die immer schon ebenso wenig »Muslime« sind wie der »Muslim« im Film und seine Frau, also immer auch schon »Juden« und ebenso wenig »Juden« wie Juden; wie jene, die heute in dem jüdischen koscheren Supermarkt gestorben sind; wie jene über 2.000 vorwiegend muslimische Menschen, die von Boko Haram am 7. in Nigeria ermordet wurden.
Man kann sie nie genug lieben, wie auch, als Juden oder Muslime, und das zeigt, dass diese Reserve wirklich unerschöpflich ist, dass sie niemals mit einem dieser Worte oder einer Gruppe oder Religion oder Kultur oder was auch immer an ein Ende kommt, dass sie immer darüber hinausliebt.
16. Januar, 3:01 h
Zu spät angefangen zu schreiben, zu spät angefangen, dem Wust am Gespreche und Geschreibe noch eins draufzusetzen, das längst überall zirkuliert. Es ist spät.
3:04 h
Wie unter diesen Umständen die Lust zum Schreiben finden? Man nehme den Text von Emmanuel Burdeau zu Avi Mograbis »Z32«** Erschienen in Cahiers du Cinéma No. 639, November 2008, Spécial: Festival d’Automne 2008. . Wie die Freude an etwas finden, die perverse Freude, über etwas zu schreiben, was keine machen sollte? Die Freude etwa, als politisch engagierter Filmemacher einen Film zu machen, weil man die Gelegenheit hat, ein Kriegsverbrechen aufzudecken – weil also Menschen für diesen Film gestorben sind, weil jemand sterben, sich opfern musste, damit man nun schreiben oder filmen kann? Man muss also diese Lust in Szene setzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass dieses Spektakel sich selbst ironisiert, dass es eine Clownsnummer wird, ein wenig lächerlich. Es muss die Lust geben, sich selbst zu karikieren in dieser Situation, um sich klarzumachen, dass man sich nun äußert, mit Überzeugungen, Meinungen, mit allem, was wichtig und bedeutend scheint und nun gesagt werden muss, in aller Differenziertheit oder wüsten Polemik, dass man nun seiner Lust freien Lauf lässt – und dazu aber, ironischerweise, Menschen sterben mussten. Die Szene der Lust, des politischen Statements, muss eine Clownsszene werden; muss zumindest auch die Lust in Szene setzen, sich selbst zu verspotten in seiner Lust. Alles andere scheint hypokritisch. Wie sich betroffen geben, ohne deutlich zu machen, dass noch in dieser Betroffenheit eine Lust steckt, eine Lust am Spektakel der Betroffenheit, ohne deutlich zu machen, dass Betroffenheit immer auch ein Spektakel und also ironisch sein muss? Mit anderen Worten, nahe an der Karikatur? Und zwar um so mehr, weil für dieses Spektakel Menschen sterben mussten, Unschuldige? Wie also sollte man nicht zeigen, wie sehr man selbst längst eine Karikatur geworden ist?
Die meisten lehnen den Tod von Karikaturisten ab. Nun verdanken sie eben diesem ihre Betroffenheit und die Lust an deren Darstellung, lehnen es aber ab, Karikaturisten dieses Spektakels zu werden. Was sie vielleicht gerade um so mehr in Karikaturen, ihre Reaktion in eine Clownsnummer verwandelt: Sie lehnen es ab, das Spektakel, das sie geben, zu überspitzen, als ein zutiefst unmoralisches – und sei es eines der besten Absichten, der Betroffenheit, der Trauer. Tod der Karikaturisten, zum zweiten Mal. Aber wenn Charlie Hebdo nicht tot ist, wie die Attentäter auf ihrer Flucht über den Boulevard Beaumarchais schrien, wenn die Karikatur sofort zu neuem Leben erwacht wie Kenny in »South Park« (»Sie haben Kenny getötet. – Ihr Schweine!«, aber in der nächsten Episode ist Kenny wieder dabei), dann, weil dieser Witz, in der Betroffenheit den Witz nicht zu sehen und die Karikatur nicht anzuerkennen, selbst noch ein Witz und eine Karikatur ist und man damit schlicht und ergreifend dieser nicht mehr entweichen kann.
Was gegen den Terror schreiben lässt – gibt es einen größeren Scherz? –, ist der Terror. Der Terror, der über Leichen geht. Genauso wie alle anderen. Ich. Hier.
Hier also haben wir nun die Gelegenheit zu kommentieren, zu schreiben, das, was wir wollen und möchten, das, was einige von uns als »Recht auf freie Meinungsäußerung« bezeichnen. Hier haben wir die Gelegenheit, unserer Lust auf Aufklärung, Beruhigung, Skandal, Rassismus, Beschwichtigung, auf Information, auf Trauer, auf Betroffenheit freien Lauf zu lassen. Hier bietet sich die Gelegenheit, einen politisch, historisch, religiös, soziologisch, psychoanalytisch, philosophisch (usw.) relevanten Kommentar von uns zu geben. Welche Freude. Aber das doch nur, weil Menschen sterben mussten.
Ein Skandal.
Ein Skandal, der skandalöserweise nicht gesehen wird, weil er möglicherweise aufdecken würde, dass die Terroristen mit den Verfechtern der »öffentlichen Meinung« und der »Meinungsfreiheit« unter einer Decke stecken. Was, im Übrigen, eine Karikatur wäre, ein Witz. Der Skandal, nur schreiben zu können, weil wir wie die Terroristen über Leichen gehen, wäre genau der Skandal, von dem wir uns skandalisieren lassen müssten. Die meisten sehen ihn natürlich nicht und würden auf diesen Vorwurf moralisch reagieren. »I think to scandalize is a right, to be scandalized is a pleasure, and those who refuse to be scandalized