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Luna Llena
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eBook196 Seiten2 Stunden

Luna Llena

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Über dieses E-Book

«Luna Llena» ist eine liebevoll erzählte Geschichte über Menschlichkeit, Freundschaft und kleines Glück. Drama und gefühlvolle Burleske, in der sich ein Haufen unattraktiver, nicht verheirateter Individualistinnen und Individualisten zusammen-schliessen, um einen gemütskranken Bodybuilder vor der Selbstauflösung zu retten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBilgerverlag
Erscheinungsdatum4. Dez. 2015
ISBN9783037629956
Luna Llena

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    Buchvorschau

    Luna Llena - Christoph Simon

    nicht.

    VERLETZEN

    1

    Rahel Königs Gelateria Luna Llena an der Scheibenstrasse waren sieben mal vier Meter Parkett, vollgestellt mit Holztischen, Stühlen, einem abgewetzten Sofa, der ägyptischen Palme beim Eingang, einem mexikanischen Kaktus beim Ausgang und einem türkisfarbenen Eiskasten, an dessen transparenter Kunststoffwand sich die Leute die Nasenspitze abfroren, wenn sie die Eissorten begutachteten. Neben dem Eiskasten stützten sich Gewohnheitstrinker auf die Bar, schoben halbleere Biergläser von der einen in die andere Hand und suchten ein Gespräch mit Rahel König, wer’s schafft zehn Franken. Wieder andere untersuchten den Zigarettenautomaten im Flur auf liegengebliebenes Rückgeld oder tappten die enge Treppe hinunter in den Keller zu Rahels Bruder, Kurt König, der hier Eis produzierte und lauthals «Da muss ich protestieren!» rief, wenn unhygienisches Volk ihm beim Austüfteln eines neuen Rezepts Gesellschaft leisten wollte. Neben biologischem Erstklasse-Speiseeis gab’s im Luna Llena Focaccias, Salatteller, Kleinigkeiten aus der Konditorei und Alkohol, das ganze Sortiment. Die Gelateria war keine Goldmine, aber immerhin rentabel, und die Qualität des Angebots war etwas, auf das die Königs stolz sein konnten.

    Jeden Morgen hinkte Rahel übellaunig und gereizt zur Tür herein. Sie ging unverzüglich hinter die Bar, wo sie die Eisbecher sortierte, die Kaffeemaschine bediente und Focaccias zubereitete. Sie arbeitete von acht Uhr morgens bis nachts halb eins, Punkt Mitternacht rief sie: «Raus jetzt, ab nach Hause!», und über die Theke flog ein feuchter Lappen. Rahel König war eine äusserlich ganz und gar unscheinbare Frau, wenn man von ihrer Gehbehinderung absah, die so zustande gekommen war: Vater König am Lenkrad hatte sich nach hinten gedreht, den Schnuller zurück in Klein-Rahels Mund gesteckt und den Wagen an einen Brückenpfeiler gesetzt. Klein-Rahel hatte fünf Stunden auf dem Operationstisch gelegen und jahrelang keinen Fuss in ein Auto gebracht. Der Vater war noch am Unfallort gestorben.

    In der ganzen Zeit, die Fisch dort kellnerte – immer auf Rollschuhen –, fragte ihn Rahel nicht ein einziges Mal, ob ihm die Kellnerei gefalle oder ob ihn die Kundschaft ermüde. Mit den Leuten vom Service – Fisch und Schmied und Teilzeitkräfte, die häufig wechselten, weil sie mit Rahel nicht zurechtkamen –, verständigte sie sich, indem sie ihnen bestimmte Blicke zuwarf. Dieser Blick sagte ihnen, dass sie an Tisch soundso einkassieren, jener Blick, dass sie schneller, aufmerksamer bedienen sollten. Sobald ein Gast nur leicht die Karte berührte, kriegte Rahel es mit und dirigierte jemanden dorthin. Sie war unfreundlich und ungesellig, aber Fisch liess sich nicht einschüchtern.

    «Willst du hören, was Tisch drei über Kurts Zitronensorbet gesagt hat?» fragte Fisch zwei Monate nach seinem ersten Arbeitstag, gewillt, eine Plauderei anzufangen.

    Rahel musterte ihn argwöhnisch.

    «Sie finden es ausgezeichnet.» Er wagte einen kühnen Vorstoss. «Habe gehört, der Kauf der Gelateria soll deinen Bruder und dich das ganze Erbe gekostet haben.»

    Rahel starrte ihn an. «An Tisch sieben fehlt ein Stuhl», sagte sie schliesslich.

    «Anscheinend hat deine Chefin noch keinen gefunden, der ihr mal die Meinung sagt», meinte Jost Matter, Vorarbeiter Bau und Bodybuilder, regelmässiger Gast in der Gelateria und jemand, mit dem Fisch über alles mögliche redete. Jost und Fisch hatten zusammen auf Baustellen gearbeitet (in La-Chaux-de-Fonds, nahe der französischen Grenze, wo sie im Nieselregen die Schubkarre schoben für Leute, die mit Zigarettenschmuggel hinzuverdient hatten und sich nun ein Haus bauen konnten), bevor Fisch Rollschuhläufer und Kellner geworden war.

    «Also, du würdest Rahel so richtig auf die Finger klopfen?» fragte Fisch, der sich hingesetzt hatte, um einen Espresso zu trinken.

    «Klar würde ich das», behauptete Jost Matter. «Hinschmeissen würde ich den Job. Weiss nicht, was dir daran so gefällt.» Er winkte Rahel und zeigte auf sein leeres Glas. «Jedenfalls, an meine Taube kommt deine Chefin nicht ran. Keine wie meine. Wie findest du sie?»

    «Wie finde ich wen?»

    «Alexandra. Meine Taube.» Jost drückte Fisch ein Automatenfoto in die Hand. «Treuhänderin bei Rossi. Macht die Buchhaltung der Gelateria …»

    Fisch blickte auf das makellose, feingeschnittene Gesicht einer jungen Frau. «Ich kenne Alexandra.» Er schob das Foto zurück. «Bringt den Königs bei, wie das Geld in der Kasse bleibt. Woher kennst du sie?»

    «Jogging an der Aare, vor ein paar Wochen.» Jost klaubte das Foto vom Tisch und betrachtete es eingehend. Er raunte etwas, das Fisch ziemlich überraschte. «Du verstehst nicht, wie befriedigend es ist, geliebt zu werden.»

    Fisch betrachtete Jost. Ein gedrungener, verschwitzt riechender Mann, der beim Krafttraining zu weit gegangen war. «Erzähl mal», zog Fisch ihn auf, «was Alexandra gemeint hat, als sie dich zum ersten Mal nackt gesehen hat.»

    «Im Ernst?» Jost konnte nicht über sich selbst lachen, sowenig wie über andere. Er lachte nur in schlechten Filmen. Nachdem er einen Augenblick über die Frage nachgedacht hatte: «Was sie gesagt hat, war … dass ich rieche. Gut rieche.»

    «Dein Geruch gefällt ihr, Jost?»

    «Was sollte sie gegen meinen Geruch haben?»

    «Nichts, Sportsfreund.»

    Rahel rief: «Mineral für Tisch zwei!» Warf Fisch über die Theke hinweg einen scharfen Blick zu.

    Jost hob angewidert den Kopf. «So sollte mein Chef mit mir umspringen.»

    Fisch zuckte die Schultern. Seine Gedanken schweiften zurück zu Bianca, der schielenden Taschendiebin, die abgereist war, als er gerade angefangen hatte, sich grossartig zu fühlen. «Vielleicht will ich einfach feststellen, wieviel Mühsal die menschliche Seele ertragen kann, ohne zu verrecken», sagte er.

    Ungefähr ein Jahr nach seinem ersten Arbeitstag gewann Fisch Rahels Vertrauen. Im Keller barst eine Wasserleitung. Kurt König kam händeringend heraufgestürmt und stürzte mit Geschirrtüchern bewaffnet in den Keller zurück. Fisch organisierte Absaugpumpen und Blastrocknungsgeräte, telefonierte mit der Versicherung und füllte das Schadensformular aus. Als er am nächsten Morgen ins Luna Llena kam, sass Rahel über einen Katalog gebeugt. Sie schaute nicht auf, als sie sagte: «Wir brauchen ein neues Fass für die Palme beim Eingang. Was hältst du von dem da? Zu gross?»

    2

    Die Geschwister König teilten sich mit Felix Bodmer eine helle, geräumige Wohnung in einem baufälligen Vorkriegshaus am Waffenweg, einer kurzen Strasse, die im Norden ungefähr bei der Gelateria beginnt und im Süden in den Schützenweg mündet.

    Es war ein warmer Augustabend im Jahr 2000. Im Treppenhaus zur Wohnung der Königs roch es nach Tomatensauce, feuchtem Hund, Zigarettenrauch und Dingen, die Alexandra nicht sofort zuordnen konnte. Alexandra Jenk, diplomierte Treuhänderin, zweiundzwanzig Jahre alt, Jost Matters «Taube», bildhübsch, schminksicher und hintergründig, in Basel aufgewachsen und gestraft mit jenem Sprachfehler, der es ihr unmöglich machte, ein kratzendes, bernisches CH zu sprechen («Alex, sag Charakterchopf!» –« Karakterkopf …»), stieg die Stufen hinauf und trat in die Wohnung. Rahel sass in der Küche, ihr üblicher Aufenthaltsort, wenn die Gelateria geschlossen hatte. Sie ging nörgelnd Rechnungen und Prospekte durch, während Kurt und Bodmer vom Fernsehsessel aus ins Weltgeschehen eingriffen.

    Alexandra grüsste recht unfreundlich – sie wusste, wie sehr es Rahel ärgerte, wenn man sie merken liess, dass man sie mochte – und legte eine persönliche Einladung für ihr Wohnungseinweihungsfest auf den Stapel unerledigter Post. Alexandra lebte in der verkehrsreichen, lauten Rodtmattstrasse, allerdings nur noch wenige Tage, denn Jost hatte sie nach langem Hin und Her endlich überredet, zu ihm an den verkehrsarmen Schützenweg zu ziehen. Die Regale waren zerlegt, die Bilder abgehängt, die Kartons beschriftet – alles bereit zum Umzug.

    Rahel blickte skeptisch auf die Einladung. «Und du erwartest, dass ich an dieses Fest gehe und mich vergnüge?»

    «Das tu ich.» Alexandra nahm Eiswürfel und Schweppes aus dem Kühlschrank, ein Glas vom Hängebord und schenkte sich ein. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. Sie erkundigte sich nach Kurt.

    «Frag ihn doch selbst.» Mit einer Handbewegung scheuchte Rahel Alexandra aus der Küche.

    «Alex!» rief Kurt erfreut, als sie im Wohnzimmer auftauchte. «Komm rein, setz dich!» Mit betroffener Stimme: «Du bist dünn angezogen, Alex. Du wirst dich erkälten.» Kurt König, weit in den Dreissigern, fiel auf durch ein weiches Gesicht, ein wulstiges Kinn, schelmische Augen und eine Stirnglatze. Er hatte ein friedliebendes, gutherziges Wesen, trank keinen Alkohol, verabscheute Publikumssportarten und mischte sich voller Anteilnahme in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Nach der einsamen Schufterei als Eismacher im Keller der Gelateria war sein «häusliches Leben» eine einzige gemütliche Veranstaltung. Mit seinen stets willkommenen Gästen reizte er Rahel, die bereits nervös wurde, wenn die Gäste oder Bodmer die Fernbedienung und sonstige ruhestörende Gegenstände zur Hand nahmen. Ausser im Notfall nahm Bodmer (Spieler, Verführer, Langzeitarbeitsloser) jedoch nichts zur Hand.

    «Treuhänderin, kannst du mir hundert Franken pumpen?» fragte Bodmer mit seiner erstaunlich hohen, näselnden Stimme. Er trug einen speckigen nussbraunen Trainingsanzug, versank im Polstersessel und zinkte Spielkarten: Mit einer Stecknadel stach er kleine Löcher und rauhte Ränder auf. Die Vorbereitung seiner Jagd nach dem schnellen Geld.

    Alexandra setzte sich und überlegte, ob sie ihm den Gefallen tun wollte. «Zwanzig kann ich geben», sagte sie schliesslich, stöberte in ihrer Handtasche und förderte eine Fünfzigernote zu Tage. Sie zögerte.

    «Ich kann wechseln», sagte Bodmer leutselig.

    «Bestimmt kannst du das.» Alexandra reichte ihm das Geld. Nicht dass sie glaubte, jemals Wechselgeld zu sehen.

    «Fünfzig!» Bodmer liess den Geldschein verschwinden. «Das ist nett von dir. Kurt, hol ihr was zu trinken.»

    «Hab schon», erwiderte Alexandra und zeigte mit dem Glas auf Kurts Fuss. «Was macht dein Fuss?» fragte sie. Ein mit Bandagen umwickelter, den Geruch von Essig und Salbe verbreitender Fuss lagerte auf dem Couchtisch und nahm Kurt im Sitzsack mindestens die halbe Sicht auf den Fernsehschirm.

    «Es quält mich, darüber zu sprechen», winkte er ab. (Am Tag zuvor hatte sich eine Wespe den Ausgang freigestochen, als Kurt in der Gelateria in seine Arbeitsschlarpen geschlüpft war.) «Wie kommt ihr mit dem Umzug voran, Jost und du?» fragte Kurt. «Braucht ihr Hilfe? Bananenschachteln? Teppichklebeband?» Kurt pflegte Alexandra mit freundschaftlichem Respekt zu behandeln: Ihre buchhalterischen Fähigkeiten bewahrten die Gelateria vor Chaos und der Steuerbehörde und ihm selbst war sie eine wertvolle Freundin: Zu Weihnachten schenkte sie ihm Dessertrezeptbücher, ausgeliehene CDs brachte sie ausnahmslos zurück. Sie holte Zeitschriften vom Kiosk, wenn er die Grippe hatte, von den Wochenendausflügen in den Jura schickte sie Grusskarten und – was Kurt am meisten schätzte – sie wollte nie etwas Scharfsinniges über seine asoziale Schwester loswerden.

    Alexandra ignorierte Kurts Frage, blickte in den Fernseher. «Worum geht’s?»

    «Politik», antwortete Bodmer, ohne aufzublicken. «Schalt um, Kurt.»

    «Es freut mich sehr, dass du mit Jost zusammenziehst», sagte Kurt freundlich. «Der Beginn einer grossen Liebe.»

    «Ich weiss nicht.» Alexandra nahm einen Schluck samt Eiswürfel, beugte sich nachdenklich vor. Im Fernsehen lief die Übertragung einer Pressekonferenz aus Madrid. Männer und Frauen in ordentlichen Anzügen sassen vor Schildern mit Ländernamen und äusserten sich. Alexandra spuckte den Eiswürfel, den sie im Mund gedreht hatte, ins Glas zurück.

    Kurt sah sie besorgt an. «Stimmt etwas nicht?»

    Alexandra schaute ins Glas, klimperte mit den Eiswürfeln. «Ich frage mich, ob ich dabei bin, einen schwerwiegenden Fehler zu machen. Seit ich im Breitenrain lebe, wohne ich allein. Und ich bin gern allein. Ich mag Jost, seine Art. Aber ich vermisse ihn kaum, wenn er nicht in der Nähe ist.»

    «Dann verstehe ich nicht, wie du es zwei Jahre mit ihm ausgehalten hast», sagte Kurt behutsam. «Weshalb du jetzt mit ihm zusammenziehst.»

    Alexandra lächelte matt. Es war eine Frage, auf die sie sich selbst keine befriedigende Antwort geben konnte. Wenig überzeugt sagte sie: «Jost ist ein unbändiger Junge, auf den jemand aufpassen muss.»

    «Jost ist kein Junge, er ist ein ganzes Stück älter als du», sagte Bodmer, mischte ungerührt Spielkarten. «Klein und dick.»

    «Muskulös», korrigierte Kurt.

    «Er liest nichts ausser Fitnesszeitschriften», sagte Bodmer. «Seine Freunde vom Bau sind verstockt und dumm. Experten im Rechnen mit den Fingern.»

    «Das stimmt», pflichtete Alexandra ihm bei. «Jost kann seinen Namen schreiben, aber in jeder anderen Hinsicht ist er ungebildet.»

    «Ich bin entrüstet!» rief Kurt. «Du und Jost, ihr seid ein Liebespaar. Paare stehen zueinander, verteidigen sich. Ziehen zusammen, zeugen Kinder und machen Kurt zum Paten. Es wird schön sein, mit Jost zusammen heimzugehen. Du wirst neben ihm einschlafen und neben ihm aufwachen.

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