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Ein Urlaub für's Leben
Ein Urlaub für's Leben
Ein Urlaub für's Leben
eBook349 Seiten4 Stunden

Ein Urlaub für's Leben

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Über dieses E-Book

Die 15-jährige Cindy sieht schlimmen Sommerferien entgegen. Während ihre Freundin Alina mit ihren Eltern nach New York fliegt, haben ihre Eltern wie immer ein Wellnesshotel in den Bergen gebucht. Langeweile und Streit scheinen vorprogrammiert zu sein. Doch ihre Verzweiflung findet schlagartig ein Ende, als sie den alten Holzschnitzer Johannes kennenlernt. Tag für Tag taucht sie nun ein in die tiefen Fragen und Geheimnisse des Lebens…
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Okt. 2015
ISBN9783739260112
Ein Urlaub für's Leben
Autor

Holger Niederhausen

HOLGER NIEDERHAUSEN, geb. 1969 in Berlin, Biologie-Studium, Fortbildung zum Waldorflehrer, Mitgründung eines freien Kindergartens. Seit 1996 intensive Beschäftigung und Verbindung mit der Anthroposophie, damit verbunden mit der sozialen Frage im Großen wie im Kleinen und dem Weg innerer Vertiefung und Entwicklung. Veröffentlichung zahlreicher Bücher für Jugendliche und Erwachsene.

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    Buchvorschau

    Ein Urlaub für's Leben - Holger Niederhausen

    Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

    Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

    für Bianca

    Wohl kaum!", antwortete Cindy. Mit halb gespielt und halb ehrlich saurer Miene sah sie ihre Freundin Alina an.

    „Kannst du mir mal verraten, wie das gehen soll?"

    „Na, grinste Alina. „Wenn du da ’n Jungen kennenlernst?

    „Wie bitte?, empörte Cindy sich. „Wie muss ich das denn jetzt verstehen? ‚Treib’s nicht zu wild’ – und jetzt bezieht sich das noch auf ’nen Jungen? Den ich noch nicht mal kenne!?

    „Tschuldigung. Aber könnte ja eben noch kommen." Cindy sah sie entgeistert an und sagte langsam und betont:

    „In den – Bergen!"

    „Na ja gut – dann also nicht. War doch auch nur ein Scherz. Dann eben ernsthaft: Herzliches Beileid. Aber das hast du ja von mir sowieso ständig. Ich hoffe, du kommst gut über die Runden. Wir sehen uns ja in spätestens vier Wochen wieder."

    „Tolle Aussichten!", grummelte Cindy.

    „Hm, tja, in den Bergen hast du definitiv bessere..."

    „Ach, jetzt hör’ doch endlich mit diesen dämlichen Bergen auf!", schimpfte Cindy nun wirklich wütend.

    „Sorry, ist schon gut. Komm her –"

    Alina schloss ihre Freundin in den Arm, legte ihr dann beide Arme auf die Schultern und sagte:

    „Ich schreibe dir jede Woche. Versprochen. Und lass dich nicht entmutigen. Selbst das Schlimmste geht vorbei. Wir sehen uns bald wieder – und dann liegen die Berge schon lange hinter dir, du wirst sehen!"

    Getröstet drückte Cindy Alina nochmals an sich.

    „Ich hoffe es. Bis bald. Und schreib mir viel. Ich will alles über New York wissen!"

    „Klar."

    Seufzend blickte Cindy ihrer Freundin hinterher. Ein letztes Winken, dann war sie um die Ecke gebogen.

    Unzufrieden mit sich und der Welt schlenderte sie nach Hause.

    Wie ungerecht doch alles war! Alina durfte nach New York – und sie? Auf sie warteten zwei langweilige Wochen in den Bergen. Und warum? Weil ihre Eltern ‚die Berge nun einmal lieben’. Dabei kamen sie aus ihrem Wellness-Hotel doch fast nur auf die Terrasse, zwei, drei Seilbahn-Ausflüge mit kleinen Spaziergängen im Anschluss ausgenommen. Cindy begriff nicht, was sie in den Bergen sollte. Mit fünfzehn! Aber ihre Eltern bestanden darauf, dass sie mitkam.

    Das Hotel war sicher eines der besten, doch Fernsehen konnte sie auch zuhause, Sauna und Whirlpool interessierten sie nicht, die Fitness-Angebote ebensowenig, die Panorama-Aussicht noch weniger und das schleimige Personal am allerwenigsten. Was also sollte sie dort? Lieber würde sie die ganzen sechs Wochen zuhause bleiben.

    Sie beschloss, einen letzten Versuch zu machen.

    Ihre Mutter war gerade damit beschäftigt, Kleider und Kostüme für ihren riesigen Koffer auszuwählen.

    „Hallo", grüßte Cindy kurz.

    „Hallo, Schatz. Na, wie ist dein Zeugnis ausgefallen?"

    „Wie immer."

    „Na, zeig’ schon her. Ich platze vor Neugierde!"

    „Wieso denn bloß. Ist doch wie immer."

    „Was heißt, wie immer! Nichts ist wie immer. Du bist ein Jahr älter geworden. Das ist doch nicht ‚wie immer’! Na, zeig her."

    Cindy fischte das Zeugnis aus ihrer Schultasche und reichte es ihrer Mutter.

    Die Mutter studierte es interessiert und rief plötzlich:

    „Hey, in Deutsch hast du eine Eins? Wie hast du das denn gemacht?"

    „Keine Ahnung. Hat mir halt Spaß gemacht, dieses Jahr."

    „Ist doch toll, Schatz!"

    Sie studierte weiter.

    „Hm, Geschichte noch immer Drei. Das ändert sich wohl nicht mehr, wie?"

    „Nee. Sag ich doch."

    „Und Sport Drei auch nicht."

    „Nee. Liegt am Lehrer."

    „Und der Rest so gut wie immer – toll!"

    „Sag ich doch. Wieso macht Ihr darum immer so einen Rummel? Zweien und paar Einsen sind doch die Standardzensur in der Schule..."

    „Was heißt Rummel? Zeugnisse sind nun mal was Besonderes. Und Standardzensuren gibt es nicht. Zweien und Einsen bekommt man nur, wenn man lernt und mitmacht – so wie du."

    „Toll!", kommentierte Cindy ironisch.

    „Und jetzt geht’s in die Ferien! Hast du schon gepackt?"

    „Mama...", begann Cindy.

    „Was?"

    „Kann ich nicht doch einfach – hierbleiben?"

    „Ach, Cindy, was soll denn das? Das haben wir doch alles schon besprochen. Wir wollen, dass du mitkommst, und du kommst mit. Soll ich dir nochmal aufzählen, was wir da alles machen können? Fitness, Sauna, Erlebnistouren –"

    „Hör auf, Mama!, unterbrach Cindy ärgerlich. „Ich kann damit nichts anfangen! Was soll das? Das ist vielleicht für euch was, aber nicht für mich!

    „Aber du könntest doch wenigstens versuchen –"

    „Nein, keine Lust! Ich habe einfach keine Lust! Fitness, Sauna und so weiter – das ist alles was für Leute ab dreißig oder vierzig. Was soll ich damit? Und hast du schon einmal Teenager gesehen, die in die Berge fahren? Alina fährt mit ihren Eltern nach New York! Warum machen wir das nicht?"

    „Du weißt, dass dein Vater sich im Urlaub erholen will. New York ist eine Stadt, die – na ja, lassen wir das. Ich könnte es mir auch nicht vorstellen. Cindy ... versteh’ doch. Das ist ein wunderbarer Ort, ein wunderbares Hotel und ein wunderbares Angebot in diesen zwei Wochen. Ich freue mich immer riesig darauf. Du bist doch in der Schule so gut – lern’ doch auch da mal ein wenig, zu genießen!"

    „Ich kann das aber nicht. Und ich will es auch nicht!" Verzweifelt ging sie in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

    Sie ließ sich kopfüber auf das Bett fallen und schlug wütend mit der Faust auf das Kissen.

    ‚Warum nur habe ich so blöde, einfallslose Eltern?’, dachte sie.

    Dann tastete sie nach der Stereoanlage, fand den Power-Knopf, und hörte, wie ihre Lieblings-CD zu laufen begann. Sie schloss die Augen und versuchte, an nichts mehr zu denken.

    Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie aufwachte, schnappte sie sich lustlos ein Buch aus ihrem Bücherregal und begann zu lesen – nur, um irgendetwas zu tun.

    Schließlich hörte sie, wie ihr Vater nach Hause kam. In etwa zehn Minuten würde es Abendessen geben. Sie hatte keinen Appetit.

    „Cindy – Essen!"

    „Hallo, Papa", grüßte sie, als sie in die Küche kam.

    „Hallo, Schatz! Was machst du denn für ein Gesicht? Hast du etwa eine Vier in Sport, oder was ist passiert?"

    „Schlimmer."

    „Nein, jetzt ernsthaft?"

    Ihr Vater setzte sich auf und schaute sie an. Er hatte die Ironie offenbar nicht herausgehört. Sie versuchte sie dennoch anzubringen:

    „Zwei Wochen Urlaub in den Bergen."

    Das war ein Fehler. Bevor ihre Stimme verklungen war, sah sie es am Gesicht ihres Vaters.

    „Ach Cindy, hör auf!", sagte er wütend. „Ich hatte heute einen Scheißtag! Viel zu viel zu tun vor dem Urlaub. Dennoch irgendwie hingekriegt. Hab mich jetzt auf den Urlaub und auf dich gefreut – und nun das! Mir reicht’s jetzt!"

    Während seine Stimme immer lauter auf ihren wütenden Höhepunkt zulief, bereute sie, dass es immer wieder so laufen musste und dass sie von niemandem verstanden wurde. Am liebsten hätte sie gerufen: ‚Mir aber auch!’ oder: ‚Warum denkt ihr nicht einmal an mich?’

    Irgendetwas trieb ihr aber immer eine Art Kloß in den Magen, wenn ihr Vater laut wurde, und dieser Kloß verhinderte, dass sie selbst auch so laut wurde. Sie bereute, was sie gesagt hatte, fühlte sich aber gleichzeitig zutiefst verletzt. Mit einem Gefühl von Trauer und Ohnmacht ging sie wieder in ihr Zimmer und schlug erneut die Tür hinter sich zu. Wenigstens die Tür sollte laut sein...

    Sie konnte sich vorstellen, wie ihre Eltern jetzt am Tisch saßen: Entweder missmutig essend oder nun selbst auch noch einen Streit anfangend – wovon sie jedoch zum Glück nichts hörte. Und jetzt war sie auch noch an allem Schuld.

    Warum war das Leben so? Warum war es so ungerecht?

    Sie hatte nicht nur einen schlechten Tag gehabt – er war sogar bis jetzt ganz gut gewesen, bis jetzt! –, sondern sie hatte ganze zwei schlechte Wochen vor sich und sagte nichts, wollte nur einen kleinen Scherz machen. Und selbst das durfte sie nicht. Selbst das wurde ihr verboten, zurückgeschlagen, nicht verstanden, verurteilt. Nichts durfte sie – nicht einmal leiden! Die größte Ungerechtigkeit des Lebens vereinigte sich, alles war gegen sie.

    Sie dachte daran, dass sie nur noch drei Sommerferien durchhalten müsste. Dann war sie achtzehn – und spätestens dann konnte sie doch machen, was sie wollte. Sie atmete aus und fühlte sich von diesem Gedanken erleichtert.

    Keinesfalls würde sie in diesem elenden Vier-Sterne-Hotel bleiben, lieber würde sie den ganzen Tag wandern, egal wohin. Aber allein, nicht etwa mit irgendeiner geführten Gruppe! Und wenn sie dann abends mit wunden, blutenden Füßen zurückkam, dann würden ihre Eltern schon sehen...

    Dieser Gedanke tröstete sie. Sie baute ihn zu einer ganzen Geschichte aus.

    Als sie hörte, dass ihre Eltern ins Wohnzimmer gegangen waren, schlich sie sich ins Bad, putzte sich die Zähne und ließ sich den ganzen Abend nicht mehr blicken.

    Cindy, Frühstück!"

    Früher oder später musste dieser Ruf kommen. Sie erhob sich vom Bett, in dem sie schon einige Zeit wach gelegen hatte – genauer gesagt: auch schon angezogen –, und ging in Richtung Frühstückstisch. Sie wusste nicht recht, wie sie an den gestrigen Abend anknüpfen sollte – oder vielmehr nicht anknüpfen –, und wiederum formte sich ein etwas unbehagliches Gefühl in ihrer Magengegend.

    „Na, Cindy? Bist du gestern einfach so eingeschlafen?"

    Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Vater die Sache von gestern offenbar nicht fortsetzen wollte. Anscheinend hatte er heute sogar wieder gute Laune.

    „Hm."

    Missmut und Verletzung wagten sich wieder etwas hervor und nahmen versuchsweise mit Platz.

    „Komm schon, wir wollen uns heute nicht die Stimmung verderben lassen!", sagte ihr Vater in einem Ton, der freundlich war, aber auch keinen Widerspruch erlaubte – es sei denn, man wollte Gefahr laufen, wiederum genau da zu landen, wo man gestern geendet hatte.

    Die eigenen Gefühle waren aber gar nicht in Stimmung, wie auch? Also begann Cindy schweigend, sich ein Brötchen aufzuschneiden und es mit Butter zu bestreichen. Sie versuchte, fröhlich genug zu gucken, dass sie ihren Vater nicht reizte, trotzdem aber noch immer so verletzt zu sein, wie es ging.

    „Cindy, sagte ihr Vater in bestimmtem Ton. „Wir fahren heute in den Urlaub. Also verdirb uns nicht schon jetzt die Laune. Wir werden jetzt nichts mehr ändern. Aber –, fuhr er in etwas gemäßigterem Tonfall fort, „nächstes Jahr bist du sechzehn. Da werden wir einmal sehen, ob wir für dich etwas organisieren können, was dir besser gefällt."

    Halb versöhnt mit dieser Aussage, der zumindest den Ferien- Leidensweg von drei auf ein Jahr zu verkürzen schien, sagte sie nochmals „Hm" und bemühte sich, hier wirklich ein halbes Entgegenkommen anzudeuten.

    Es schien beim Vater angekommen zu sein, denn er sagte nun zufrieden:

    „Okay."

    Dann nahm er sich ebenfalls ein Brötchen, schnitt es auf, schaute dann seine Frau an, die noch immer abwartete, und sagte:

    „Was ist? Guten Appetit!"

    Es war seltsam. Das weitere Frühstück verlief ohne größere Zwischenfälle. Wie leicht man sich doch in sein Schicksal fügen konnte. Manchmal wünschte sie sich, dass sie größere Zwischenfälle verursachen könnte – so wie andere Teenager. Davon hörte man doch immer – oder sah es doch auch in manchen Filmen? Laute Streits, Türenknallen, fliegende Gegenstände, weglaufende Töchter und Söhne, Szenen, Tränen und vielleicht auch wieder lautstarke Versöhnung...

    Sie konnte das alles nicht. Manchmal, nein eigentlich oft, fühlte sie sich zu normal, zu still, zu brav, zu wenig ... sie selbst. Aber das Laute war sie eben auch nicht. Wer war sie eigentlich?

    Fragen über Fragen, wenn man erst einmal anfing, darüber nachzudenken. Aber sie hatte ja nun zwei Wochen Zeit...

    Wenigstens ihre Ironie war ihr treu.

    Als sie im Flieger saßen, fragte ihr Vater sie leutselig:

    „Na, Cindy, was wirst du als erstes machen, wenn wir angekommen sind?"

    „Wandern."

    „Wie bitte?"

    „Wandern."

    „Das ist wieder ein Scherz, oder?"

    „Ihr wollt doch immer, dass ich was mache – und jetzt glaubt ihr es nicht mal?"

    „Also kein Scherz. Gut. Ja, gut, prima. Großartig. Aber heute wirst du nicht mehr wandern können. Wir kommen gegen vier Uhr im Hotel an. Das reicht gerade noch für einen Spaziergang."

    „Gut, dann eben Spaziergang. Und dann schaue ich mir auf der Karte an, wo ich die nächsten zwei Wochen wandern gehe."

    „Ähm, yep." Einen Moment lang schien ihr Vater die Sprache verloren zu haben, dann sagte er:

    „Aber willst du nicht –"

    Nein, will ich nicht", unterbrach sie ihn entschieden.

    „Okay. Gut. Alles klar. Aber du machst keine Hochgebirgstouren oder so. Alles, was gefährlich ist oder werden könnte, geht nur zu zweit. ... Aber ohne mich."

    „Nein, keine Hochgebirgstouren."

    Etwas verunsichert schaute der Vater sie an. Dann entschloss er sich offenbar, es bei diesem unerklärlichen Rätsel bewenden zu lassen.

    „Gut. Okay. Großartig. Na dann... Dann steht unserem gemeinsamen Urlaub ja nichts mehr im Wege!"

    Mit einer seltsamen Mischung aus Spott und einer rätselhaften Spur von Mitleid wandte Cindy sich dem Fenster zu und betrachtete die Wolken, an denen sie vorüberflog...

    Nach einer Minute sagte sie:

    „Abends können wir ja dann zusammen Canasta spielen."

    „Ja, das machen wir!", sagte ihre Mutter.

    Mit einem kurzen Blick sah sie, dass auch ihr Vater sich zu freuen schien.

    *

    Als sie sich in ihrem eigenen Hotelzimmer zehn Minuten auf dem bequemen Bett ausgeruht hatte, klopfte sie bei ihren Eltern, öffnete die Tür und sagte: „Ich geh’ dann mal."

    „Und wann bist du wieder da?", fragte ihre Mutter.

    „Weiß nicht. In ein, zwei Stunden?"

    „Okay. Hast du dein Handy mit?"

    „Natürlich."

    „Na dann – bis später, also. Wenn wir nicht hier sind, sind wir unten in der Sauna."

    „Alles klar."

    „Viel Spaß!", rief ihr Vater noch schnell, bevor sie die Tür schloss.

    „Danke!"

    Als sie am Empfang vorbeiging, nickte der Mann ihr zu. Wie hieß er noch gleich? Sie vergaß den Namen jedes Jahr. War ja auch nicht wichtig. Nur seine Art, die ihr schleimig vorkam, störte sie jedes Jahr wieder neu.

    Sie trat ins Freie und atmete einmal tief ein.

    Wohin sollte sie gehen?

    Sie ging zuerst durch das Örtchen hindurch und schlug dann einen Weg ein, der nach einigen Stunden zu einem größeren Wasserfall führte. Vor vier Jahren etwa waren sie einmal gemeinsam dort gewesen – damals waren sie alle noch ein paar Mal wirklich gewandert. Sie erinnerte sich, dass es sehr anstrengend gewesen war, doch der Wasserfall war tief eindrücklich gewesen. Ja, sie würde als erstes noch einmal dorthin wandern! Natürlich nicht mehr heute, aber jetzt freute sie sich auf einmal richtig auf morgen. Und was die nächsten Tage dann brachten, nun ja, das würde man sehen...

    Ein kleiner Abzweig führte jetzt zu einer Hütte, wo es Dinge aus Holz zu kaufen gab. Auf ihren kleineren Spaziergängen waren sie hier mehrmals vorbeigegangen – immer nur vorbei. Sie hatten zuhause alles, was sie brauchten. Holz kam nur als Dielenfußboden vor. Wozu brauchte man heute noch Holz?

    Irgendetwas zog sie heute jedoch dorthin. Sie war ja alleine und brauchte sich nach niemandem zu richten. Warum sollte sie sich die Hütte und die Dinge, die es dort gab, nicht wenigstens einmal anschauen?

    Mit einem Gefühl der Neugier und der ungebundenen Freiheit betrat sie den kleinen Weg und ging auf die Hütte zu. Vor dem Eingang standen einige größere Figuren. Was sie wohl darstellten?

    Auf halbem Wege erkannte sie sie. Es waren Engel. Enttäuscht fühlte sie ihre Neugier abflauen. Was wollte sie mit Engeln? Das war ja wieder typisch! Berglandschaft, Engel, alles schön kitschig, altmodisch und so weiter...

    Sie überlegte kurz, ob sie umkehren sollte. Aber das Gefühl der Freiheit war noch da, offenbar auch noch ein Rest Neugierde, also einmal kurz ansehen und schauen, ob drinnen noch etwas anderes zu finden war.

    Sie wollte geradewegs hineingehen, da fiel ihr Blick wenige Meter vor der Tür noch einmal auf einen Engel – und ließ ihre Schritte anhalten.

    Verwundert ruhte ihr Blick auf diesem Engel. Kurz fühlte sie den Impuls, auch die anderen Engel genauer zu betrachten, doch sie konnte, nein, wollte den Blick von diesem nicht abwenden. Dies war überhaupt kein kitschiger Engel! Dies war – wie sollte man sagen – ein ... wirklicher Engel. In menschlichen Worten hätte man sagen müssen, er habe so etwas wie Charakter, aber es war ein Engel, es war mehr als Charakter. Es war unbeschreiblich. War es das, was man ‚Erhabenheit’ nannte? Jedenfalls hatte sie sich so immer einen Engel vorgestellt, genau so. Man brauchte keine Worte, um zu wissen, wie ein Engel aussehen musste, der ein wirklicher Engel war. Man wusste es entweder oder wusste es nicht. Noch nie hatte sie einen Engel wie diesen gesehen...

    Sie wusste nicht, wie lange sie so dagestanden war. Als sie ihren Blick endlich von dem Engel löste, trafen ihre Augen auf ein anderes Augenpaar.

    Sie erschrak heftig, und ihr Herz schlug bis zum Hals – bis sie begriff, dass sie einem alten Mann gegenüberstand, der in die Tür getreten war und sie weiß ich wie lange angeschaut hatte. Doch das Begreifen war eines, die Wirkung auch dieses Blickes ein anderes. Während ihr Schrecken sich legte, fühlte sie auch jetzt eine seltsame Sehnsucht, nicht irgendwoanders hinzuschauen. Sie fühlte sich von diesem Blick eingehüllt, aufgenommen, Wärme, Geborgenheit...

    Dann begann wieder ihr Kopf zu denken, und sie realisierte, dass sie schon seit ewigen Sekunden einen alten Mann anstarrte – sie schlug die Augen nieder und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.

    „Äh ... ich..."

    „Guten Abend, hörte sie die warme Stimme des alten Mannes. „Du hast also den Engel betrachtet, hm?

    In dieser Frage lag nichts, was zu einer Antwort zwang. Die Geborgenheit erstreckte sich bis in die Worte hinein...

    „Ja..."

    Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie kam sich dumm und klein vor – und zugleich auch nicht.

    „Warum...?", hörte sie wieder diese wunderschöne Stimme.

    „Hast du etwas gesehen...?"

    Sie schaute den alten Mann an, dann blickte sie kurz auf den Engel und wandte ihren Blick wiederum dem Mann zu, unsicher und geborgen zugleich...

    „Ich... Er sieht aus ... wie ein Engel..."

    Eine Sekunde später wurde ihr der Sinn ihrer Worte bewusst.

    Sie wollte aufgrund dieses Unsinns schon im Erdboden versinken, als ihr auffiel, dass der Mann sie weder auslachte, noch sein Blick sich verändert hatte.

    „Das ist gut...", sagte er jetzt stattdessen.

    „Ich wollte das nicht beurteilen –", fügte sie hastig hinzu.

    „Ich weiß", erwiderte der Mann ruhig. „Ich meinte, es ist gut, dass du es siehst."

    Erstaunt sah sie den Mann an.

    „Dass ich es sehe?"

    „Ja. Du hast einen Unterschied empfunden. Einen Unterschied zu anderen Schnitzereien oder Figuren. Das war es doch, was du sagen wolltest?"

    „Ja, sagte sie verunsichert. „Aber woher wissen Sie das?

    „Du hast es doch selbst gesagt", lächelte der Mann. Und indem sich sein warmes Lächeln noch vertiefte, fügte er hinzu: „Die Frage ist eher: Woher weißt du es?".

    „Woher weiß ich was?"

    „Dass du das Bild eines wirklichen Engels gesehen hast?"

    Verwirrt blickte Cindy den alten Mann an und versuchte nachzudenken. Woher wusste sie es?

    „Das weiß ich nicht. ... Ich habe mir einen Engel immer so vorgestellt."

    „Genau so, wie er dasteht?"

    „So, wie er ist. Nicht, ob er so oder anders dasteht, sondern wie er ist. So ist ein Engel, habe ich mir immer vorgestellt."

    Der alte Mann nickte langsam.

    Sie sah ihn an und wartete auf eine nächste Frage, bereit, ihm alle Fragen zu beantworten...

    „Und ... hast du sie dir nur vorgestellt?"

    Völlig unvorbereitet wurde sie von dieser Frage getroffen. Wiederum musste sie nachdenken. Hatte sie sich Engel überhaupt richtig, wirklich vorgestellt? Oder trug sie in sich einfach irgendwo eine Vorstellung, ohne sonst jemals an Engel zu denken? Sie hatte das Gefühl, den alten Mann zu enttäuschen – mit einer Antwort, die sogar noch hinter diesem ‚nur’ zurückblieb...

    „Ich ... wie meinen Sie das?"

    „Ach nichts. Ich dachte nur ... manchmal gibt es Menschen, die sich Engel nicht nur vorstellen, sondern auch eine Verbindung zu den realen Engeln fühlen oder suchen. Zumindest manchmal... Bei fünfzehnjährigen Mädchen ist das zugegebenermaßen recht selten."

    Der letzte Satz war von einem verschmitzten Lächeln durchzogen, dennoch fühlte Cindy eine seltsame Trauer, zu diesen fünfzehnjährigen Mädchen zu gehören.

    „Woher wissen Sie, wie alt ich bin?"

    „Das kann man doch sehen."

    In ihrem Kopf kreiste alles.

    „Und Sie?"

    „Wie alt ich bin?"

    „Nein, ich meine ... fühlen Sie eine Verbindung zu den realen Engeln?"

    In dem Moment, wo sie die Frage aussprach, wusste sie schon die Antwort. Sie hatte die Antwort schließlich selbst gesehen.

    Der alte Mann sah, dass sie ihre Frage selbst beantwortet hatte und nickte bedächtig...

    „Möchtest du hereinkommen?"

    „Ja, gerne."

    Sie folgte der einladenden Geste seines Armes und betrat einen größeren Raum, der offenbar als Ausstellungs- und Verkaufsraum diente. Trat man in diese Häuschen und Hütten in den Bergen ein, hatte man immer ein wenig das Gefühl, in ein Dämmerlicht zu kommen, aber irgendwie mochte sie das, und ihre Augen gewöhnten sich schnell daran. Nun sah sie, dass auf Regalen, Tischen und Standflächen der unterschiedlichsten Art zahlreiche weitere Werke des alten Mannes standen.

    Staunend ging sie langsam umher und betrachtete die Stücke. Es gab Tiere aller Art; große, kleine, Gemsen, Murmeltiere, Kühe, Schafe, Wölfe, Hunde, Rehe, kleine Mäuse... Es gab eine große Krippe und einige Madonnen. Vorsichtig nahm sie eine kleine Eidechse in die Hand, die aussah, als ob sie gleich unter den nächsten Stein schlüpfen wollte. Sanft und vorsichtig streichelte sie ihr über den Rücken und stellte sich vor, dass sie echt wäre.

    Voller Bewunderung fragte sie:

    „Haben Sie ... das alles selber gemacht?"

    Wieder blickte sie in ein lächelndes Antlitz.

    „Ja, das habe ich."

    „Und Sie verkaufen das alles? Ich meine – Sie leben davon?"

    Ihr fiel auf, dass sie noch keinen anderen Menschen gesehen hatte, auch auf dem Weg nicht.

    „Ich brauche nicht viel Geld. Aber, ja, zum Teil bekomme ich es für die Dinge, die du hier siehst."

    Fast tat ihr die mangelnde Aufmerksamkeit für diese wunderschöne Hütte leid. Andererseits passte es auch dazu...

    „Aber es kommt doch fast niemand hierher?"

    „Einige Menschen kommen schon jeden Tag. Es gibt aber auch welche, die nur einmal im Jahr kommen und mit sehr vielen dieser Werke wieder gehen... Und es gibt welche, die gar nicht kommen, aber einen großen Auftrag haben. Mach dir um die Zahl der Menschen, die kommen oder nicht kommen, keine Sorgen."

    Dass der alte Mann keine Geldsorgen hatte, beruhigte sie, dennoch war das Gefühl noch immer da.

    „Ich meine nur ... Sie haben so viele schöne Sachen gemacht ... das müssten doch alle Menschen, die hierherkommen, wissen, das sollten doch alle sehen..."

    Fragend blickte sie ihn an.

    Leicht schüttelte er den Kopf und sagte:

    „Es sehen nicht alle, was du siehst. Die meisten sehen es nicht."

    Sie spürte, dass sie etwas rot wurde.

    „Was sehe ich denn?"

    Ruhig lächelte der alte Mann. Nach einer kleinen Pause sagte er schlicht:

    „Du siehst sehr viel."

    Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie hatte das Gefühl, ein solches Lob gar nicht zu verdienen. Aus dem Munde des alten Mannes hatte es nicht so geklungen wie das Lob von Lehrern, Müttern oder Vätern. Er hatte es einfach so gesagt, wie man eine Beobachtung aussprach. Aber trotzdem – sie wollte nicht im Mittelpunkt stehen...

    Sie versuchte, das Thema zu wechseln.

    „Wir sind gerade vorhin angekommen."

    Fragend blickte ihr Gegenüber sie schweigend an. Plötzlich kam ihr ihre Bemerkung äußerst blöd vor. Schnell fügte sie hinzu:

    „Also ich meine, ich und meine Eltern. Wir machen hier zwei Wochen Urlaub."

    „Ich verstehe. Seid ihr zum ersten Mal hier?"

    Beschämt wurde ihr wiederum klar, dass sie noch nie zuvor diese Hütte besucht hatten – auch sie nicht. Erneut fühlte sie die Hitze in sich aufsteigen und stotterte:

    „Nein, wir, äh, wir kommen fast jedes Jahr her, ich meine, seit vier, fünf Jahren..."

    Fast unmerklich schüttelte der alte Mann den Kopf, nahm sich einen Stuhl, der in der Nähe stand, und sah ihr, nachdem er sich hingesetzt hatte, fest in die Augen.

    „Wie heißt du denn?"

    „Cindy."

    „Gut, Cindy. Schau mal. Mit meiner Frage wollte ich gar nichts weiter sagen. Ich wollte einfach nur fragen, was ich gefragt habe. Ihr könntet auch schon zehn Jahre hierherkommen, und du könntest heute zum ersten Mal hierhergekommen sein – oder auch heute nicht. Das ist doch deine freie Entscheidung."

    Sie fühlte sich von diesem Blick und dem Ton seiner Stimme wie getragen, natürlich auch von dem Inhalt seiner Worte. Verwirrt wurde sie sich klar darüber, dass sie alles Mögliche dachte, was er nicht gesagt hatte. Eigentlich kam ihr das sehr oft vor – wie oft eigentlich? Während die Gedanken in ihrem Kopf kreisten, hörte sie wieder die Stimme des Gesichtes, in dessen Augen sie noch immer blickte:

    „Vorhin hast du doch noch empfunden, wie schade es ist, dass nicht mehr Menschen hierherkommen. Das war doch etwas Wunderbares! Wie könnte ich dann gerade dir je angedeutet haben, dass du häufiger hierherkommen solltest? Ich würde das niemals tun. Bei niemandem."

    Beschämt wurde ihr aus allem, was sie wahrnahm, klar, dass das wirklich völlig unmöglich war. Dieser Mann hatte etwas, was sie nicht kannte, was sie bisher bei keinem Menschen

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