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Big Deal: Thriller
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eBook489 Seiten6 Stunden

Big Deal: Thriller

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Über dieses E-Book

DER NEUE BENVENUTI-THRILLER VOLLER TEMPO, ACTION UND WITZ - Spannung und Unterhaltung auf höchstem Niveau!

Der Chemiker Fidel hat seinen Boss, den kolumbianischen Drogendealer Salinas, an die Polizei verpfiffen und taucht, ausgestattet mit einem neuen Gesicht, in Prag unter. Natascha Heller, eine junge, ungestüme Drogenfahnderin in Wien, wird nach einer Meinungsverschiedenheit mit ihrem Chef beurlaubt. David Schrot würde gerne gute Romane schreiben, kommt aber über die ersten Seiten nicht hinaus und hält sich mit miesen Drehbüchern über Wasser. Von einem Kurier erfährt Salinas, wo Fidel sich versteckt hält, und schickt drei Männer nach Prag, die ihn aufspüren und liquidieren sollen. Natascha Heller wird durch Zufall auf den Plan aufmerksam und folgt der Fährte der Männer.
David Schrot, der auf eine gute Story hofft, heftet sich seinerseits an Nataschas Fersen, bereit, ein gewisses Risiko für die Kunst einzugehen.

Jürgen Benvenuti gelingt mit Big Deal ein Buch, das ohne viel Blutvergießen auskommt und dennoch alle Qualitäten hat, die einen guten Thriller auszeichnen: rasantes Tempo, interessante Figuren und überraschende Wendungen, gewürzt mit einer großen Portion hintergründigem Witz und Situationskomik.

"Ein spannender Thriller (nicht nur) für alle Prag-Fans, das Buch transportiert den Charm der Stadt - ein echtes Lesevergnügen!"

WEITERE BÜCHER DES AUTORS:
Kolibri
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum1. Juni 2012
ISBN9783709974148
Big Deal: Thriller

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    Buchvorschau

    Big Deal - Jürgen Benvenuti

    Prag."

    EINS

    Wien, ein Jahr später.

    „Wenn uns ein Wagen folgt, bist du tot", sagte der Mann neben Natascha und hielt ihr eine Pistole an die Schläfe. Natascha versuchte, ängstlich dreinzuschauen, was ihr mühelos gelang. Der Mann lachte. Seine beiden Kollegen, die vorne saßen, grinsten spöttisch. Natascha musterte sie. Bullige Typen, kurze dunkle Haare, Bartschatten, billige Anzüge. Sie sprachen gut Deutsch, aber ein Akzent, serbisch, kroatisch, war nicht zu überhören. Sie gaben sich selbstsicher, obwohl sie nervös waren. Weil sie nervös waren.

    Der zehn Jahre alte Mercedes mit der stumpfen roten Lackierung löste sich vom Straßenrand und reihte sich in den Verkehr ein. Natascha Heller drehte sich um, warf einen Blick aus dem Heckfenster und sah den Vienna International Airport mit seinen Baustellen entschwinden. Der Mann neben ihr kurbelte das Fenster herunter, beugte sich hinaus, betrachtete die ihnen folgenden Autos und nickte zufrieden. Er legte die Pistole neben sich, klopfte Natascha auf die Schulter und lächelte ihr zu. Natascha lächelte zaghaft zurück. Du musst unsicherer wirken, sagte sie sich. Das ist dein erstes Mal, du musst Blut und Wasser schwitzen. Denk an was Schlimmes. Sie dachte an ihren Vater, und sofort stand ihr Schweiß auf der Stirn.

    „Alles in Ordnung?", fragte der Mann neben ihr.

    Natascha nickte und kurbelte ihr Fenster herunter. Sie fächelte sich frische Luft zu. Der Himmel war von einem blassen Blau, in dem die leichte Frühlingskälte zu ahnen war. Kleine Wolken wurden vom Wind getrieben. Als sie auf die A4, die Flughafenautobahn, abbogen, kurbelte Natascha das Fenster wieder hinauf. Niemand war ihnen gefolgt, richtig? Falsch. Hoffte sie zumindest. Allein konnte sie diese Sache nicht erfolgreich über die Bühne bringen.

    „Dein erstes Mal?", fragte der Beifahrer.

    „Ja." Lohmann, ihr Chef, war dagegen gewesen, aber Natascha hatte gemeint, das wäre eine einmalige Gelegenheit, und die müssten sie nützen. Sie hatte ihn überzeugen können. Nein, nicht überzeugen. Überreden.

    „Wo ist das Zeug?, fragte der Mann neben ihr. „Da drin? Er deutete auf den blauen Rucksack, der zwischen Nataschas Knien klemmte.

    „Ja, sagte Natascha, „da drin. In zwei Thermoskannen. Wollt ihr sie sehen? Sie zog den Reißverschluss des Rucksackes auf, aber der Mann schüttelte den Kopf.

    „Später. Im Hotel." Er kurbelte sein Fenster hinauf.

    „Du bist alt, sagte der Beifahrer. „Ich dachte, du würdest Anfang zwanzig sein.

    „Ich bin dreiundzwanzig", sagte Natascha. Sie war dreißig, und sie hatte sich gut gehalten, wie sie fand.

    Der Beifahrer musterte sie misstrauisch. „Gib ihm dein Ticket", sagte er und deutet auf den Mann neben ihr.

    „Ich versteh das nicht, sagte Natascha und hoffte, dass sie den weinerlichen Tonfall nicht übertrieb. „Ich hab doch das Zeug, hier drin. Sie klopfte auf den Rucksack.

    „Ticket."

    Natascha griff in den Rucksack und holte ein zerknittertes Ticket heraus. Sie reichte es dem Mann neben ihr, der es aufmerksam studierte. „Wie war dein Flug?", fragte er.

    „Lang und langweilig."

    „Wie lang genau?"

    „Insgesamt fast vierundzwanzig Stunden. Wenn man die zwei Stunden, die ich in Madrid auf den Anschlussflug warten musste, mitzählt."

    Test bestanden? Offensichtlich schon. Der Mann gab ihr das Ticket zurück. Natascha ließ es im Rucksack verschwinden und hoffte, dass keiner der Männer auf die Idee kam, ihren Pass zu verlangen. Der Pass war der Schwachpunkt der ganzen Geschichte, wie Lohmann ihr vor rund einer Stunde im Büro der GBA erklärt hatte.

    „Wenn sie den Pass sehen wollen, bist du aufgeschmissen."

    „Die werden den Pass nicht sehen wollen."

    „Weshalb nicht?"

    „Weshalb schon? Ich bin eine Frau, ich bin jung, ich hab einen blauen Rucksack mit drei Kilo Koks, versteckt in zwei Thermoskannen, ich steige in einen roten Mercedes, in dem drei Männer sitzen, also muss ich Elsie DeGroot sein. Keiner der Männer kennt sie, keiner hat sie je gesehen, es ist ihr erstes Mal."

    „Trotzdem gefällt mir die Sache nicht."

    „Ich nehm Fichtinger als Rückendeckung mit."

    „Trotzdem."

    Die Idee war Natascha gekommen, als sie Elsie DeGroot betrachtet hatte, die auf dem Sofa saß und Rotz und Wasser heulte. Sie hatte kein Mitleid mit der blöden kleinen Kuh. Wer sich so dumm anstellte, verdiente es, erwischt zu werden. Natascha hatte ihr drei Fragen gestellt und gewusst, dass sie wieder eine Kundin hatte. Dauer des Chileurlaubs? Vier Tage. Beruf? Studentin. Erste oder zweite Klasse? Erste. Verdächtig? Keine Spur. Zehn Sekunden später hatte sie das Koks gefunden. Elsie DeGroot war die fünfte junge Mitteleuropäerin, die sie in ebenso vielen Wochen geschnappt hatten. Jede hatte zwischen zwei und vier Kilo erstklassiges Koks bei sich gehabt, amateurhaft versteckt. Was hier ablief, war klar: jemand mit guten Verbindungen und ein bisschen Geld versuchte, in Wiens Drogenmarkt Fuß zu fassen. Obwohl es Aufgabe der Kripo gewesen wäre, die Hintermänner ausfindig zu machen und zu schnappen, war nie etwas geschehen. Bei Botin Nummer fünf hatte Natascha gedacht, wenn die Bullen zu faul sind, machen wir es eben selber.

    „Gibt es noch etwas, das du vergessen hast?, hatte Natascha gefragt. „Codes, Erkennungszeichen?

    Elsie DeGroot hatte den Kopf geschüttelt und sich den Rotz aus dem Gesicht gewischt. Sie war dreiundzwanzig und wirkte wie fünfzehn. Wie viel würde sie bekommen? Drei Kilo, aber Ersttäterin und kooperativ. Zwei Jahre? Wahrscheinlich. Sie hatten ihr das Ticket besorgt und tausend Euro bezahlt. Noch mal soviel bei Lieferung. Tolles Geschäft …

    „Träumst du?" Der Mann neben ihr stieß sie an der Schulter.

    Natascha schreckte aus ihren Gedanken. „Ich bin nervös. Ich verstehe nicht, wo wir hinfahren. Ich will einfach nur mein Geld." Mittlerweile waren sie in der Stadt, Wiedner Gürtel, vorbei am Südbahnhof, überall Autos, keine Chance, Fichtinger ausfindig zu machen. Sie drehte sich nicht um.

    „Wir sind gleich da. Aber vorher machen wir noch einen kleinen Ausflug."

    Das Grinsen, das seinen Spruch begleitete, gefiel Natascha nicht.

    Beim Matzleinsdorfer Platz, einem belebten Verkehrsknotenpunkt, dessen graue Betonhässlichkeit nur durch den märchenhaft schönen angrenzenden Evangelischen Friedhof gemildert wurde, blieb der Mercedes stehen. Autos hupten, Busse krochen an ihnen vorbei. Der Mann neben Natascha öffnete die Tür und bedeutete ihr auszusteigen. Mierda. Wenn die Übergabe hier auf der Straße stattfand, war die Sache gelaufen.

    „Da runter." Der Mann, eine Einkaufstasche in der Hand, zeigte auf die Treppe, die zu den Straßenbahnen hinabführte.

    Natascha schaute sich unauffällig um, konnte aber niemanden erkennen, der wie Fichtinger ausschaute. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und ging nach unten. Der Mann folgte ihr dicht.

    „Links, sagte er, als sie unten angekommen waren, „zum Klo.

    Sie gingen schweigend. Ihre Schritte hallten in dem unterirdischen Gang. Die wenigen Leute, die auf die Straßenbahn warteten, lehnten an der weißgekachelten Wand und schauten zu Boden. Das Licht war stumpf. Natascha spähte über die Schulter zu ihrem Begleiter. Wenn der Typ irgendwas vorhatte, würde sie in fertigmachen.

    Beim Klo blieben sie stehen. Stechende Gerüche waberten durch die geschlossenen Türen. Der Mann nahm ihr den Rucksack ab, drückte ihr die Einkaufstasche in die Hand. „Da drin ist Gewand, sagte er. „Zieh das an. Deines legst du in die Tasche. Alles, auch Unterwäsche und Schuhe.

    Natascha wollte protestieren, blieb aber stumm. Ein Kurier widerspricht nicht. Ein Kurier denkt nur an sein Geld und tut alles, was ihn diesem Geld näher bringt. Sie presste die Tasche an sich und stieß die Tür auf. Der Gestank nahm ihr den Atem. Sie suchte eine freie Kabine und zog sich aus. Die Kleidungsstücke – blaue Bluse, H&M-Jeans, Leinenturnschuhe, alles vom Fundbüro des Flughafens und daher umsonst – legte sie auf den Spülkasten, der von Zigarettenbrandnarben gezeichnet war. Als sie nur noch BH und Höschen trug – fünf Euro im Abverkauf bei H&M, das schmerzte ein bisschen –, zögerte sie kurz, dann zog sie sich komplett aus.

    Drei Minuten später stand sie wieder draußen. Sie trug ein enges weißes T-Shirt, schlecht sitzende Jeans und billige Plastikturnschuhe. Ihr eigenes Gewand befand sich in der Tasche.

    „Alles drin?", fragte der Mann und wühlte durch die Tasche. Hielt kurz inne, als er ihr Höschen betastete. Grinste.

    Natascha ließ sich nicht dazu herab zu nicken. „Mir ist kalt", sagte sie.

    „Dann nichts wie rauf ins Auto", sagte der Mann und warf die Tasche mit dem Gewand und den blauen Rucksack beiläufig in den nächsten Mistkübel.

    „Und was ist mit meinen Sachen?", fragte Natascha. Im Rucksack hatten sich neben dem Koks und dem Ticket noch ein paar Toiletteartikel und Taschenbücher von Elsie DeGroot befunden.

    Wortlos drückte ihr der Mann eine unbedruckte Tragtasche in die Hand, in der sich die beiden Thermoskannen und ihr Ticket befanden. Der Rest war offenbar unwichtig.

    Auf dem Weg die Treppe hinauf fragte sich Natascha, ob sie die drei Männer nicht unterschätzt hatte. Sicher, sie waren Amateure. Die Organisation der Lieferungen, die Verstecke fürs Koks, das alles sprach eine eindeutige Sprache. Dennoch … Ihr das Gewand und den Rucksack abzunehmen und damit versteckte Wanzen nutzlos zu machen, war nicht blöd. Das war sogar ziemlich clever. Und clever war gleichbedeutend mit gefährlich.

    Als sie wieder im Auto saßen und den Margaretengürtel hinauf Richtung Westbahnhof fuhren, wirkten die Männer entspannter. Sie redeten miteinander, rissen Witze, lachten. Auch Natascha merkte, wie ihre Anspannung nachließ. Sie schaute die drei Männer an und wusste, dass sie ihr keine Probleme bereiten würden. Sie kannte Typen wie sie: kleine Fische, die ihr ganzes Leben davon träumten, zu Haien heranzuwachsen.

    „Wir sind gleich da, sagte der Beifahrer. „Unser Boss bekommt sein Zeug, du bekommst dein Geld, und alle sind glücklich.

    Ihr werdet so verdammt glücklich sein, dachte Natascha, dass ihr gar nicht mehr aufhören könnt zu lachen. Ungefähr die nächsten fünf Jahre nicht.

    Sie blieben stehen. Natascha war nicht überrascht, dass sie sich vor einem großen Hotel am Mariahilfer Gürtel befanden. Hier wurden des Öfteren Übergaben abgewickelt. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie nicht früher daran gedacht und dafür gesorgt hatte, dass jemand das Hotel im Auge behielt, nur für alle Fälle. Zu spät.

    Der Fahrer parkte direkt am Gürtel. Sie stiegen aus. Hinter ihnen malte ein Arbeiter die Markierungen für die Parkzonen nach. Die nach Apfel riechende Farbe erinnerte Natascha an den Garten ihrer Mutter.

    Sie gingen hinein, der Fahrer als Erster, dann Natascha, dahinter der Beifahrer und der Mann mit der Pistole, die vom Sakko bedeckt in seinem Hosenbund steckte. Der Fahrer marschierte zur Rezeption, übernahm das Reden. Natascha schaute sich um, keine Spur von Fichtinger. Nur Hotelgäste, die zum Lift gingen, an der Rezeption standen und nach Stadtplänen verlangten oder in einem der gepolsterten Sessel saßen und Zeitung lasen.

    „Vierter Stock", sagte der Fahrer. Sie gingen zum Lift. Schweigend fuhren sie nach oben. Langsam wird es eng, dachte Natascha. Sie war allein, hatte keine Waffe, und von Fichtinger war nichts zu sehen. Wichtig war, die Übergabe über die Bühne gehen zu lassen. Ware gegen Geld. Es musste eindeutig sein, so eindeutig, dass selbst der gewiefteste Verteidiger ihre Aussage nicht würde zerpflücken können. Und dann würden die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen. Keine Waffe, keine Rückendeckung. Wie sollte sie vier Männer überwältigen? So viele würden es mindestens sein, die drei hier und einer oben. Ihr Herz schlug schneller. Angst? Nein, Aufregung. Adrenalinkick.

    Die Lifttür öffnete sich mit einem leisen Klingeln. Sie stiegen aus. Graue Teppiche, cremefarbene Textiltapeten, weiter vorne eine Treppe, auf der ein Mann in Anzug und Krawatte herunterging. Fichtinger? Statur passte. Gesicht? Zu schnell.

    Links, vierte Tür, der Fahrer klopfte einmal, kurze Pause, dann noch zweimal. Raffiniert.

    Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Mann streckte seinen Kopf heraus, musterte den Fahrer, Natascha, ihre beiden Begleiter. Der Fahrer nickte, die Tür ging ganz auf, alle traten ein, der Beifahrer schloss sie. Die Männer setzten sich auf zwei Sofas und unterhielten sich auf Serbisch oder Kroatisch. Natascha verstand kein Wort. Sie ging im Zimmer auf und ab, nestelte an den Griffen der Tragtasche herum, beobachtete die Männer aus den Augenwinkeln. Als sie sicher war, dass keiner herschaute, ging sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Dann trat sie zum Beistelltisch zwischen den Sofas und legte die Tasche drauf.

    „Du warst gut, sagte der vierte Mann. „Du hast deine Arbeit gemacht und keine blöden Fragen gestellt. Vielleicht haben wir in Zukunft noch mehr Jobs für dich.

    Natascha versuchte, eine angemessene Mischung aus Dankbarkeit und Ängstlichkeit zu zeigen. Mehr als ein linkisches Achselzucken gelang ihr nicht.

    „Setz dich", sagte der vierte Mann. Auch er trug einen Anzug und hatte kurzes, dunkles Haar, aber Anzug und Haarschnitt waren besser und teurer als bei seinen Kollegen.

    Natascha setzte sich ihm gegenüber.

    „Ich bin Dragan, sagte der Mann. „Wie heißt du?

    „Elsie", sagte Natascha ohne zu zögern.

    „Elsie. Schöner Name. Dragan musterte sie. „Dann wollen wir mal sehen, was die schöne Elsie uns mitgebracht hat. Er holte die beiden Thermoskannen aus der Tasche und schraubte eine davon auf. „Elsie ist doch richtig, oder?"

    Natascha nickte und spürte Schweiß ihren Rücken hinunter rinnen. Fichtinger, dachte sie, hier bin ich. Vierter Stock, viertes Zimmer links, Tür ist offen.

    Dragan zog das längliche Paket heraus, riss die Folie auf und entnahm ihm ein wenig Kokain.

    „Hören Sie, sagte Natascha, „ich will nichts mit all dem hier zu tun haben. Ich will nur mein Geld.

    Dragan schenkte ihr ein gönnerhaftes Lächeln. „Wir möchten nur sichergehen, dass dir das Kokain nicht unterwegs runtergefallen ist und du aus Versehen zwei Kannen voll Kreatin oder zerstampftem Aspirin mitgebracht hast, Elsie. Du heißt doch Elsie, oder?"

    Mierda, dachte Natascha.

    Während er das Kokain zu einer Line legte, sagte Dragan: „Du bist doch Belgierin. Warum sprichst du so gut Deutsch?"

    „Mein Freund kommt aus Berlin."

    „Berlin, hm? Komisch, du redest Deutsch wie eine Österreicherin, Elsie. Er beugte sich über den Tisch und zog die Line hoch. Nickte befriedigt. „Gut. Du hast uns kein Aspirin geliefert. Er starrte ihr in die Augen, sagte: „Zeig mir deinen Pass, Elsie aus Belgien."

    „Der war im Rucksack, den der da weggeworfen hat." Natascha deutete auf den Mann, der sie zum Klo begleitet hatte.

    „Das stimmt nicht, sagte der Mann. „Ich hab den Rucksack genau durchsucht. Da war kein Pass drin.

    „Also, sagte Dragan gedehnt, „wo ist der Pass?

    Natascha packte die volle Thermoskanne und schlug sie Dragan mit aller Wucht gegen den Kopf, dann sprang sie auf und trat dem Mann neben ihm, der nach seiner Pistole greifen wollte, gegen die Brust. Das Sofa kippte um, Natascha verpasste dem Beifahrer einen Schlag in den Bauch, machte einen Satz übers Sofa, schnappte sich die Pistole, packte den am Boden liegenden Dragan, zerrte ihn zur Tür, hielt ihm die Mündung an den Hals, keuchte, schrie: „Ihr seid alle festgenommen! Hände hinter den Kopf und runter auf die Knie!"

    Dragan versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, Natascha packte sein Haar noch fester, riss seinen Kopf nach hinten, stemmte ihr Knie in seinen Rücken, zischte: „Sei friedlich, stieß die Tür halb auf, brüllte: „Fichtinger!, schaute wieder zu den anderen drei Männern, die nähergekommen waren, Dragan schrie ihnen etwas zu, das Natascha nicht verstand, Natascha schrie auch, die drei Männer brüllten herum, kamen immer näher, Natascha, die linke in Dragans Haar verkrallt, hob die rechte Hand mit der Pistole, zielte auf den Beifahrer, der ihr am nächsten war, hoffte, er würde stehenbleiben, wollte nicht auf ihn schießen, sie hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, wollte es auch nie tun, vor allem nicht heute, Anfang April, das Wetter herrlich, vor ihr drei Männer, „Fichtinger!", sie kommen immer näher, Dragan richtet sich auf, er ist zu stark, sie kann ihn nicht länger halten, der Beifahrer greift nach ihrer Waffe …

    … und die Tür flog auf, knallte gegen die Wand, ein Mann in Anzug und Krawatte, eins neunzig groß, hundert Kilo, kahl geschorener Schädel, stürmte herein, walzte den Beifahrer nieder, stieß ihn zurück gegen die beiden anderen Männer, einer von ihnen ging zu Boden, versuchte sich aufzurappeln, der Mann im Anzug richtete eine Dose Pfefferspray nach vorne, gab jedem der drei einen gerechten Anteil, erntete dafür Husten und Keuchen.

    „Na endlich", sagte Natascha und verpasste Dragan, der ihr langsam auf die Nerven fiel, einen Schlag in die Nieren. Dragan ging röchelnd zu Boden und hielt sich die Seite.

    „Tut mir leid, sagte Fichtinger. „Ich war mir nicht sicher, in welchem Zimmer ihr seid. Hab erst unten fragen müssen.

    Der Rest war Routine. Handschellen, Fotos, Beweismittelaufnahme. Fichtinger hatte alles Notwendige in einer Aktentasche, die er vor dem Hotelzimmer deponiert hatte. Nach einer knappen Viertelstunde, als die Kripobeamten eintrafen, um die vier Männer mitzunehmen, hatte sich der durchdringende Geruch des Pfeffersprays schon fast verzogen.

    Sie parkten den Wagen auf der vierten Ebene und fuhren mit dem Lift nach unten. Der Weg zur Eingangshalle glich einem Hindernisparcours. Schmale Gehflächen führten am Parkhaus 1 vorbei, an Asphaltstreifen entlang, denen Männer mit Pressluftbohrern zu Leibe rückten, verliefen zwischen Rohbauten, die vor drei Wochen noch nicht dort gestanden waren, und zubetonierten Flächen, auf denen sich vor einem Monat ein Büro befunden hatte. Der Vienna International Airport war eine einzige Baustelle. Lärm und Staub hingen in der Luft. Als Natascha und Fichtinger die Straße überquert und die Halle betreten hatten, blieben sie stehen und genossen die relative Ruhe.

    „Alles klar bei dir?", fragte Fichtinger und warf ihr diesen väterlichen Blick zu, den Natascha liebte oder hasste, je nach Situation.

    „Klar, sagte Natascha, „was soll sein? Die Aktion war ein voller Erfolg, oder nicht?

    „Du wirkst nervös."

    „Das kommt vom Adrenalin. Rauscht immer noch durch meine Adern."

    „Du solltest dich ein wenig ausruhen."

    „Du meinst: Urlaub machen."

    Fichtinger grinste. Er kannte Natascha lange und gut genug, um zu wissen, was er ihr sagen durfte und was nicht. Urlaub machen gehörte definitiv nicht zu ihren Lieblingsausdrücken. Natascha war ein Workaholic.

    „Ich hab Hunger, sagte sie und deutete zum McDonald’s. „Möchtest du auch was?

    Fichtinger klopfte sich auf den Bauch. „Diät."

    „Dein Pech. Wir sehen uns vor der Kirche. Ich hab keine Lust, mit Dobler zu sprechen. Magister Dobler war der Chef der Abteilung Personenverkehr und ihr Vorgesetzter. Er hatte keine Ahnung von Ermittlungsarbeit, was ihn nicht davon abhielt, alle mit seinen nutzlosen Anweisungen einzudecken. Er war praktizierender Katholik, daher der Spitzname „Kirche für sein Büro, in dem man wahrhaft Gottesfurcht lernen konnte.

    Nachdem sie sich von ihm einen Zehner geborgt hatte, ging Fichtinger den Schlüssel für den Kombi holen. Natascha trabte zum McDo, wo sie zwei Big Mac und einen Erdbeermilchshake kaufte. Vitamine waren wichtig. Sie schlang den ersten Big Mac hinunter, schlürfte ihren Shake und schlenderte herum. Trotz weltweiter Terrorangst ging es auf dem Flughafen Wien relativ gemächlich zu. Die niedrigen Räume und das gedämpfte Licht erzeugten eine etwas gedrückte Stimmung, die, wie Natascha fand, gut zur sprichwörtlichen Morbidität der Stadt passte.

    Sie schaute hinüber zur Kirche, die sich im linken hinteren Bereich der Ankunftshalle befand. Kein Fichtinger. Musste sich wahrscheinlich wieder kluge Ratschläge anhören. Natascha würgte den zweiten Big Mac runter, trank ihren Shake aus, spazierte weiter. Fuhr mit der Rolltreppe nach unten, wo sich die Haltestellen für die S-Bahn und den neuen CAT, den Hochgeschwindigkeitszug, der den Flughafen mit dem Stadtzentrum verband, befanden.

    Sie ging die Treppe zum Bahnsteig hinunter und holte sich ein Mars aus dem Selecta-Automaten, dessen roter Lack den einzigen Farbtupfer in der ansonsten grauen Röhre darstellte. Auf dem Weg zurück nach oben kam ihr ein junger Mann entgegen. Mitte zwanzig, Dreadlocks, Kinnbart, Lederjacke mit Fransen. Der Mann verhielt sich nicht auffällig. Er fuhr einfach nur die Rolltreppe hinunter. Dennoch registrierten Nataschas Sensoren etwas, eine winzige Vibration nur, dann war der Mann an ihr vorbei und die Vibration verschwunden.

    Vor der Kirche wartete Fichtinger bereits ungeduldig auf sie. Natascha warf den leeren Becher und die Marsverpackung in einen Mistkübel und folgte ihrem Kollegen nach draußen. Sie stiegen in den dunkelblauen Mitsubishi, Fichtinger hinter dem Steuer, und fuhren Richtung Vorfeld zum Büro der GBA, der Gruppe für besondere Aufgaben, ihrem Arbeitsplatz. Die beiden Posten winkten ihnen zu und zogen die Schranke hoch.

    Sie rollten am Vorfeld entlang, passierten riesige Flugzeuge, deren Lack im Sonnenlicht funkelte, niedrige gelbe Wagen, die Container mit Koffern transportierten, und einen Pumpwagen, der die Klos der Flieger leersaugte. Betankt wurden die Vögel über im Boden verlaufende Leitungen, und wenn wie im Moment das Vorfeld ausgeweitet wurde, musste die Asphaltdecke aufgerissen werden, um die Rohre neu zu verlegen. Noch mehr Baustellen.

    Schließlich kamen sie beim Büro an. Zwei Räume, je knappe vierzig Quadratmeter, zwei Schreibtische pro Raum, zwei Computer, ein Drucker. Ein braunes Sofa, dahinter eine Kochecke mit Küchentisch. An den Wänden Regale aus Holz, Weltkarten, Lohmanns Schützenabzeichen, ein Poster einer halbnackten Frau (von Lohmann aufgehängt) und eines mit einem muskulösen Mann, der einen Stringtanga trug (Nataschas Werk). Hinten gab es ein kleines Klo. Neonröhren verbreiteten ein fahles Licht, das von der niedrigen Decke aus weißen Rigips-Platten zurückgeworfen wurde. Auf eine leicht heruntergekommene Weise war das Büro gemütlich, und solange Computer und Kaffeemaschine funktionierten, fühlte sich Natascha hier wohl.

    Fichtinger warf die Aktentasche auf seinen Schreibtisch und schälte sich aus seinem Sakko. Natascha holte sich einen Kaffee, schaltete den Computer ein und überlegte sich, ob sie sich umziehen sollte. Nein. Das konnte warten. Noch war Arbeit zu erledigen. Sie fing an, ihren Bericht zu tippen, als Lohmann hereinkam, sie mit einem knappen Nicken begrüßte und sich aufs Sofa fallen ließ.

    „Wie ist es gelaufen?", fragte er und strich über seinen dunklen Bart.

    „Ganz gut", sagte Fichtinger.

    „Perfekt, sagte Natascha und hackte weiter mit zwei Fingern auf die Tastatur ein. „Wie schreibt man Thermoskanne, mit H oder ohne?

    „Mit T", sagte Fichtinger.

    „Witzig", sagte Natascha, suchte im Internet ein Wörterbuch, wurde fündig und grunzte zufrieden.

    Lohmann hievte sich aus dem Sofa, ging zum Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Milch ein. „Dobler will dich sehen."

    „Wen, mich?", fragte Fichtinger.

    Lohmann schüttelte den Kopf und deutete auf Natascha. „Nein, sie."

    „Warum?, fragte Natascha. „Will er wieder über meine Telefonrechnung diskutieren? Vor zwei Wochen hatte Dobler ihr ein Mail geschrieben und Natascha aufgefordert zu erklären, warum ihre Telefonrechnung im Vormonat 91 Euro ausgemacht habe. Natascha hatte zurückgeschrieben, dass die Telefonrechnung deshalb 91 Euro ausgemacht habe, weil sie um 91 Euro telefoniert hatte. Dobler hatte das gar nicht witzig gefunden, sie in sein Büro zitiert und förmlich verwarnt. Natascha hätte ihm am liebsten eine aufgelegt. Drei Tage zuvor hatte sie einen Typen mit vier Kilo erstklassigem Kokain geschnappt, Straßenverkaufspreis einige Hunderttausend Euro, und sie musste sich wegen einer läppischen Telefonrechnung rechtfertigen.

    „Er will sich mit dir über die Aktion heute Mittag unterhalten", sagte Lohmann und ließ sich aufs Sofa fallen. Die Milch schwappte über und klatschte auf sein Hemd. Mit einem unterdrückten Fluch rubbelte er an dem Fleck herum.

    „Du hast dein Okay gegeben, Fichtinger und ich haben die Typen geschnappt, was gibt’s da noch zu besprechen? Wenn er Details wissen will, soll er meinen Bericht lesen." Sie tippte weiter, die Augen zusammengekniffen, die Zunge zwischen den Zähnen eingeklemmt. Berichte schreiben war verdammt harte Arbeit.

    Lohmann wischte sich den Milchschnurrbart aus dem Gesicht. „Er will mit dir über deine Einstellung reden."

    „Verdammt!", sagte Natascha.

    „Na komm, meinte Fichtinger, „vielleicht wird’s gar nicht so schlimm.

    Natascha hob den Kopf, verwirrt. „Alois, was redest du da? Ich hab aus Versehen einen Absatz gelöscht, das ist alles."

    Fichtinger grinste und verdrehte die Augen.

    „Morgen, sagte Lohmann, „so gegen Mittag. Ich hab ihm gesagt, dass du kommst.

    Verbissen tippte Natascha weiter.

    „Hast du gehört?"

    Tippen.

    „Natascha?"

    „Ja, hab’s gehört", sagte sie leise und trank den lauwarmen Kaffee aus.

    „Lass ihn reden, das ist das Beste. Er redet sowieso für sein Leben gern. Hör zu und nick an den richtigen Stellen, dann hat er das Gefühl, dass er seine Mission erfolgreich erfüllt hat und die ganze Angelegenheit ist vorbei. In Ordnung?"

    „Okay, sagte Natascha. Nach einiger Zeit hatte sie ihren Bericht beendet, druckte ihn aus, überflog ihn ein letztes Mal und setzte ihre Hieroglyphen drunter. Dann schaute sie sich um und sagte: „Wo ist die kleine Belgierin?

    „Elsie?, fragte Lohmann. „Die liegt im anderen Büro und schläft.

    Fichtinger schüttelte verwundert den Kopf. „In zehn Minuten kommt die Kripo und holt sie ab und sie schläft. Ich versteh die nicht."

    „Wen? Frauen oder Schmuggler?", fragte Natascha.

    „Menschen", sagte Fichtinger, der Eins-neunzig-Buddha mit dem Pfefferspray und der Pistole.

    Das Telefon klingelte. Fichtinger hob ab, grunzte ein paar Mal, legte wieder auf. „Wess. Er wartet vorne bei der Kirche."

    „Was will der denn hier?", fragte Natascha.

    „Er holt die Belgierin."

    „Nein, der will hier herumschnüffeln. Er hat gehört, dass wir die Dealer geschnappt haben, und jetzt ist er sauer, weil wir den Job, für den eigentlich er zuständig wäre, erledigt haben. Vermutlich beschwert er sich gerade bei Dobler wegen Übertretung von Zuständigkeiten."

    Fichtinger gähnte. „Mir wurscht. Ich weiß, dass du Wess nicht magst, aber er ist hier, um die Kleine zu holen, das ist alles."

    „Wess ist blöd wie ein Stein, aber nicht ganz so gutaussehend, sagte Natascha. „Was der bei der Kripo verloren hat, weiß er selber nicht.

    Lohmann stand auf. „Entspann dich, Natascha, sagte er. „Du hast die Typen geschnappt, und wir alle wissen das. Schalt einen Gang runter.

    „Okay, sagte Natascha. „Er will die Belgierin, er soll sie haben. Sie stand auf, öffnete die Verbindungstür zum anderen Büro und schrie: „Elsie, aufwachen, die Bullen sind da!"

    „Oh mein Gott", stöhnte Fichtinger und warf Lohmann einen Blick zu. Der schüttelte nur stumm den Kopf.

    Natascha wartete ungeduldig, bis Elsie aufgewacht war, sich den Schlaf aus den Augen gerieben und ihre Schuhe gebunden hatte. Kaum war sie wieder halbwegs wach, fing sie an zu weinen. „Streck die Arme aus, sagte Natascha und legte ihr Handschellen an, ziemlich weit gestellt, damit sie nicht ins Fleisch schnitten. „Gehen wir.

    Auf der Fahrt zurück zur Eingangshalle sprach niemand ein Wort. Natascha starrte aus dem Fenster und schaute einer Boeing beim Starten zu. Sie konnte den Ruck beim Abheben beinahe spüren. Als Fichtinger den Mitsubishi auf den Parkplatz rollen ließ, holte Natascha ein Tempo aus dem Handschuhfach und putzte Elsie die Nase. „Ich hab in meinen Bericht geschrieben, dass du uns geholfen hast."

    Elsie musterte sie aus rotverheulten Augen. „Und was bedeutet das?"

    Natascha warf das Tempo zurück ins Handschuhfach. „Ein Jahr weniger, wenn du Glück hast."

    Elsie nickte zögerlich, dann fing sie wieder an zu weinen. Natascha überlegte sich einen tröstenden Spruch, Kopf hoch, wird schon wieder, alles halb so schlimm, aber sie blieb stumm. Die Kleine würde für mindestens zwölf Monate hinter Gitter wandern, und wenn sie wieder draußen war, würde sie aufgrund ihrer Vorstrafe kaum einen ordentlichen Job finden. Tröstende Worte waren hier fehl am Platz.

    „Komm", sagte Natascha und nahm sie am Ellbogen. Fichtinger öffnete die Tür. Sie betraten die Halle durch einen Seiteneingang, gingen vor zur Kirche, schauten sich um. Kein Wess.

    „Typisch", sagte Natascha.

    „Wahrscheinlich ist er noch da drin", sagte Fichtinger und deutete auf Doblers Büro.

    „Ich geh da nicht rein. Wenn er was will, soll er zu uns kommen."

    Sie standen da und warteten, als Natascha den jungen Mann erblickte, den sie vorhin auf der Rolltreppe zur S-Bahn gesehen hatte. Was machte der hier? Inzwischen mussten mehrere S-Bahnen gefahren sein, die konnte er nicht alle verpasst haben. Wieso geht jemand zur S-Bahn hinunter, wenn er nicht damit fährt? Sie wandte sich an Fichtinger, sagte: „Warte hier."

    Der Mann betrat den Zeitschriftenladen direkt bei der Eingangstür und kam nach wenigen Sekunden mit einem Computermagazin wieder heraus. Scheinbar planlos schlenderte er herum und bewegte sich zum zweiten Ausgang, der hinter dem McDonald’s lag. Natascha folgte ihm. Irgendetwas stimmte an dem Typen nicht. Zuerst geht er zur S-Bahn und fährt nicht damit, dann marschiert er den ganzen Weg zum zweiten Ausgang, obwohl er den Flughafen schon weiter hinten hätte verlassen können. Und die ganze Zeit schaut er sich so auffällig unauffällig um.

    Sie hatte den Mann eingeholt. Ging neben ihm her, musterte ihn aus den Augenwinkeln. Groß, dürr, Dreadlocks, Lederjacke, alles wie gehabt. Er war nervös. Sogar verdammt nervös. Das hier war ein Kunde, da war sich Natascha sicher.

    Sie stellte sich vor ihn hin und sagte: „Darf ich fragen, was Sie hier machen?" Blieb höflich, so lange es ging. Schließlich gab es Zeugen.

    Der Mann stoppte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er ließ das Magazin fallen, bückte sich und hob es mit zitternden Fingern wieder auf. Dann schaute er Natascha aus glasigen Augen an.

    Kiffer, dachte sie. Bingo. „Ich hab Sie vorhin bei der S-Bahn unten gesehen. Jetzt sind Sie hier oben. Warum?"

    Der Mann räusperte sich, schaute an Natascha vorbei Richtung Ausgang, schaute wieder zu Natascha, fragte: „Sind Sie von der Polizei?"

    „Zoll."

    „Haben Sie einen Ausweis?"

    „Hinten, in meinem Büro. Warum kommen Sie nicht mit, dann klären wir die Situation?"

    Der Mann machte ein paar tänzelnde Schritte zur Seite. „Welche Situation, ich versteh nicht?"

    „Ich habe den Verdacht, dass Sie im Besitz einer illegalen Substanz sind." Sie liebte diesen Ausdruck.

    „Sie glauben, dass ich …?"

    „Genau."

    „Hören Sie, er hob die Arme, „das muss ein Missverständnis sein, ich hab doch bloß … Er schlug ihr das Magazin ins Gesicht und versuchte, an ihr vorbeizurennen, aber Natascha war schneller, packte ihn an der Hand, der Mann wollte sich losreißen, ein helles Knacken ertönte, der Mann schrie auf und Natascha spürte, wie seine Hand schlaff in der ihren wurde, und wusste, dass er sich, oder sie ihm, das Handgelenk gebrochen hatte.

    Der Mann riss sich los und rannte Richtung Ausgang. Natascha folgte ihm. Wurde von einer Gruppe Geschäftsleute, die adrette Köfferchen hinter sich herzogen, behindert. Als sie es endlich nach draußen geschafft hatte, sah sie, wie der Mann in einen bunt bemalten Opel einstieg, der mit quietschenden Reifen davonschoss. Das Nummernschild konnte sie nicht erkennen.

    Schwitzend und keuchend ging sie wieder in die Halle. Du kannst nicht immer gewinnen, tröstete sie sich. Sie trabte zurück zu Fichtinger, neben dem sich mittlerweile Wess eingefunden hatte. Wess war klein und hatte sandfarbenes Haar. Er hielt Elsie am Ellbogen und wirkte aufgeregt.

    „Ich hab alles gesehen, sagte er zu Natascha. „Sie haben ihn festgehalten, das ist nach dem neuen Gesetz illegal. Außerdem haben Sie ihn verletzt. Ich bin Zeuge, und Ihr Kollege Fichtinger auch.

    „Ich hab auf die Gefangene aufgepasst, sagte Fichtinger, „da kann ich nicht blöd durch die Gegend glotzen.

    „Hallo, Wess, sagte Natascha. „Ich hab gewusst, dass ich heute noch was Hässliches sehe. Wie geht’s Ihrer Exfrau? Immer noch glücklich mit diesem Arzt verheiratet?

    Wess setzte ein gemeines Lächeln auf und sagte: „Das wird ein Nachspiel haben. Morgen früh liegt mein Bericht auf dem Schreibtisch von Magister Dobler."

    Natascha schenkte ihm einen Kussmund und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Elsie, die dem Wortwechsel gebannt gefolgt war, starrte auf Nataschas Füße und grinste.

    „Was?", fragte Natascha.

    Elsie deutete auf Nataschas Plastiklatschen mit den Klettverschlüssen und sagte: „Schicke Schuhe."

    Natascha lachte. Verdammt, sie liebte diesen Job.

    ZWEI

    Im Halbschlaf dachte David Schrot über ein Naturgesetz nach: Mussten Handwerker im Haus etwas reparieren, so geschah das immer in der Wohnung über, unter oder neben einem. Von diesem Gesetz leitete sich ein weiteres ab: War die Tätigkeit lärmintensiv, so wurde sie am frühen Vormittag, in diesem Fall gegen acht, durchgeführt. Er versuchte, das dröhnende Bohrgeräusch zu ignorieren und wieder einzuschlafen. Nach einer halben Stunde gab er sich geschlagen. Er stand auf, tapste den Gang entlang und riss die Wohnungstür auf, um den Handwerkern die Meinung zu geigen, als der Lärm ebenso abrupt stoppte, wie er angefangen hatte. Oh happy day.

    Er legte sich ins Bett, konnte aber nicht mehr schlafen. Er bemerkte, dass der Fernseher eingeschaltet war. Offensichtlich war er wieder mal die ganze Nacht auf Home Shopping Europe gerannt. Christine Kaufmann erzählte mit entrücktem Lächeln, dass eine Blutorange etwas Heiliges sei. David segnete sie und schaltete sie ab. Gähnend trottete er in die Küche, suchte Kaffee, fand ein paar armselige Brösel. Gut, kein Kaffee. War sowieso ungesund. Er zwang ein Glas Milch hinunter und holte die Post.

    Der Briefträger war gerade beim Einsortieren. David deutete auf die 33 und bekam einen dünnen Packen in die Hand gedrückt. Zeitung, Werbeblättchen, Telefonrechnung und einen Umschlag von seinem Vater aus Kärnten. Seit David senior nach seiner Pensionierung die grenzenlose Welt des Computers entdeckt hatte, schickte er seinem Sohn regelmäßig selbst gebrannte CDs und DVDs. David fand die Geste als solche nett, ließ das Zeug aber meist ungehört und ungesehen irgendwo liegen. Er öffnete die Telefonrechnung. 11 Euro 30. Soviel zu seinem Sozialleben. Er warf die Werbeblättchen und leeren Umschläge in den Altpapiercontainer und las den Zettel auf dem Schwarzen Brett. Zwischen 9 und 16 Uhr würde das Wasser abgedreht. David entdeckte das klein gedruckte Datum. Achter April. Heute. Wie spät war es gewesen, als er aufgestanden war? Kurz nach halb neun? Oh happy day.

    Er rannte die Treppen hinauf, warf die Post auf den Boden und drehte das Wasser in der Küche auf. Außer einem asthmatischen Röcheln kam nichts aus dem Hahn. Wütend trat er gegen den Kühlschrank. Er setzte sich an den Küchentisch, las die Zeitung und würgte sein gesundes Müsli hinunter. Die Bauchschmerzen bildete er sich, wie jeden Morgen, nur ein. Um halb zehn, als ihm nichts mehr einfiel, womit er noch Zeit

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