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Aufgeben ist nicht mein Weg: Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft
Aufgeben ist nicht mein Weg: Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft
Aufgeben ist nicht mein Weg: Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft
eBook207 Seiten2 Stunden

Aufgeben ist nicht mein Weg: Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft

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Über dieses E-Book

"Aufgeben ist nicht mein Weg", sagen 13 junge Zuwanderer und schildern ihre Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem. Ihre Geschichten stehen beispielhaft für die Schwierigkeiten, die Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsbiographie überwinden müssen. Dennoch handelt es sich um "Erfolgsgeschichten".
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2011
ISBN9783867932974
Aufgeben ist nicht mein Weg: Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft

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    Buchvorschau

    Aufgeben ist nicht mein Weg - Verlag Bertelsmann Stiftung

    Autoren

    Porträt Ali Doğan

    »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« So war ich. So bin ich bis heute.

    Ich treffe Ali Doğan in einem großbürgerlichen Restaurant. Wir setzen uns an einen Tisch inmitten der barocken Dekoration: Schwere Bilderrahmen hängen an den Wänden, opulente Stuckleisten zieren die hohe Decke, die weiblichen Bedienungen servieren mit weißer Schürze. Ali legt seine zwei Handys neben sich auf den Tisch, die in den nächsten drei Stunden gelegentlich summen. Bei jedem Klingeln schaut Ali kurz auf das Display, ohne die Telefonate anzunehmen, während er unbeirrt weiterredet.

    Ali hat einen akkuraten Kurzhaarschnitt, er trägt eine moderne Brille, ein graues Sakko, weißes Hemd, Krawatte, ausgebleichte Jeans und Lederschuhe. Er trinkt einen Cappuccino, dazu stilles Wasser, und hat keine Scheu, offen über sich, seine Familie und seinen Glauben zu reden. Wovon er stets zu wenig hat, ist Zeit. Ali Doğan ist ein rastloser Mensch. Er redet in hoher Frequenz und benötigt nicht mehr als wenige Stunden Schlaf pro Nacht, wie er sagt.

    Ich weiß nicht genau, vielleicht machen das alle Kinder auf der Welt. Ich denke aber, bei mir war es besonders ausgeprägt: Meine Eltern erzählen mir, ich hätte als Kind schon immer gesagt, ich würde später Arzt oder Rechtsanwalt werden. Wahrscheinlich entsprang das meinem dringenden Wunsch heraus, meinen Eltern zu helfen. Mein Vater Ihsan, 58, ist seit 25 Jahren erwerbsunfähig. Er hat jahrelang als Gerber gearbeitet. Meine Mutter Yeter, 56, schuftet seit über 30 Jahren als Hilfsarbeiterin in einem Papierverarbeitungsunternehmen. Bald geht sie in Frührente. Ich habe einen Bruder, er heißt Can, 31, er ist geschieden. Meine Schwester Özlem, 32, ist verheiratet und hat ein Kind. Ich bin ledig und habe eine Freundin, sie heißt Sevil, 24. Dass ich heute mein Jurastudium beendet habe und vor dem 2. Staatsexamen stehe, habe ich vor allem der Unterstützung und Liebe meiner Familie zu verdanken.

    Mein Vater stammt aus Sivas und ist 1972 nach Deutschland eingewandert. Er war Gerbermeister und sollte in Mainz-Bingen in der Möbelindustrie arbeiten. Später ist er ins Metallgewerbe gewechselt. Das Unternehmen meiner Mutter produziert Staubsaugerbeutel. Sie beide waren zeit ihres Lebens als Hilfsarbeiter beschäftigt. Meine Mutter muss noch bis zur Mitte dieses Jahres arbeiten, dann geht sie in Rente. Die Behinderung meines Vaters ist für jemanden, der ihn nicht kennt, kaum sichtbar. Er bewegt sich normal. Schwere Arbeiten kann er aber nicht mehr tun. Die Bandscheiben seines Rückens sind demoliert. Er hat einen Schwerbehindertenausweis. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie beide eine romantischere Vorstellung vom Auswandern hatten. Am Ende bestand ihr Leben fast ausschließlich aus harter Arbeit und den körperlichen Folgen davon. Wer weiß, wie es ihnen in der Türkei ergangen wäre, wenn sie nicht nach Deutschland aufgebrochen wären.

    Mein Vater hat in der Türkei immerhin eine Oberschule besucht. Sie ist mit unserem Gymnasium vergleichbar. Im letzten Jahr vor seinem Abschluss hat er sie damals abgebrochen. Meine Mutter hat die 1. Klasse einer Grundschule absolviert. Mein Großvater mütterlicherseits war ein gebildeter Mensch, er hat aber, soweit ich weiß, niemals eine Schule frequentiert. Er war ein alevitischer Geistlicher, ein Dede, der im Umkreis von 200-250 Kilometern seiner Gemeinde Gebete und Zeremonien geleitet hat. Mein Opa väterlicherseits war ebenfalls sehr gebildet. Er war Händler und hat in der Provinz Sivas Viehzucht betrieben. Sivas liegt im östlichen Anatolien. Übrigens bezeichnet man als Anatolien den gesamten asiatischen Teil der Türkei, das wissen die wenigsten. Jedenfalls war mein Opa Händler. Er konnte zwei kurdische Sprachen, Arabisch und Türkisch. Er war wohlhabend, deshalb bekam mein Vater die Gelegenheit, in der Hauptstadt Ankara die Schule zu besuchen. Meine Mutter hatte dagegen eine schwierige Kindheit. Ihre Mutter ist gestorben, als sie zehn Jahre alt war. Danach musste sie das Haus führen, kochen, bügeln, putzen. Sie wusch auch die Wäsche ihres Vaters und ihrer Brüder, die alle arbeiteten. Ihre Schwestern waren bereits verheiratet. Das ist der Grund, weswegen meine Mutter kaum eine Schule besucht hat.

    Meine Eltern lernten sich im Heimatort meiner Mutter kennen. Es war damals üblich, dass man sich bei Hochzeiten begegnete, zu denen auch Gäste aus den umliegenden Dörfern eingeladen wurden. Auf einem dieser Feste hat mein Vater meine Mutter gesehen, er fand sie sehr hübsch und hat dann über Mittelsmänner den Kontakt gesucht. Natürlich hat er sie nicht einfach angesprochen. Das war damals nicht möglich. Auch unter Aleviten nicht. Meine Familie ist alevitischen Glaubens und ich bin Vorsitzender des Bundes der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V.

    Das Alevitentum ist der einzige Glaube, der über die Jahrhunderte nur mündlich tradiert wurde, und zwar u.a. durch die Musik mit einer Saz, einem anatolischen Saiteninstrument. Wir folgen keinem Buch, wie Moslems dem Koran oder die Christen der Bibel. Das wird jedoch auch unter uns Aleviten differenziert betrachtet, und so gibt es immer noch im Programm der Alevitischen Gemeinde Deutschlands, unserem Dachverband, eine Passage, die besagt, dass das Alevitentum eine islamische Konfession sei. Ich persönlich und eine immer größer werdende Gruppe sehen das anders. Wir glauben, dass das Alevitentum ein eigenständiger Glaube ist. Die Tatsache, dass wir Aleviten offen über solche Meinungsverschiedenheiten diskutieren können, halte ich für progressiv und richtig. Die Werke der Aleviten wurden vernichtet. Aus diesem Grund wird die Saz auch als der »Koran mit Saiten« bezeichnet. Wie gesagt, meine Eltern heirateten später und mein Vater kam 1972 nach Deutschland. Er wurde mit einer größeren Gruppe aus Familienmitgliedern vorgeschickt, um eine Arbeit aufzunehmen. Ein Jahr später sollten die Frauen nachgeholt werden. Das war der Plan. Einige der Männer kehrten jedoch wieder zurück. Andere blieben, auch mein Vater. Er holte 1973 meine Mutter nach. Sie traten die große Reise ins Ungewisse also getrennt voneinander an. Sie zogen nach Bingen, später nach Gummersbach und ab 1979 nach Herford bei Bielefeld.

    Mit fünf Jahren kam ich in den Kindergarten. Nicht nur dort, gleichgültig, in welche Schule ich später kam, war ich der sogenannte Exot. Gut, es gab in der Grundschulklasse einen anderen Jungen türkischer Herkunft. Streng genommen habe ich eigentlich einen kurdischen Hintergrund. Aber, was heißt das schon: Kurde oder Türke - ich unterscheide da nicht großartig, wichtig sind für mich menschliche Qualitäten, nicht die Nationalität. Im Kindergarten aber war ich das einzige ausländische Kind. Auf meinem Gymnasium später gab es vielleicht unter tausend Schülern fünf oder sechs türkischer Herkunft.

    Im Vergleich zu meinen Geschwistern konnte ich schnell sehr gut Deutsch sprechen. Ich glaube, es lag daran, dass meine Geschwister schon ein wenig Deutsch konnten und sie mir als Vorbild dienten. Ich konnte mit ihnen auch zu Hause Deutsch sprechen, während sie als die älteren Kinder zu Hause mit meinen Eltern die türkische Sprache pflegten. So wurde ich bereits in der Grundschule nicht nur Klassen-, sondern auch Jahrgangsstufenbester. Ich erinnere mich an einen Tag, als wir im Mathematikkurs einmal einen Test schreiben sollten, bei dem es darum ging, wer am schnellsten die Aufgaben löste: Ich trat am Ende des Tests im Finale gegen einen anderen Jungen an. Er löste die fünf Aufgaben zweifelsohne schneller als ich. Er hatte aber zwei Fehler. Ich keinen einzigen. Alle gratulierten mir und klatschten. Es war ein Gefühl von Anerkennung und Respekt, der mir gezollt wurde. Ich habe das bis heute nicht vergessen.

    Diese Form von Anerkennung kannte ich von zu Hause nicht. Wie denn auch. Meine Eltern konnten mir keine Hausaufgabenhilfe geben. Sie sprachen ungenügend Deutsch. Meine Mutter kannte nicht einmal die Notenskala von 1 bis 6. Natürlich wollte sie, dass ich erfolgreich bin, und sie hat auch alles dafür getan, mich dabei zu unterstützen. Aber sie hätte auch nicht mitbekommen, wenn ich in der Schule nicht erfolgreich gewesen wäre.

    Einmal bekam ich in einer Matheklausur eine Drei plus, das war die beste Note der Klasse. Die Arbeit war insgesamt schlecht ausgefallen. Als ich nach Hause kam und sie meiner Mutter zeigte, sagte sie, ich solle mir keine Sorgen machen, das nächste Mal würde es wieder besser werden. Ich hatte sonst immer Einsen in Mathe. Weil meine Mutter mich aber nicht verstand, hat es mich stark aufgeregt und ich habe gesagt: »Mutter, das ist die beste Klausur der Klasse gewesen, verstehst du nicht?! Ich habe eine Drei plus!« Aber sie dachte weiterhin, es wäre total mies für mich gelaufen. An ihrer Version hält sie bis heute noch fest, wenn man sie darauf anspricht.

    Aus Büchern vorgelesen wurde bei mir zu Hause nicht. Nur ein Mal hat mir mein Vater etwas vorgelesen, das werde ich auch niemals vergessen. Ich war krank, hatte 40 Grad Fieber. Ich muss elf, zwölf Jahre alt gewesen sein. Da hat mir mein Vater aus einem Buch von Aziz Nesin etwas vorgetragen, einem türkischen Schriftsteller, der sich bis zu seinem Tode als stolzen Atheisten bezeichnete und dafür in der Türkei verfolgt wurde. Wir hatten sehr viele politische Bücher zu Hause. Mein Vater las sehr gern Sachbücher und politische Schriften. Für eine türkische Familie aus unserem Milieu hatten wir viele Bücher, 200 bis 300, würde ich sagen. Mit anderen Einwandererfamilien war das nicht zu vergleichen. Bei keinem meiner Freunde standen so viele Bücher herum wie bei uns. Meine Freunde waren zumeist Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien, ein Kosovo-Albaner war dabei, auch Türken, Jugoslawen, Italiener. Zusammen besuchten wir gern die Stadtbücherei. Wir lasen Comics von »Lucky Luke« und »Asterix und Obelix«, oder auch Sachbücher. Der Hit unter uns aber war: das Guinnessbuch der Rekorde. Das haben wir verschlungen.

    Weil meine Eltern mich schulisch kaum unterstützen konnten, war ich gezwungen, frühzeitig sehr schnell eigenständig zu Hause zu lernen. Ich rettete mich daher in den Fleiß und würde sogar sagen, ich war gewissermaßen ein Musterschüler, einer, der nach der Schule direkt nach Hause ging und als Erstes seine Hausaufgaben machte, bevor es zum Spielen ging. Es war wie ein Prinzip von mir, das ich mit diesem deutschen Sprichwort am besten getroffen fühle: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« So war ich. So bin ich bis heute: Wenn Arbeit liegen bleibt, beschäftigt sie mich. Deshalb ist es besser, ich schaffe sie weg, bevor sie mich schafft. Ich glaube, dieses Prinzip wurde mir von meiner Mutter übertragen. Mein Vater - und ich meine das hier durchaus positiv - ist ein fauler Mensch, ein Schöngeist, der Muße benötigt, um seine Gedankenwelt zu durchdringen. Meine Mutter erzählt immer die Anekdote, mein Vater habe in den wenigen Jahren, in denen er gearbeitet hat, 20 Wecker zerstört, weil er sie gegen die Wand schmiss, sobald sie ihn weckten. Meine Mutter dagegen ist eine Frau, die immer arbeitet und sich nicht gehen lässt, bevor die Arbeit fertig ist. Den Fleiß habe ich also von ihr, die Neugier zum Lesen und zum Studieren von meinem Vater bekommen.

    Nach der Grundschule sollte ich aufs Gymnasium. Obwohl ich Klassen- und Jahrgangsbester war, empfahl meine Lehrerin meinen Eltern, mich auf eine Realschule zu schicken. Sie war der Meinung, ich könne Probleme auf dem Gymnasium bekommen. Kurz: Sie traute es mir und meiner Familie nicht zu. Glücklicherweise war mein Bruder bei der Besprechung dabei. Er hat einen Aufstand gemacht. Das muss man sich vorstellen, er war ja gerade einmal sechs Jahre älter als ich, aber er hat der Lehrerin mit dem Anwalt gedroht, wenn ich nicht diese Empfehlung für das Gymnasium erhalte. Mein Bruder wollte nicht, dass mir dasselbe Schicksal wie ihm und meiner Schwester widerfährt. Sie waren durchschnittliche Schüler und hatten es nur bis zur Hauptschule geschafft. Das hat ihm zugesetzt, und er wollte mir diesen Weg ersparen. Alles, was mein Vater und meine Mutter nicht verstanden und also auch nicht für mich durchsetzen konnten, übernahm mein Bruder. Er ist ein Vorbild für mich, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte. Am Ende gehörte ich auch dort zu den Jahrgangsbesten. Aber um dies zu erreichen, musste ich lernen, mich gegen Widerstände zu wehren, einen eigenen Kopf zu entwickeln und gegen die Isolation, die man als Nichtdeutscher in einer deutschen Schulklasse manchmal spürt, anzukämpfen.

    Ich kann mich etwa an ein Gespräch erinnern, das ich mit unserem Beratungslehrer in der 11. Jahrgangsstufe geführt habe. Ich hatte damals zehn Einsen im Zeugnis und eine Zwei plus. Er hat mich zu sich gerufen und gemeint: »Ali, ich kenne Sie ziemlich lange und war auch vorher Ihr Klassenlehrer. Wie es aussieht, werden Sie als Ausländer das beste Abitur in der Geschichte der Schule machen - ich bin richtig stolz auf Sie. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Weg abbringen.« Ich habe damals gedacht: Was ist Besonderes daran, dass ausgerechnet ein Ausländer wie ich das beste Abitur in der Geschichte der Schule macht? Warum hat er meiner nichtdeutschen Herkunft besondere Gewichtung gegeben? Am Ende hatte ich dann einen Notenschnitt von 1,3 - was nicht ganz zum besten Abi aller Zeiten gereicht hat.

    Die Wahl meines Studiengangs war eine Sommerferienentscheidung. Ich hätte gern ein geisteswissenschaftliches Studium gewählt. Sprachen mochte ich auch sehr gerne, aber dann dachte ich, später würde ich keinen Job bekommen, wenn ich etwa Germanistik oder Philosophie wählen würde. Dann habe ich über BWL nachgedacht, aber ich fand, nur Snobs studieren Wirtschaftswissenschaften. Als wären Juristen keine Snobs. Dann habe ich also mein Jurastudium begonnen, obwohl ich nicht sonderlich zufrieden war mit meiner Entscheidung. Die Rechtswissenschaften und ich lebten zunächst in einer Vernunftehe. Ich habe diese Entscheidung aus Pflichtgefühl

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