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Der blutige Pfad Gottes: 9 mm para bellum
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Der blutige Pfad Gottes: 9 mm para bellum
eBook546 Seiten6 Stunden

Der blutige Pfad Gottes: 9 mm para bellum

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Über dieses E-Book

Der Tod lauerte verborgen hinter einem Gebüsch und wartete geduldig auf Xaver Wolfram, der die Stille des Bergparks genoss. Jeden Sonntag ging er in den frühen Abendstunden, bevor die strahlen der untergehenden Sonne hin- ter den Baumwipfeln verschwanden, über die verlassenen Wege. Es war die Zeit, wo er Abstand von seiner Arbeit gewann und neue Kraft in der Ruhe des
Parks fand. Die Touristen waren bereits wieder auf dem Heimweg, und lediglich die Einheimischen hielten sich noch in dem Bergpark auf. Seine Weitläufigkeit erlaubte es, dass man, sobald man die
breiten Wege verließ, auf den schmaleren Pfaden weitestgehend alleine war. In wenigen Wochen würden sich die Blätter der Bäume rot und gelb verfärben und einen prächtigen Farbzauber hervorrufen. Xaver freute sich auf diese Zeit, in der die Natur noch einmal ihre große Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellte und das nahe Ende des Jahres ankündigte. Nachdem er an der großen Schlossanlage vorbeigegangen war, um sich tiefer in die Parkanlage zu begeben, begegnete ihm ein älteres Paar, das Hand in Hand auf das Schloss zuging. Er bewunderte die Vertrautheit und Innigkeit, die die beiden alten Menschen ausstrahlten. Kurz nach dieser Begegnung schritt er an einer jungen Frau vorüber, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, der ihr nur widerwillig folgte. Sie warf Xaver einen misstrauischen Blick zu, als würde er unlautere Absichten verfolgen, und blieb auf Distanz zu ihm. Offenbar war sie alleinstehend und befürchtete, dass er einen
Annäherungsversuch machen würde. Doch in diesen Stunden der Ruhe stand ihm nicht der Sinn nach Gesellschaft. Ein müdes Lächeln zeigte sich kurz auf seinem Gesicht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2014
ISBN9783943948387
Der blutige Pfad Gottes: 9 mm para bellum

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    Buchvorschau

    Der blutige Pfad Gottes - Andreas Groß

    Autors

    1

    Der Tod lauerte verborgen hinter einem Gebüsch und wartete geduldig auf Xaver Wolfram, der die Stille des Bergparks genoss.

    Jeden Sonntag ging er in den frühen Abendstunden, bevor die Strahlen der untergehenden Sonne hin- ter den Baumwipfeln verschwanden, über die verlassenen Wege. Es war die Zeit, wo er Abstand von seiner Arbeit gewann und neue Kraft in der Ruhe des Parks fand. Die Touristen waren bereits wieder auf dem Heimweg, und lediglich die Einheimischen hielten sich noch in dem Bergpark auf. Seine Weitläufigkeit erlaubte es, dass man, sobald man die breiten Wege verließ, auf den schmaleren Pfaden weitestgehend alleine war. In wenigen Wochen würden sich die Blätter der Bäume rot und gelb verfärben und einen prächtigen Farbzauber hervorrufen. Xaver freute sich auf diese Zeit, in der die Natur noch einmal ihre große Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellte und das nahe Ende des Jahres ankündigte.

    Nachdem er an der großen Schlossanlage vorbeigegangen war, um sich tiefer in die Parkanlage zu begeben, begegnete ihm ein älteres Paar, das Hand in Hand auf das Schloss zuging. Er bewunderte die Vertrautheit und Innigkeit, die die beiden alten Menschen ausstrahlten. Kurz nach dieser Begegnung schritt er an einer jungen Frau vorüber, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, der ihr nur widerwillig folgte. Sie warf Xaver einen misstrauischen Blick zu, als würde er unlautere Absichten verfolgen, und blieb auf Distanz zu ihm. Offenbar war sie alleinstehend und befürchtete, dass er einen Annäherungsversuch machen würde. Doch in diesen Stunden der Ruhe stand ihm nicht der Sinn nach Gesellschaft. Ein müdes Lächeln zeigte sich kurz auf seinem Gesicht.

    Es war derzeit sein jüngstes Projekt, dem er seine volle Aufmerksamkeit widmete und das seine ganze Kraft beanspruchte. Er hatte schon immer davon geträumt, eine Serie von Skulpturen zu erschaffen, die seine Bewunderer überraschen würde. Einige von ihnen verschreckte er damit bestimmt, aber als Künstler wollte er sich nicht in eine Schublade pressen lassen. Man lebte von Veränderungen und nicht in der Schaffung von Variationen eines Objektes.

    Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Nervös schaute er sich um. Er bemerkte nicht das Augenpaar, das ihn, seit er den Bergpark betreten hatte, verfolgte.

    Gebannt versuchte Xaver mit seinen Blicken die Büsche zu durchdringen. Er konnte aber nichts erkennen. Bestimmt war bloß ein Vogel durch das Unterholz gehuscht. Beruhigt wandte er sich ab, um seine Wanderung wieder aufzunehmen. Es ging steil bergauf, und da er es nicht eilig hatte, schritt er langsam voran. Seine Gedanken kehrten zu seiner neuen Skulptur zurück, die er aus weißem Marmor gestalten wollte. Dafür hatte er sich die wertvollen Steinblöcke aus den bekannten Steinbrüchen bei Carrara besorgt. Dieser Marmor war durch den italienischen Bildhauer Michelangelo dank seiner bekannten Schöpfungen zur Berühmtheit geworden. Xaver war davon überzeugt, dass seine Statuen eines Tages nach ihrer Vollendung mit der Leistung des bekannten Künstlers aus der Renaissance vergleichbar waren.

    Eine wohlige Vorfreude machte sich in ihm breit, als er daran dachte, wie die Figur unter seinen Händen Gestalt annehmen würde. Er genoss die Arbeit mit Hammer und Meißel. Und wenn er dann die rauen Stellen bearbeitete, war es für ihn ein Gefühl von Ekstase, das durch seinen Körper jagte, sobald seine Hände über den weißen Marmor glitten.

    An einer Wegbiegung blieb er unentschlossen stehen. Sollte er heute links abbiegen oder weiter geradeaus gehen? Während er darüber nachdachte, drang wieder ein lautes Rascheln an sein Ohr. Im ersten Moment reagierte er nicht auf das Geräusch. Das laute Knacken eines Astes ließ ihn zusammenzucken. Erschreckt drehte er sich um. In diesem Augenblick fiel ein großer Schatten auf ihn. Bevor er reagieren konnte, spürte er einen heftigen Schlag an der Schläfe und bewusstlos sackte er zusammen.

    Mit einem hämmernden Pochen in seinem Kopf wachte er auf. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand. Eine leichte Übelkeit stieg in ihm auf und die Umgebung schien sich um ihn herum zu drehen. Er versuchte den Kopf zu bewegen, aber ein stechender Schmerz ließ ihn innehalten. Langsam klärte sich sein Blick. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden. Über sich konnte er blaue Flecken zwischen den Baumspitzen wahrnehmen. Seine Arme waren ausgebreitet und um die Handgelenke jeweils ein Seil geschlungen worden, das um den Stamm eines Baumes gebunden war. Verzweifelt zog er mit den Armen, aber die Seile waren fest gespannt und ließen ihm keinen Bewegungsspielraum. Seine Füße waren gefesselt worden und ein weiteres Seil führte von seinen Knöcheln zu einem vor ihm stehenden Baum. Erst jetzt nahm er wahr, dass er völlig nackt war. Seine Kleidung war verschwunden. Jemand musste ihn ausgezogen haben, als er bewusstlos gewesen war. Er spürte, dass er auf einem harten Untergrund lag. Spitze Gegenstände bohrten sich in seinen Rücken. Steine, abgefallene Baumrinde oder kleinere Aststücke.

    Er war nicht lange weggetreten gewesen, da die Sonne, die bereits hinter dem Horizont verschwunden war, noch genug Helligkeit spendete, um die Umrisse der dicht stehenden Bäume erkennen zu lassen. Er hörte ein Plätschern. In der Nähe musste ein kleiner Bach den Hang hinabfließen. Der Geruch von Feuchtigkeit und Wald drang ihm in die Nase. Käfer raschelten im Laub. Mücken umschwirrten ihn. Noch hatte ihn keine gestochen. Er wollte um Hilfe rufen, als eine schwarze Gestalt in sein Sichtfeld trat. In der rechten Hand hielt der Unbekannte einen silbern schimmernden Gegenstand. Bekleidet war er mit einem schwarzen Anzug, der aus einem latexähnlichen Material bestand. Über den Kopf hatte er eine Latexhaube gezogen, die gerade mal sein Gesicht frei ließ. An den Füßen trug er schwarze Überzieher aus Plastik. Mit einem breiten Lächeln beugte er sich über Xaver.

    „Ich hoffe, Sie fühlen sich gut." Seine Stimme klang völlig emotionslos.

    „Was soll der Blödsinn? Was haben Sie mit mir vor?"

    „Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie werden schon bald vor Ihrem Schöpfer stehen."

    „Wer sind Sie?"

    „Ich bin Ihr Schicksal. Sie wurden auserwählt, um den Menschen ein Zeichen zu setzen. Wissen Sie, im Grunde bewundere ich Ihre Arbeiten. Ihre Werke sind beeindruckend, aber Sie hätten sie niemals herstellen dürfen."

    Xaver Wolfram schluckte. „Ich verstehe das Ganze nicht. Was wollen Sie dann von mir? Ich habe nichts Schlimmes getan." Seine Stimme nahm einen immer verzweifelteren Ton an.

    Der Unbekannte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich werde Sie zu meinem Kunstwerk machen."

    „Schneiden Sie mich los, forderte Xaver den Fremden auf. „Das geht jetzt wirklich zu weit und ist keineswegs ein Spaß, den ich länger mitmachen will.

    Xaver nahm an, dass seine Freunde ihm einen bösartigen Streich spielen wollten. Schon immer hatten sie gesagt, dass man ihn selbst als ein Kunstobjekt ausstellen sollte. Und das genau so, wie er sich selber häufig als Vorbild für seine Figuren genommen hatte.

    Der Unbekannte stieß einen Seufzer der Resignation aus. „Das kann ich nicht tun. Sie werden mich doch verstehen, dass ich nicht inmitten meiner künstlerischen Schaffensphase aufhören kann. Sehen Sie, Ihr Körper wird vergehen, verwesen, von Bakterien und Insekten zerfressen werden. Doch Ihr Tod wird unsterblich werden und für immer bestehen bleiben. Ihr Name wird dann bis in alle Ewigkeit in diesem Zusammenhang genannt werden."

    „Sie sind verrückt. Das können Sie nicht machen." Voller Angst starrte er den Fremden an.

    „Sehen Sie, Ihr Bewusstsein wird sich durch diese Erfahrung erweitern. Sie werden es bloß niemandem mehr vermitteln können. Aber darum geht es gar nicht. Spüren Sie schon die Erregung, die Vorfreude auf dieses wundervolle Ereignis?"

    „Das ist doch Wahnsinn. Wenn Sie wollen, dass ich mich fürchte, dann haben Sie das erreicht. Bitte lassen Sie mich gehen", stieß Wolfram winselnd aus.

    „Das kann ich nicht. Mittlerweile wirkte der Vermummte genervt. „Sie müssen bestraft werden.

    Xaver Wolfram wurde endgültig bewusst, dass der Fremde es wirklich ernst meinte. „Warum?", brachte er keuchend hervor.

    „Sie haben Ihn beleidigt."

    „Wen?", fragte Xaver stirnrunzelnd.

    „Sie haben Ihn verunglimpft, indem Sie Ihn falsch dargestellt haben. Dies hätten Sie nicht tun dürfen."

    „Wen? Verraten Sie mir wenigstens seinen Namen."

    „Schluss mit dem Geschwätz. Wir wollen unsere Zeit doch nicht mit unnötigem Gerede verschwenden", sagte der Fremde und zog mit der linken Hand ein Tuch aus einer kleinen Tasche, die an seinem Gürtel befestigt war, hervor.

    Xaver Wolfram öffnete den Mund zu einem Schrei, der aber von dem Knebel erstickt wurde, den der Fremde ihm zwischen die Zähne steckte. Xavers Augen traten hervor. Tief sog er die Luft durch seine Nase in die Lungen ein. Immer hektischer wurden seine Atemzüge, je stärker sich die Panik in seinem Herzen breit machte.

    Der Unbekannte trat näher an Xaver heran. Er legte den Kopf schief, so als würde er ein Insekt näher betrachten.

    „Sie werden nicht sofort tot sein. Das Blut wird sich über Ihre Luftröhre in Ihre Lungen verteilen und Sie werden daran jämmerlich zugrunde gehen. Bevor der Tod endgültig eintreten wird, wird Ihr Bewusstsein vorher erlöschen. Ist dies nicht furchtbar? Noch nicht einmal das Erleben des letzten Augenblicks in Ihrem Leben wird Ihnen vergönnt sein. Ich bedauere, dass ich Ihnen dies nicht ersparen kann. Sie sollten jetzt mit einem Gebet beginnen, damit Gott Sie in Gnade empfangen kann. Er wird Ihnen verzeihen, denn Er ist der Allmächtige."

    Der Fremde hob den blitzenden Gegenstand und erst jetzt erkannte Xaver Wolfram, dass es sich um ein Messer handelte. Er wunderte sich noch darüber, wie kalt der Stahl war, als die Klinge über seine Kehle glitt. Er fühlte, wie das Blut in seine Lungen drang.

    Ruhig trat der Mörder zurück und schaute Xaver beim Sterben zu. Dabei faltete er die Hände und murmelte leise ein paar Worte, die sich mit dem Röcheln des Sterbenden vermischten.

    Das Letzte, was Wolfram wahrnahm, waren die Augen des Killers, in denen ein leidenschaftliches Feuer brannte und die dennoch von einer gnadenlosen Kälte erfüllt waren.

    2

    Der Radiowecker spielte bereits eine halbe Stunde, als Raphael sich endlich bemühte, ihn abzustellen. Er hasste es, früh aufzustehen, besonders an diesem Morgen, der sein erster Arbeitstag nach einem zweiwöchigen Urlaub war. Manchmal fragte er sich, warum er sich jeden Morgen aus dem Bett quälte, und bedauerte, dass er sich keinen Beruf ausgesucht hatte, der die Möglichkeit bot, später aufzustehen.

    Er war froh, dass ihn in den letzten Wochen der immer wiederkehrende Alptraum nicht mehr gequält hatte. Seit dem Unglück vor zwei Jahren kehrte die Erinnerung an die Schießerei, die Sonja Lorenz das Leben gekostet hatte, nachts zurück. Er hatte zusammen mit seiner Kollegin einen Gewalttäter überprüfen wollen. Doch der Kerl hatte seine Waffe gezogen und wie verrückt begonnen, um sich zu schießen. Sonja Lorenz war sofort tot gewesen. Der Notarzt hatte ihr nicht mehr helfen können.

    Kurz nachdem Raphael aus dem Krankenhaus entlassen worden war, waren die Träume aufgetreten. Zu Beginn hatten sie ihn jede Nacht heimgesucht.

    Aber seit einem Jahr wurden sie immer seltener. Ein halbes Jahr lang hatte er mit der Polizeipsychologin viele Gespräche über die Minuten geführt, die sein Leben verändert hatten, bis er zu dem Entschluss gekommen war, dass er nur aus eigener Kraft sein Trauma überwinden konnte. Danach hatte er sich noch intensiver in die Arbeit gestürzt. Sie war die einzige Therapie, die ihm wirklich half.

    Er wälzte sich auf die andere Bettseite, die seit der Scheidung von seiner Frau verwaist war. Sie war nicht damit klar gekommen, dass er beinahe getötet worden war. Dabei hatte er ihr zu Beginn ihrer Beziehung deutlich gemacht, dass sein Beruf gewisse Gefahren mit sich brachte. Dennoch war sie mit ihm auf das Standesamt gegangen und hatte die Möglichkeit eines Unglückes durch seinen Beruf ausgeblendet. Ihr war auch bewusst gewesen, dass er keine geregelte Arbeitszeit besaß und nicht wie ein normaler Angestellter immer pünktlich nach Hause kommen würde. Sie hatte sich vernachlässigt gefühlt und nach sechs Jahren Ehe mit einem Mann eingelassen, der keiner Beschäftigung nachging. Vielleicht hätte er zu diesem Zeitpunkt seine Ehe noch retten können. Doch dann war es zu diesem verhängnis-vollen Schusswechsel gekommen und seine Frau hatte sich nach diesem Vorfall endgültig entschieden, lieber ein Leben an der Seite eines Mannes zu verbringen, bei dem nicht das Berufsrisiko bestand, dass er eines Tages nicht mehr lebend nach Hause zurückkehrte.

    Es war müßig, nur seinen Beruf als Grund für das Scheitern seiner Ehe zu sehen. Mit Sicherheit war es auch ein Fehler von ihm gewesen, ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, die sie sicher verdient hatte. Doch irgendwie war ihm sein Beruf schon immer sehr wichtig gewesen. Und ohne, dass er Einfluss darauf hatte nehmen können, war die Faszination, die sie bei ihrer ersten Begegnung auf ihn ausgeübt hatte, verloren gegangen. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass er für seine Kollegin mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfand.

    Irgendwie hatte er sie verstanden, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilte, sich von ihm zu trennen. Dennoch war der Schmerz über die Scheidung lange in seinem Innern verblieben. Bisher hatte er keine Frau getroffen, mit der er eine dauerhafte Bindung eingehen wollte. Wirklich ernsthaft bemüht, eine neue Liebe zu finden, hatte er sich aber auch nicht, gestand er sich ehrlicherweise ein.

    Er sprang unter die Dusche. Mit einem wohligen Gefühl genoss er den warmen Schauer auf der Haut. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ging er ins Schlafzimmer zurück und zog sich frische Kleidung an, die er aus seinen Kleiderschrank holte. Er wählte ein marinefarbenes Hemd, eine dunkle Leinenhose und ein schwarzes Sakko. Dazu schlüpfte er in schwarze Schuhe, die er kurz mit einem weichen Tuch polierte. Seine Dienstwaffe steckte er in das Halfter, welches er am Hosengürtel befestigte. Er warf sich noch die Jacke über, ehe er seine Wohnung verließ. An der Straßenecke betrat er eine Bäckerei und kaufte sich zwei Gebäckstücke. Eigentlich hatte er beschlossen, sich gesünder zu ernähren, aber sein Hunger nach Süßem war stärker als sein Vorsatz. Daher übersah er die Baguettes, die mit Schinken, Käse und Salat belegt waren. Die Verkäuferin, eine schlanke Frau Ende dreißig, schenkte ihm ein warmes Lächeln und während er noch überlegte, ob er sich auf einen Flirt mit ihr einlassen sollte, klingelte sein Mobiltelefon.

    „Raphael Wolf", meldete er sich.

    „Hi, Chef, wieder unter den Werktätigen zurück?", erklang Markus Jägers Stimme in seinem Ohr.

    „Wenn du mich noch vor meinem Besuch beim Kriminalrat anrufst, willst du mir bestimmt eine schlechte Neuigkeit so früh am Morgen verkünden."

    „Früh am Morgen? Schau mal auf deine Uhr. Es ist bereits acht und fast Mittag. Ich bin seit Fünf auf", frotzelte Markus. Er war sein engster Mitarbeiter in der Abteilung K11 des Polizeipräsidiums Nordhessen. Dieses Kommissariat war für Gewalt-, Brand- und Waffendelikte zuständig.

    „Womit haben wir es zu tun?, hakte Raphael nach. „Wer hat dich aus dem Bett geholt?

    „Mord, Chef. Wir haben eine Leiche im Bergpark." Markus beschrieb ihm den Fundort, während Raphael zu seinem Wagen ging. Er setzte sich hinein, steckte sein Mobiltelefon in die Jackentasche und startete den Motor. Er brauchte mit seinem BMW fünfzehn Minuten bis zu einer höheren Berufsfachschule, die dem diakonischen Werk der evangelischen Kirche gehörte und am Rand des Parks lag. Von dort führte ein breiter, befahrbarer Wanderweg in den Bergpark, und die Schutzbeamten, die am Zugang Posten bezogen hatten, wollten bereits ihren Wagen zu Seite fahren und den Pfosten entfernen, der in der Mitte des Weges stand, um ihn durchzulassen, als er ihnen mit einen Wink zu verstehen gab, dass er den Weg zu Fuß bewältigen würde. Er stellte sein Auto oberhalb des Seminargebäudes ab, nickte den Beamten noch einmal kurz zu und schritt an den hintereinander geparkten Polizeifahrzeugen vorbei. Den Abschluss dieser Reihe bildete der Dienstwagen des Gerichtsmediziners.

    Raphael musste über einen schmalen Pfad, der von dem Weg abzweigte, in den kleinen Wald hineingehen, um den Fundort der Leiche zu erreichen. Am Absperrband standen zwei junge Polizeiobermeister Wache, um eventuelle Schaulustige am Betreten des Geländes zu hindern. Einer von den beiden uniformierten Beamten der Schutzpolizei war ihm bekannt.

    „Hallo, Herr Stein, begrüßte er diesen. „Wer hat die Leiche gefunden?

    „Morgen, Herr Hauptkommissar. Dies ist mein neuer Kollege, Polizeimeister Jochen Vogel, erklärte er Raphael und deutete auf den zweiten Beamten. „Ein Rentner ist heute Morgen bei seinem Spaziergang auf den Toten gestoßen. Er hat uns sofort angerufen, nachdem er die nächste Telefonzelle gefunden hatte. Offenbar gehört er zu den wenigen Menschen, die kein Handy besitzen. Er befindet sich bereits im Polizeipräsidium, um seine Aussage aufnehmen zu lassen. Wir waren mit unserem Wagen gerade auf Streife, als wir hierher beordert wurden. Es ist kein schöner Anblick, sage ich Ihnen. Der Mörder muss den Mann wie ein Schwein abgestochen haben.

    Raphael zog die Augenbrauen hoch. Er verfügte über warm wirkende, braune Augen, die über einer stark ausgeprägten Nase saßen, und wenn er auf die Zähne biss, traten die Wangenknochen markant hervor. Insgeheim war er davon überzeugt, dass er ein freundliches Lächeln besaß. Einige seiner Freunde waren aber eher der Meinung, es wirke irgendwie furchteinflößend. Die Frauen fanden es wohl eher vertrauenerweckend, da er es bisher nicht erlebt hatte, dass auch nur eine allein wegen seines Lächelns vor ihm davongelaufen wäre.

    Die Erschütterung über den Mord war Lutz Stein deutlich anzusehen. Obwohl er nach mehreren Jahren im Streifendienst bei Verkehrsunfällen schon öfters grausam verstümmelte Menschen erblickt hatte, rief das Auffinden eines Mordopfers stärkere Betroffenheit in ihm hervor.

    Raphaels Blick fiel auf den zweiten Polizisten, der an einen Baum gelehnt vor dem rotweißen Band stand und tief durch den leicht geöffneten Mund atmete. Wolf blieb dicht vor ihm stehen. Er öffnete den Mund, um beruhigende Worte auszusprechen, als der junge Beamte den Kopf hob und sagte: „Entschuldigung. Es ist nicht der erste Todesfall, den ich sehe, aber auf den Schulungsfilmen sieht es nie so realistisch aus. So viel Blut überall. Ich werde es noch lernen, mich an so einen Anblick zu gewöhnen."

    Raphael legte ihm eine Hand kurz auf die Schulter. „Man gewöhnt sich nie daran. Und wenn, würden wir keine Gefühle mehr besitzen." Er nickte den beiden Beamten noch einmal aufmunternd zu, ehe er unter dem Absperrband hindurchschlüpfte und sich dem Fundort näherte.

    Durch die Bäume konnte er die vielen Spurenermittler und Kriminaltechniker erkennen, die in ihren weißen Tatortsicherungsanzügen herumliefen. Über ihren Händen trugen die Beamten weiße Latexhandschuhe und an den Füßen blaue Überzieher. Sie sahen wie Außerirdische aus, die auf einem Planeten zu Besuch waren, der unter Quarantäne stand.

    Markus Jäger, der auch einen Tatort-Overall trug, reichte ihm die Schutzkleidung. Er war ein leicht untersetzter Mann Mitte Fünfzig. Nach dem Tod von Johannes Kessler, dem bisherigen Leiter der Abteilung K11, der bei der Jagd nach einem Serienkiller bei einem Schusswechsel mit einem Verdächtigten ums Leben gekommen war, hatte jeder angenommen, dass er der neue Chef des Kommissariats werden würde. Doch zu seiner Enttäuschung war Raphael zum Ersten Hauptkommissar befördert und zum neuen Leiter ernannt worden. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis Markus Jäger über die Nichtbeachtung hinweggekommen und bereit war, mit Raphael ohne Vorbehalte zusammenzuarbeiten. Raphael hatte sein Verhalten gut verstanden und versucht, ihm nie seine Freundschaft aufzudrängen, da er wusste, wie nahe sich Markus Jäger und Johannes Kessler gestanden hatten. Sie waren mehr als bloß Freunde gewesen. Markus war mit Johannes Schwester verheiratet, die er vor dreißig Jahren auf einem Polizeiball kennengelernt hatte.

    Raphael zog sich die Schutzkleidung über und schaute Markus fragend an. Der Hauptkommissar wies mit dem Kopf zur Seite. Raphael fiel der Ernst in Markus Gesicht auf. Neugierig ging er auf die Baumreihe zu. Er war es nicht gewöhnt, dass sein Mitarbeiter so still war. Eher herrschte bei ihm ein flapsiger Ton vor, der mit einer Portion Galgenhumor gewürzt war. Schweigsam folgte er Raphael, der zu dem Leichnam ging.

    Die Augen des Toten starrten ins Leere und über den Hals zog sich ein dunkelroter Strich, an dessen Ränder sich dicke Blutkrusten gebildet hatten. Unter dem Kopf und der Brust hatte sich auf dem Boden eine dunkle Lache gebildet. Ein Großteil der Flüssigkeit war bereits im Boden versickert. Fliegen sirrten überall umher und ließen sich auf die Leiche und dem Blut nieder. Der Tote lag mit ausgestreckten Armen auf der Erde. Die Handgelenke und Knöchel des Leichnams waren mit einem Seil an die umstehenden Bäume gebunden. Raphael hatte Mühe, sich von dem Toten abzuwenden. Was hatte den Mörder veranlasst, den Mann auf diese Art und Weise an die Bäume zu fesseln? Raphael fühlte sich bei der Szene an irgendetwas erinnert. Er konnte sich aber nicht entsinnen, wo er ein ähnliches Bild bereits zu Gesicht bekommen hatte. Der Polizeifotograf drängte sich an ihm vorbei und erhellte die gespenstische Szenerie mit dem Blitzlicht seiner Digitalkamera. Dr. Robert Keitel, der Gerichtsmediziner, packte gerade seine Utensilien in den Koffer und zog sich die Schutzmaske vom Gesicht. Mit ruhigen Bewegungen streifte er die blutigen Latexhandschuhe ab.

    „Wann ist er gestorben?", fragte Raphael.

    „Nach den Leichenflecken zu urteilen und wenn ich bei der Temperaturmessung die nächtliche Kälte berücksichtige, dürfte der Tod zwischen sieben und neun Uhr abends eingetreten sein."

    „Und was war die Tatwaffe?"

    „Es handelte sich um einen sehr scharfen Gegenstand. Ich würde auf ein Rasiermesser oder ein Skalpell tippen. Mehr werde ich Ihnen erst sagen können, wenn ich ihn obduziert habe. Der Schnitt in den Hals erfolgte, als der Mann noch am Leben war. Das kann man aus der starken Blutung schließen. Jedenfalls dürfte diese Verletzung die eigentliche Todesursache sein."

    Raphael neigte in Gedanken versunken den Kopf zur Seite, um einen anderen Blickwinkel auf den Toten zu erhalten. Ihm war bewusst, dass er nicht alle Antworten auf seine Fragen sofort erhalten würde. „Wurde er sexuell missbraucht?"

    „Es deutet nichts auf eine Vergewaltigung hin."

    „Überprüfen Sie ihn bitte trotzdem auf Spermaspuren."

    „Dies hätten wir sowieso gemacht", erwiderte Keitel beleidigt.

    „Tut mir leid, erwiderte Raphael, „aber ich fürchte, wir werden nur wenig DNA-Spuren hier vorfinden. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Tatort nicht viele Hinweise auf den Täter hervorbringen würde. „Schicken Sie mir Ihren Bericht sobald wie möglich", bat er den Gerichtsmediziner. Keitel nickte unmerklich, schloss seine Tasche und schritt an den akribisch nach Spuren suchenden Kriminaltechnikern vorbei.

    „Wo ist seine Kleidung abgeblieben?", wandte sich Raphael an Markus.

    „Das ist das Verrückteste an diesem Mord", erklärte Jäger und führte Raphael von der Leiche weg. Zehn Meter entfernt lag ein Bündel sorgfältig zusammengelegt auf der Erde. Raphael kniete nieder und betrachtete die Kleidung genauer.

    „Es sieht so aus, als hätte der Besitzer sie dort abgelegt, um sie gleich wieder anzuziehen, bemerkte Markus Jäger, „so, als würde man für einen kurzen Moment in einem See schwimmen gehen. Nur dass hier oben kein See ist.

    „Ich glaube nicht, dass der Tote seine Kleidung freiwillig ausgezogen hat. Ich vermute eher, dass der Mörder nicht wollte, dass die Sachen verschmutzt werden. Hat man sie bereits nach Spuren überprüft?"

    „Wir haben Haare und Hautschuppen gefunden, die wahrscheinlich alle vom Träger der Kleidung stammen", erklärte eine Stimme aus dem Hintergrund. Raphael drehte sich um und schaute die schlanke Gestalt an, die mit ihrem Schutzanzug an sie herangetreten war. Sie reichte ihm bis an die Schultern und am Rand der Kopfhaube konnte man den Ansatz tiefschwarzer Haare erkennen.

    Kriminaloberkommissarin Cornelia Becker war seit zwei Jahren in seiner Abteilung. Sie hatte sich von dem Kommissariat für Sexualdelikte versetzen lassen, nachdem sie an einem bundesweiten Fall für Pädophilie mitgearbeitet und dabei einen hochangesehenen Professor überführt hatte, auf dessen Rechner man unzählige Bilder von kleinen Jungs und Mädchen gefunden hatte. Sie hatte sich davon so angewidert gefühlt, dass sie beim Kriminalrat um ihre Versetzung gebeten hatte. Raphael war dankbar, ihre Erfahrung in seiner Abteilung nutzen zu können.

    „Wir haben einen Ausweis bei den Sachen gefunden."

    Überrascht blickte Raphael sie an. „Der Mörder hat sich nicht die Mühe gemacht, die Identifizierung seines Opfers zu erschweren?"

    „Nein, dies wäre auch überflüssig gewesen. Es handelt sich schließlich bei unserem Toten um Xaver Wolfram, den bekannten Bildhauer und Maler."

    „Von dem habe ich schon mal in der Zeitung gelesen, sagte Raphael. „Seine Werke habe ich aber nie zu Gesicht bekommen.

    „Es ist schon bemerkenswert, dass der Mörder ihn ausgerechnet hier umgebracht hat", sagte Cornelia.

    Während Markus Jäger sie irritiert anschaute, ahnte Raphael, wovon sie sprach. Xaver Wolfram war ein Künstler gewesen und im Grunde war der Bergpark ein riesiges Kunstwerk, zumindest ein künstlich angelegter Garten mit vielen Bauwerken, die die Zeit des Barocks und der Romantik wiedergeben sollten.

    3

    „Es tut mir leid, Herr Wolf, aber die Spurensuche dürfte noch Tage in Anspruch nehmen. Tobias Unger, der örtliche Einsatzleiter der zentralen Kriminaltechnik, hob bedauernd die Schultern. „Es gibt leider reichlich DNA-Spuren, die wir von vornherein aussortieren können. Man sollte nicht glauben, was die Besucher in dieser Gegend alles im Wald entsorgen. Wir haben Kaugummis, Zigarettenstummel und sogar drei leere Flaschen gefunden, an denen auch Fingerabdrücke vorhanden sind. Aber ich fürchte, dass sie nicht zu unserem Täter gehören. Es sind um das Opfer keine verwertbaren Fußspuren vorhanden. Wir vermuten, dass der Täter Schuhe ohne Profil getragen hat. Auf den Wegen werden wir auch nichts finden, da sie aus zahllosen Kieselsteinen bestehen, die so fest getreten sind, dass dort einfach kein Abdruck zurückbleibt. Mehr kann ich Ihnen derzeit nicht sagen.

    Raphael seufzte. Die Kriminaltechniker würden in den nächsten Stunden mit verschiedenen forensischen Lichtquellen den Tatort absuchen, um noch so winzige verwertbare Spuren zu finden. Daher würden sie hier mit ihrer Ermittlung nicht weiterkommen. Er bedankte sich und wandte sich seinen beiden Mitarbeitern zu.

    „Was wissen wir bisher? Welches Motiv könnte hinter dem Mord stehen?"

    „Die meisten Morde sind Beziehungstaten. Wir sollten erst einmal sein Umfeld untersuchen", meinte Markus Jäger.

    „Nach einer Beziehungstat sieht mir dieser Mord nicht aus. Dazu wirkt er zu außergewöhnlich", entgegnete Raphael.

    „Laut seines Ausweises war Xaver Wolfram in der Wilhelmshöher Allee wohnhaft. So weit ich mich erinnere, soll er dort auch eine kleine Galerie betreiben." Cornelia Becker blickte Raphael erwartungsvoll an.

    Wolf warf einen kurzen Blick auf den Tatort, ehe er sagte: „Conny, du fährst ins Präsidium und versuchst alles über Wolframs Umfeld herauszufinden. Verwandte, Freunde, Feinde. Geschieden, verheiratet, verwitwet. Seine ganze Lebensgeschichte. Ich werde mit Markus die Galerie aufsuchen. Vielleicht erfahren wir dort mehr. Wollen wir doch einmal sehen, wie gut sich seine Werke verkauft haben."

    Er war froh, die lästige Schutzkleidung ablegen zu können und als er in seinem Wagen saß, atmete er tief durch. Das Gefühl, den Geschmack von Blut in seinem Mund zu spüren, legte sich langsam.

    Markus Jäger, der sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, öffnete die Scheibe eine Handbreit. „Du glaubst nicht, dass wir es mit einer Tat aus Eifersucht oder Rache zu tun haben?"

    Raphael behielt die Straße im Auge, als er antwortete: „Mich stört die Anordnung der Leiche. Warum wurde Xaver Wolfram an die Bäume gefesselt? Warum hat man ihm die Kleidung abgenommen?"

    „Deutet dies nicht gerade auf ein enges Täter-Opfer-Verhältnis hin?, fragte Jäger. „Wenn der Täter eine Frau war, würde sie es möglicherweise vermeiden wollen, seine Kleidung unnötig zu beschmutzen. Auch wenn ich dieses Verhalten für irrational halte.

    „Darüber sollen sich die Psychologen den Kopf zerbrechen. Vielleicht haben wir es wirklich mit einem perfiden Racheakt zu tun. Und der Täter will uns bewusst auf eine falsche Fährte locken", stimmte er Jägers Vermutungen zu. Die meisten Morde wurden einfach von Menschen verübt, die in einem engen Verhältnis zu dem Opfer standen. Nur bei diesem Mord störte ihn eine Kleinigkeit und es ärgerte ihn, dass er nicht bemerkte, um was es sich dabei handelte.

    Er stellte den BMW unweit der Galerie ab. Eine Türglocke ertönte, als er mit Markus Jäger den Laden betrat. Der Boden bestand aus hellgrauen Fliesen, während die Wände mit weißer Raufasertapete verkleidet waren. An den weißen Flächen waren Bilder in den unterschiedlichsten Größen angebracht, die alle ausschließlich Landschaften als Motive beinhalteten. Im Raum standen mehrere Skulpturen, die in stilisierter Form Menschen darstellten. Bei einigen war sich Raphael sicher, dass es sich um Ausführungen aus der christlichen Glaubensrichtung handelte. Die bemerkenswerteste Skulptur stand jedoch mitten im Raum und zeigte eine Frau und ein Mann in eindeutiger Stellung, die allgemein als Neunundsechzig bekannt war. Dabei ruhten die Köpfe der beiden Menschen jeweils zwischen den Schenkeln des Partners.

    „Dies ist Xaver Wolframs neuestes Werk, meine Herren", erklang hinter ihnen eine klare Stimme. Raphael wandte sich um und musterte die Frau, die aus einem Hinterraum den Laden betreten hatte. Sie sah sehr gut aus, wobei sich kleinere Fältchen in den Augenwinkeln und auf der Stirn abzeichneten. Raphael schätzte sie auf Mitte Dreißig. Sie trug ein helles Kostüm und unter der Jacke eine weiße Bluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, sodass man den Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. Ihre schlanken Beine steckten in hohen Stöckelschuhen, die mit schmalen Riemchen an ihren Knöcheln befestigt waren. Ihre gesamte Kleidung war geschmackvoll farblich aufeinander abgestimmt und verriet ihm, dass sie einen sehr modisch orientierten Stil bevorzugte, der sie jünger erscheinen ließ. Raphael blickte in ihre Augen, die in einem strahlenden Blau leuchteten. In ihnen lag ein Ausdruck, der davon zeugte, dass sie bereits einige bittere Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt haben musste. Kühl erwiderte sie seinen Blick.

    „Wie kann ich Ihnen helfen?" Der Ton ihrer Stimme rief in Raphael das Bild eisiger Kälte hervor.

    „Kriminalpolizei Kassel, sagte Raphael und hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. „Ich bin Hauptkommissar Wolf und dies ist mein Kollege Hauptkommissar Jäger.

    „Schade, ich gehe wohl recht in der Annahme, dass die Herren Kommissare sich nicht vorrangig für die Kunst interessieren, die hier ausgestellt ist?"

    „Bedauere, leider sind wir aus einem traurigen Anlass hier. Darf ich fragen, wer Sie sind und in welcher Beziehung Sie zu Xaver Wolfram stehen?"

    „Ich bin Zita Christ, seine Muse. Sie würden es wohl eher als Lebensgefährtin bezeichnen. Ich bin aber auch seine Geschäftsführerin, kümmere mich um den Verkauf seiner Werke und organisiere die Ausstellungen. Darf ich den Grund Ihrer Frage erfahren?"

    Raphael hatte schon öfters Todesmeldungen überbringen müssen und es fiel ihm immer nicht leicht. Die Reaktionen der Angehörigen waren dabei sehr unterschiedlich. „Es tut mir leid. Wir haben Xaver Wolfram tot aufgefunden. Er wurde ermordet."

    Zita Christ trat einen Schritt zurück, als hätte sie ein unsichtbarer Schlag getroffen und senkte den Kopf. Dabei fielen die dunklen Haare nach vorne. Sie fuhr sich mit den Händen über ihr Gesicht und warf schwungvoll die Haare zurück. Raphael bemerkte, dass ihre Augen feucht waren. Hinter ihrem Eispanzer steckten als doch Gefühle.

    „Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, begann Raphael und als Zita Christ stumm mit dem Kopf nickte, fuhr er fort: „Hatte er Feinde? Wurde er bedroht?

    „Feinde? Zita lachte kurz. „Er hatte viele Feinde. Fragen Sie mal die Macher der Documenta, warum sie ihn immer übergangen haben, wenn es um die Auswahl der Künstler ging, die daran teilnehmen dürfen. Oder fragen Sie den Stiftungsrat der Stadt Kassel, warum er bisher nicht bei der Errichtung eines Grabmals in der Nekropole ausgewählt wurde.

    „Nekropole? Ich dachte, dort dürfte sich jeder Künstler begraben lassen, der diesen Wunsch äußert."

    Die Nekropole der Künstler lag am Blauen See, der diesen Namen gar nicht verdiente, da er selbst bei schönsten Sonnenschein mehr grünlich schimmerte und mit seinem brackigen Wasser und den umgestürzten Bäumen, die im Wasser lagen, eher einen schaurigen Eindruck vermittelte. Diese Begräbnisstätte war von dem Künstler und Professor an der Kunsthochschule Harry Kramer geschaffen worden. Er hatte die Idee, dass sich Künstler ein eigenes Grabmal zu Lebzeiten gestalten sollten. Bisher war nur der Professor in dieser Nekropole beerdigt worden. Er hatte jedoch auf ein Grabmal verzichtet und seine Urne war dort anonym beigesetzt worden.

    „Wenn es so einfach wäre, würden bestimmt schon mehr Grabmale dort stehen", bemerkte Zita Christ ironisch.

    Raphael verkniff sich ein Grinsen. Selbst Künstlern wurden von den Behörden nicht jeder Wunsch erfüllt. „Gab es noch mehr Menschen, die ihm eventuell nach dem Leben getrachtet haben?"

    „Wenden Sie sich mal an die Künstler, die ihn als Schmierfink bezeichnet haben. Ich kann Ihnen da unzählige Namen geben. Feinde hatte er zuhauf. Aber sie alle konnten seinen Erfolg nicht verhindern."

    „Dann gab es auch Freunde, die ihn unterstützten?"

    „Nein, Freunde hatte er nicht. Er wurde verehrt. Sein Publikum liebte ihn. Er hat mehr Werke verkauft, als diese sogenannten Gelehrten von der Kunsthochschule." Bitterkeit lag in Zitas Stimme.

    „Wenn man so eine Figur erschafft, dürfte man sich über mangelnde Nachfrage sicher nicht beklagen", sagte Raphael und deutete auf die erotische Skulptur.

    Zita Christ trat zu der Figur und fuhr mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand die Konturen nach. „Das ist seine letzte Schöpfung. Er betrachtete sich in der dritten Phase seines Schaffens. Nach Landschaftsbildern und Heiligenstatuen wollte er sich auf dem Feld der Liebe betätigen. Er meinte, dass es Zeit wäre, seine Verehrer und Kritiker nicht länger zu langweilen. Er wollte provozieren und eine Reihe von erotischen Stellungen in einer Serie von Skulpturen herausbringen. Er nannte sie essentielle Seinsfindung extrovertierter Liebe‘. Wissen Sie, er liebte die Erotik in all ihrer Ausdrucksform und hasste konservative Moralvorstellungen."

    „Wollen Sie damit andeuten, dass er die freie Liebe bevorzugte?", fragte Markus Jäger.

    „Nein, Herr Kommissar, erwiderte Zita und hielt ihren Blick unverwandt auf Raphael gerichtet. „Er zog die Monogamie vor, war aber amourösen Abenteuern nicht abgeneigt. Hin und wieder ging er auch zu den Damen des käuflichen Gewerbes.

    „Hat er Ihnen das erzählt?", hakte Raphael nach.

    „Ja, er liebte die Abwechslung. Bitterkeit lag in ihrer Stimme. „Er wollte hin und wieder was Neues erleben. Ich war ihm nicht genug.

    „Warum haben Sie sich nicht von ihm getrennt?"

    Zita Christ verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir brauchten einander. Und er hätte mich niemals wegen einer dieser Frauen verlassen."

    „Könnte er im Rotlichtmilieu in Konflikt mit jemanden geraten sein?", fragte Raphael.

    „Das weiß ich nicht, Herr Wolf. Ich bin ihm nicht dorthin gefolgt."

    Raphael betrachtete die Bilder an den Wänden, ehe er sich wieder Zita Christ zuwandte. „Er liebte die nordhessische Landschaft?"

    „Oh ja. Früher hielt er sich oft mit seiner Staffelei in den Wäldern und auf den Feldern, die Kassel umgeben, auf und hielt die Eindrücke auf Leinwand fest. Er konnte von den satten Farben der Natur nicht genug bekommen. Wenn die Sonne blutrot unterging, sog er die Naturgewalten in sich auf und brachte den Lichtzauber den Menschen nahe. Selbst nachdem er diese Schaffensphase hinter sich gelassen hatte, ging er jeden Sonntag in den Bergpark, um mit der Natur eins zu werden. Er hielt sich den Tag frei und arbeitete dann auch nicht an seinen Werken."

    „Ich denke, es wäre uns sehr hilfreich, wenn Sie uns eine Liste der Personen machen könnten, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Wir werden uns mit ihnen unterhalten müssen."

    „Kein Problem, Herr Wolf. Ich werde Ihnen heute Nachmittag die Liste überbringen. Was geschieht mit seinem Leichnam?"

    „Er wird in der Rechtsmedizin obduziert werden. Erst danach können wir ihn zur Beerdigung freigeben. Gibt es irgendwelche Erben? Hat er ein Testament gemacht."

    „Er hatte keine weiteren Verwandten. Es soll angeblich irgendwo einen Sohn geben, aber Genaueres ist mir darüber nicht bekannt. Sein Vermögen und seine Werke sollen in eine Stiftung übergehen, deren Vorsitz ich übernehmen soll."

    „Dann sind Sie die einzige Person, die von seinem Tod profitiert", bemerkte Markus Jäger.

    Raphael registrierte, wie sich die Pupillen der Frau verengten. „Wenn Sie damit ausdrücken wollen, dass ich ihn deswegen umgebracht habe, muss ich Sie leider enttäuschen. Nach dem Tod meiner Eltern verfüge ich über ein größeres Vermögen, das mir alle Freiheiten gewährt. Ich habe es nicht nötig, Profit aus seinem Tod zu schlagen."

    „Entschuldigen Sie, Frau Christ, aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, gebe ich Ihnen hier meine Telefonnummer", sagte Raphael und reichte ihr seine Visitenkarte.

    „Erwarten Sie nicht zu viel von mir. Ich war seine Freundin, aber er hat mich nicht immer an seinem Leben teilhaben lassen."

    „Manchmal fallen einem die unwichtigsten Dinge ein, die für uns von großer Bedeutung sein können, Frau Christ."

    Als sie

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