Die Regeln des Schweigens
Von Tino Schrödl
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Buchvorschau
Die Regeln des Schweigens - Tino Schrödl
werden.
ALLES NEU!
»Philipp?« Der Lehrer blickt nach unten ins Klassenbuch, während er die Anwesenheitsliste durchgeht. Er wartet. In der Klasse herrscht Ruhe. Schließlich blickt der Lehrer auf.
»Philipp?«, ruft er noch einmal, genervt wegen der in seinen Augen unnötigen Verzögerung.
Immer noch keine Reaktion.
Er kratzt sich unschlüssig am Kinn. »Philipp Martens?«
Ich hebe den Arm.
»Warum meldest du dich nicht gleich?«
»Weil mein Name Phil ist, nicht Philipp.«
»Verstehe.« Säuerlich runzelt er die Stirn, nur ganz kurz, jedoch lange genug, um damit alles zu sagen.
Ich weiß genau, was er denkt: wieder einer mit so einem bekloppten Namen. Warum nennen die Eltern ihn nicht Philipp, wie es richtig wäre? Ich glaube, wir werden nicht besonders gut miteinander auskommen, Herr Walter und ich. Dabei ist heute gerade mal der zweite Tag an der neuen Schule. Zumindest für mich und einen ganzen Haufen anderer Schüler. Ein paar von ihnen feixen jetzt. Sollen sie doch, das bekommen sie umsonst.
Mona grinst nicht. Sie lässt überhaupt keine Reaktion erkennen, sondern sortiert weiter die Stifte in ihrer Tasche, während sie sich geistesabwesend immer wieder eine Haarsträhne hinter das Ohr streicht.
Warum ist sie mir bisher nie aufgefallen? Und warum tut sie es jetzt? Sie sieht heute kaum anders aus als vor den Ferien. Immer noch dieselben haselnussbraunen Haare, die grünen Augen, der schmale, stets leicht zusammengekniffen wirkende Mund. Sie ist nicht wirklich schön, nicht süß oder niedlich, eher spröde. In diesem Sinne ist sie vielleicht doch schön, zumindest würden einige sie vielleicht als schön bezeichnen. Anmutig, trifft es eher, würde ich sagen, wenn man den Begriff heute überhaupt noch verwenden kann. Sie erinnert mich ein wenig an Galadriel, die Elbenkönigin aus den Herr-der-Ringe-Filmen, ohne die Ohren natürlich, und dass ihre Haare eben braun sind. Galadriel empfanden ja auch viele als schön, obwohl sie nicht mein Fall war. Aber seit ich schräg hinter Mona sitze, also seit gestern, muss ich immer wieder zu ihr schauen und ihr glattes, glänzendes Haar und die makellose, leicht schimmernde Haut bewundern, wenn sie an den Seiten und der Rückseite ihres Halses unter dem Haar hervorblitzt. Sie hat einen wirklich langen Hals, ein wenig wie ein Schwan. Und genau wie ein solcher wirkt sie unnahbar. Als wäre sie nicht von dieser Welt oder würde sich nicht dafür interessieren, was um sie herum passiert. Wie sie dasitzt und gedankenverloren ihre Stifttasche einräumt, könnte ich mir gut vorstellen, dass sie selbst durch ein Feuer laufen könnte, ohne auch nur von den Flammen berührt zu werden. Sie würde sich einfach nicht um sie scheren. Apropos Feuer: Vielleicht haben ja der Brand und all die daraufhin einsetzenden Ereignisse meinen Verstand benebelt?
Obwohl es erst wenige Wochen her ist – es passierte in den Osterferien –, kommt es mir vor, als wäre das Feuer in einem früheren Leben passiert. So viel ist zwischendurch geschehen, so viel Chaos und Verwirrung, dass ich die Hälfte von dem, was am Tag des Feuers gewesen ist, schon wieder vergessen habe. Obwohl ich es nie wirklich gesehen habe, allenfalls ein paar träge qualmende Säulen, die in den trüben Vormittagshimmel hinaufstiegen, habe ich merkwürdigerweise ausgerechnet davon ein klares Bild vor Augen. Ich sehe die grellen Flammen, wie sie in der Dunkelheit nach allem greifen, was sie bekommen können, und davon gesättigt in den schwarzen Nachthimmel steigen, ihn erhellen und zu dem Tag machen, der in Wirklichkeit erst Stunden später folgen sollte. Es ist ein Funkenflug wie beim Hexenfeuer in der Walpurgisnacht, genauso laut, knisternd und panisch, und von einer gewaltigen zerstörerischen Kraft.
Dabei erfuhr ich eigentlich erst am nächsten Morgen, besser gesagt am nächsten Vormittag, davon. Meine Mutter kam in mein Zimmer gestürzt und riss mich aus dem Schlaf. »Hast du schon gehört: Eure Schule ist abgebrannt.«
Hast du schon gehört? Dieser Satz war wieder typisch für meine Mutter. Wie sollte ich denn davon gehört haben, wenn sie mich eben erst aus dem Bett holte? In diesem Moment kam ich aber nicht dazu, mir darüber Gedanken zu machen. Es fiel mir erst später wieder ein, als sich die Aufregung allmählich zu legen begann. Viele Dinge sind mir erst später wieder eingefallen.
Ich stürzte ungewaschen und ungekämmt aus dem Haus direkt aufs Fahrrad. Als ich bei der Schule ankam, wimmelte es dort von Menschen. Die Feuerwehr war mit vier Löschfahrzeugen angerückt, die Polizei mit mindestens drei Streifenwagen. Noch eine Menge weiterer Leute stand herum, manche davon wichtig, die meisten aber nur, um zu gaffen. Ich wartete darauf, dass jemand herkommen und uns zum Weitergehen auffordern würde. So wie man es aus dem Fernsehen kannte. »Geht weiter, Leute! Hier gibt es nichts zu sehen.«
Was übrigens niemals der Wahrheit entspricht. Denn warum sollte man stehen bleiben, wenn es nichts zu sehen gibt? Es kam aber niemand. Wahrscheinlich waren sie alle überfordert, zu perplex, um richtig reagieren zu können. Die Autos standen wild in der Gegend herum, völlig unkoordiniert; gerade ein Löschfahrzeug stand so dicht bei der Schulwand, dass zwei Feuerwehrmänner von der ausgefahrenen Leiter aus mit einem Schlauch ins Innere zielen konnten. Es war der Chemieraum, aus dem noch immer einige Rauchwolken drangen. Auf der gesamten Fensterfront waren die Scheiben herausgebrochen, die Splitter und Scherben lagen im Gras vor der Schule, wobei ich nicht sagen konnte, ob das durch die Hitze passiert oder von der Feuerwehr nachträglich verursacht worden war. An den Chemieraum grenzte der Biologieraum; auch dort fehlten Scheiben, und ich fragte mich, ob die vielen Exponate, die dort lagerten, die Käfer und Schmetterlinge, die Gräser und Blüten, die in Alkohol eingelegten Küken, Frösche und Ratten wohl ebenfalls mit verbrannt waren. Da, wo die Flammen nach draußen gedrungen waren, war die Hauswand geschwärzt, sah nun alt und ranzig aus. Überhaupt erinnerte die Schule an einen Bombenangriff.
»Vielleicht war das ein Terroranschlag«, schlussfolgerte dann auch jemand.
Ein anderer antwortete: »Sicher! Wenn die Terroristen die Stadt angreifen, werden sie bestimmt an unserer Schule damit beginnen.«
Ich lief ein wenig herum und entdeckte ein paar Leute aus meiner Klasse. Auch dort blühten bereits die Spekulationen.
»Vielleicht ist ja irgendwas im Chemieraum explodiert«, meinte Bastian Konrad, der von Chemie ungefähr so viel verstand wie meine Mutter, nämlich gar nichts. »Irgendeine Flüssigkeit, eine Säure oder so was.«
»Ganz bestimmt«, pflichtete ihm Sandra Hoffmann bei, die immer alles wusste. »In den Osterferien, nachts, na klar.«
»Hast du eine bessere Idee?«
Hatte sie ausnahmsweise nicht. Niemand hatte eine. Die ganze Sache war komisch. Und rätselhaft. Ich entdeckte etwas Blaues am Boden, das seltsam leuchtete, und stieß mit dem Schuh dagegen. Dann bückte ich mich und zog einen blauen Ohrring unter dem Sand hervor. Er bestand aus drei im Sonnenlicht funkelnden Steinen, und für einen Moment gab ich mich der Illusion hin, dass es vielleicht Diamanten wären. Ich schaute mich um, entdeckte aber niemanden, dem der Ohrring zu gehören schien. Dafür sah ich einen dicken Mann, der mich rücklings gegen ein Auto gelehnt aufmerksam beobachtete. Ich steckte den Ohrring ein und lief weiter.
»Was passiert denn nun mit uns?«, wollte Bastian wissen. »Geht der Unterricht nach den Ferien normal weiter?«
»In den Räumen kann doch niemand mehr Unterricht machen. Jedenfalls nicht auf absehbare Zeit«, meinte Sandra. »Sie werden uns bestimmt an andere Schulen verteilen. Zumindest bis zum Rest des Schuljahres.«
»Oje, hoffentlich komme ich dann nicht aufs Schiller-Gymnasium«, jammerte Bastian. »Da fahre ich über eine halbe Stunde hin.«
Er hatte Glück und kam nicht aufs Schiller-Gymnasium. Dafür bin ich hier gelandet. Obwohl auch ich über eine halbe Stunde bis hierher brauche. Zumindest mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit dem Fahrrad schaffe ich es in fünfzehn Minuten. Mit mir sind 26 weitere Schüler hierhergekommen, die auf die jeweiligen Klassen verteilt wurden, elf davon in meiner Stufe. Unter ihnen eben Mona, die früher in meine Parallelklasse gegangen ist.
Ich linse auf die Uhr. Die Stunde ist gleich vorbei, endlich. Der Lehrer – wie heißt er gleich noch mal: Herr Walter? – leiert in monotoner Stimme seinen Unterricht herunter. Ich bin mir inzwischen sicher, dass ich ihn nicht leiden kann. Er hat was von einem knorrigen Lurch, ein kleiner Kopf und schmale Schultern. Über der Lippe schimmert der Hauch von einem Bart, den man aber eher als Schatten wahrnimmt. Wie alt mag er sein? Sicher noch keine dreißig. Wahrscheinlich ist dies sein erstes offizielles Jahr als Lehrer und wir die Versuchskaninchen.
Als es klingelt, werfe ich einen Blick zu Mona, die ihren Krempel so schnell in die Tasche wirft, dass man denken könnte, sie wäre auf der Flucht. Als sie aus der Tür geht, habe ich für einen Augenblick das Gefühl, dass sie mir einen kurzen Blick zuwirft. Was wohl reines Wunschdenken ist.
Bis heute hat die Feuerwehr übrigens noch nicht herausfinden können, wie es zu dem Feuer gekommen ist. Sie wissen es einfach nicht. Vielleicht sagen sie es auch nur nicht.
MAIFEUER
In den ersten Tagen nach dem Brand meinten einige Schüler, dass nun vielleicht die Maifeuer abgesagt würden, die jedes Jahr um diese Zeit auf den Dörfern entfacht werden, um die Geister des Winters zu vertreiben. In unserer Gegend gibt es normalerweise eine ganze Menge davon. Doch die Schwarzseher sollten recht behalten: In diesem Jahr finden nur wenige Maifeuer statt; die meisten wurden aus Respekt vor dem, was in unserer Stadt passiert ist, abgesagt. Was dazu führt, dass sich bei den paar Verbleibenden die Menschen drängen.
Auch ich bin da. Warum auch nicht. Ich kann das, was geschehen ist, durch mein Fernbleiben nicht ungeschehen machen. Vielleicht würde ich so auch etwas Neues über das Feuer in der Schule erfahren. Abends machen mehr Gerüchte die Runde als tagsüber. Und wer weiß – möglicherweise würde ich sogar Mona treffen. In der Schule hatte ich sie bisher noch nicht angesprochen. Was hauptsächlich daran liegt, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Vielleicht würde sich ja heute eine Gelegenheit ergeben.
Obwohl die Nacht relativ kühl ist, hält man es kaum länger beim Feuer aus. Die ausgetrockneten Baumstämme und Äste sind fast fünf Meter hoch gestapelt, sodass die Hitze gigantisch ist und man das Gefühl hat, dass einem das Gesicht wegbrennt, wenn man zu nah rangeht. In den Flammen knackt und kracht es in einer Lautstärke, als würde ein Riese durch einen Wald stapfen und alles, was ihm vor die Füße gerät, niedertrampeln.
Ich starre eine Weile hinein, merke, wie die lodernden Flammen vor meinen Augen zu tanzen beginnen, bis ich müde werde. Ich bin erschöpft vom Feuer, seiner brennenden Hitze, von dem Gemurmel der Leute um mich herum, den ewig gleichen Gesprächen, den gleichen Menschen, dem ewigen Kreislauf. Ich will gern weg von hier, denke ich gerade, als der Stamm einer Birke krachend auseinanderbricht und mit einem Funkenflug in meine Richtung dafür sorgt, dass ich aus meinen Gedanken gerissen werde und beiseite springen muss.
In dem Moment erblicke ich Mona auf der anderen Seite des Scheiterhaufens. Endlich! Es ist komisch, dass ich sie genau jetzt entdecke, denn eigentlich kann ich in der flirrenden Luft des Feuers kaum etwas erkennen. Sie steht da wie ein Traumbild, ein Fantasiegebilde mit zerfließenden Konturen, eine Fata Morgana, die sich in Luft auflöst, sobald man sich ihr nähern will. Sie verharrt ganz still, bewegt sich nicht und schaut zu mir rüber. Zumindest scheint sie zu mir rüberzuschauen, aber ich kann mich da auch täuschen. Wobei – klingt es jetzt komisch, wenn ich sage, dass ich die ganze Zeit über das komische Gefühl hatte, beobachtet zu werden?
Einem Impuls folgend beschließe ich, die Sache mit der Fata Morgana zu überprüfen, und wandere zu ihr rüber.
»Hi!«
»Hi.« Sie hört nicht auf, ins Feuer zu blicken – also hat sie mich doch nicht angeschaut! –, als ich mich neben sie stelle.
»Ich bin’s, Phil.«
»Ich weiß.«
»Ach, ja? Woher denn?« Wenn du nicht mal aufschaust.
»Man muss nicht immer jemanden anschauen, um zu wissen, dass er da ist.«
»Worauf starrst du denn so gebannt?«
Endlich reißt sie ihren Blick los und blickt mich an, zwinkert ein paar Mal in der heißen Luft. »Was glaubst du denn?«
Sie durchbohrt mich geradezu mit ihren Augen, die unglaublich klar sind. So klar, dass ich die Flammen darin tanzen sehen kann. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, so von ihr angestarrt zu werden. Sie hat was von einer Katze. Irritiert wende ich den Blick ab.
»Was denn?« Sie beginnt zu lachen. »Glaubst du, ich könnte etwas entdecken, das ich nicht sehen soll?«
»Da gibt es nichts zu entdecken«, beeile ich mich zu sagen und versuche, ihr wieder in die Augen zu sehen.
»Na, dann.« Jetzt dreht sie sich von mir weg. Es scheint ihr gleichgültig zu sein. Ich scheine ihr gleichgültig zu sein. Nach einer Weile unbehaglichen Schweigens bin ich davon überzeugt, es verbockt zu haben, und will mich wieder verdrücken, als sie sagt: »Vermisst du unsere alte Schule?«
»Nein«, gebe ich zu.
»Ich auch nicht.«
Ich war vielleicht etwas voreilig. Ich vermisse die alte Schule zwar nicht. Ich mag die neue aber auch nicht. Den langen Anfahrtsweg, die Lehrer, die ungewohnte Art, wie sie ihren Stoff durchgehen. Bevor ich Mona aber fragen kann, ob es ihr an der neuen Schule besser gefällt, kommt ein Typ zu uns, stellt sich neben sie und reicht ihr einen Plastikbecher mit Cola. Er ist etwas kleiner als Mona und ein ganzes Stück kleiner als ich und sehr dünn. Er sieht aus, als wachse er noch. Ich spüre einen kurzen Stich in der Magengegend.
»Darf ich vorstellen: mein Bruder Felix.«
Oh, ihr Bruder. Beinahe hätte ich laut losgelacht. Natürlich, der breite Mund, die Sommersprossen. Während sie bei Mona nur leicht zu erkennen sind, sind sie bei ihrem Bruder deutlich ausgeprägt. Leider wirken sie bei ihm nicht halb so attraktiv.
»Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hast«, rufe ich erleichtert aus.
Mona ist nicht verwundert. »Weil du ein Ignorant bist.«
Das trifft mich unerwartet. Es gibt Dinge, die man mir vorwirft, die ich irgendwo nachvollziehen kann. Ich bin zum Beispiel faul. Meine Noten sind zwar okay, in einigen Fächern sogar ziemlich gut, was aber daran liegt, dass mir diese Dinge dann zufallen. Alles, wobei ich mich anstrengen oder an mir arbeiten müsste, vernachlässige ich jedoch. Ich neige einfach nicht dazu, nach Höherem zu streben. Seit Monaten rennt mir ein Typ vom örtlichen Ruderverband hinterher. Er will mich unbedingt in seinem Verein haben, weil ich seiner Meinung nach die idealen Voraussetzungen dafür mitbringe – ich bin groß und habe lange Arme. Außerdem bin ich ein guter Leichtathlet. Dass ich ein miserabler Schwimmer bin und schnell Schiss im tiefen Wasser bekomme, weiß er ja nicht. Niemand muss das wissen, und so schiebe ich auch hier Lustlosigkeit vor, was meinen Vater schier verzweifeln lässt. Aus mir würde nie etwas werden, ruft er dann immer. Ich wäre ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht hat er ja recht. Zudem sagt man mir zuweilen nach, arrogant zu sein. Womit ich ebenfalls leben kann.
Aber ignorant?
»Mein Bruder war schon in unserer alten Schule eine Klasse unter uns«, erklärt Mona, das Gesicht wieder dem Feuer zugewandt. »Er hat dir mal dein Handy wiedergebracht, als du es verloren hattest. Du hattest dich sogar mit ihm unterhalten.«
Ich entsinne mich dunkel. Zu lange her.
»Hallo, Phil«, grüßt Felix mit einem Kopfnicken.
Ich nicke zurück. »Okay«, murmle ich etwas ratlos und verweise auf meinen leeren Plastikbecher. »Dann werde ich mal weiterziehen.«
»Schon?«, fragt Mona.
»Wieso schon?«
»Na, du wolltest mich doch kennenlernen, oder?«
»Vielleicht.« Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Irgendwie ist das Gespräch nicht verlaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Vielleicht hatte ich etwas Romantischeres im Sinn gehabt, von wegen abends am Lagerfeuer und so, keine Ahnung. Dass wir nun über ihren kleinen Bruder reden, hat etwas Ernüchterndes.
»Na, also. Dann tue es doch.«
Ihre Augen haben jetzt wieder dieses tolle Funkeln. Und selbst jetzt im Schein der Flammen wirkt ihre Haut so unsagbar zart, dass ich sie gern berühren möchte.
Nachdem wir ein Stück von den Flammen weggerückt sind, quatschen wir über Belanglosigkeiten. Ab und zu kommen Leute vorbei, die ich kenne, die auch Mona kennen müsste, doch im Gegensatz zu mir grüßt sie kaum jemanden. Sie blickt einfach zwischen ihnen hindurch. Bisher hatte ich mich immer für kontaktscheu gehalten. Mona schlägt mich hier jedoch um Längen. Immer mehr verfestigt sich mein Eindruck von ihr als unnahbarer Schwan, was aber erst recht einen Ehrgeiz in mir weckt, mehr über sie zu erfahren.
»Was hast du da?«, fragt Mona und weist auf die große Narbe an meiner rechten Hand.
»Ach das.« Ich streiche kurz über die entsprechende Stelle, als würde mir dadurch wieder einfallen, wo ich sie mir geholt habe. »Da hat mich ein Hund gebissen.«
Mona und ihr Bruder verziehen gleichzeitig das Gesicht, als wäre die Sache erst vor ein paar Minuten passiert.
»Krass«, murmelt Mona.
»War auch nicht schön«, nicke ich, während ich die wulstige Linie mit dem Zeigefinger entlangfahre.
»Tut es noch weh?«, will Felix wissen. Er hat eine unangenehm hoch klingende, leicht nasale Stimme.
»Nein, schon lange nicht mehr. Ist ja auch schon eine Weile her. Damals war ich sechs oder sieben.«
»Warum hat dich der Hund gebissen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht habe ich nach Katze gerochen.«
Mona streckt die Finger aus und berührt die Narbe. Langsam fährt sie über die immer noch leicht gezackte Linie, als würde sie einen unbekannten Weg suchen. Es ist das erste Mal, dass sie mich berührt. Ihre Finger sind klein und kühl, obwohl wir so nah beim Feuer sitzen, und ich halte die Luft an, als wären ihre Finger kleine Schmetterlinge, die beim ersten Luftzug davonflattern könnten.
Als mir die Stille zu lang wird, sage ich: »Meine Mutter meinte damals, bis ich heirate, wäre alles wieder verheilt. Inzwischen glaube ich nicht mehr daran.« Ich lache kurz darüber, aber Mona lacht nicht.
Sie nimmt ihre Finger wieder weg. »Was glaubst du nicht? Dass du heiratest oder dass alles verheilt.«
Ich setze die Hand ebenfalls wieder ab. »Beides, würde ich sagen.«
Mona verändert ihre Position und legt nachdenklich den Kopf in den Nacken. Eine komische Situation. Als ob wir uns zu schnell zu nahe gekommen sind. Wie hatten wir uns bis hierher verirren können?
Eine Weile starren wir in die Flammen, die schon langsam an Kraft und Höhe zu verlieren beginnen, jeder in seine eigene Gedankenwelt zurückgezogen. Um uns herum gehen die Gespräche weiter, mühelos, zwanglos. »Hast du gehört«, sagt ein Mädchen zu einem anderen, »sie haben einen Verdächtigen.«
»Ich habe gehört, es waren mehrere Leute«, will die andere wissen. Es geht wohl um den Schulbrand.
Mir scheint, dass Mona dem Gespräch lauscht. Auf einmal wirkt sie etwas angespannt.
»Alles klar?«, frage ich.
»Sicher.« Sie schüttelt sich kurz, als wenn ihr plötzlich kalt wäre. »Ich wünschte nur, die Sache mit dem Feuer wäre endlich ausgestanden. Dass sie wüssten, wie es passiert ist.«
»Ich auch«, sage ich, obwohl es mir eigentlich egal ist.
»Hast du einen Verdacht?« Sie sieht mich plötzlich neugierig an.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, nicht den geringsten.«
Ich merke, wie mich das Gespräch zu ermüden beginnt. Es ist spät. Viele Leute sind inzwischen weg, das Feuer ist noch kleiner geworden. Bis es ganz runtergebrannt ist, wird es zwar noch eine Weile dauern, aber die Stimmung ist dahin, wird fade. Die Kälte beginnt in die Sachen zu kriechen. Ich raffe mich auf.
»Musst du schon los?«, fragt Mona. »Morgen ist doch Sonntag.«
»Da geh ich rudern.« Das ist zwar gelogen, aber es klingt zumindest cool.
Sie ist erstaunt. »Du bist in einem Ruderklub?«