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Die Erlösung
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eBook280 Seiten3 Stunden

Die Erlösung

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Über dieses E-Book

Jeremiah hat nur einen einzigen Wunsch: Nicht mehr anders sein als alle anderen, endlich respektiert und geschätzt werden. Deswegen unterzieht er sich in einem von extreme Evangelikalisten geleiteten Sommercamp der dort gepriesenen Wandlung. Vom Homo zum Hetero im Handumdrehen, dafür würde Jeremiah alles tun! Dass die versprochene Erlösung von seinem Leid einen ganz anderen Weg nehmen kann, erfährt er, als er sich im Camp in einen anderen Mann verliebt. Aber kann Jeremiah diese Liebe wirklich retten?
SpracheDeutsch
HerausgeberBruno-Books
Erscheinungsdatum1. Juni 2012
ISBN9783867874069
Die Erlösung

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    Buchvorschau

    Die Erlösung - Chris Parker

    Impressum

    »Crash here we go

    You can face it or erase it

    I do believe we can take this

    And make it a wonderful love.«

    Creeper Lagoon, »Wonderful Love«

    Prolog

    »Vergebt mir, heiliger Vater, denn ich habe gesündigt.«

    »Sprich, und deine Sünden sollen dir vergeben werden«, antwortete der Priester mit kraftvoller, aber ruhiger Stimme. Im Beichtstuhl war es dunkel und still. Er hörte, wie die Finger seines Schäfchens nervös über Stoff strichen, um ihn zu glätten. Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, doch dann folgten entschlossene Worte: »Ich werde meinen Sohn in das Camp schicken.«

    Es war eine Frau, die zu ihm sprach. Ihre helle Stimme zitterte leicht, als sie fortfuhr: »Ich weiß, dass sie ihm dort helfen werden, aber … aber ich zweifle noch, Vater. Vielleicht muss es nicht sein …«

    »Du darfst nicht zweifeln, mein Kind«, antwortete der Priester ruhig. »Nicht an Gottes Wort. Dein Sohn muss sich ändern.«

    »Wer sagt, dass er es muss!«, begehrte sie auf, laut und ungehemmt. Sie schien ein Schluchzen zu unterdrücken.

    Seufzend erhob sich der Priester. Er verließ den Beichtstuhl und kehrte nach einiger Zeit wieder zurück. Papier raschelte, als er die Bibel aufschlug: »Und du sollst nicht bei einem Mann liegen, wie du bei einer Frau liegst. Es ist ein Gräuel.«

    Geräuschvoll klappte der Priester die Bibel wieder zu. Der dumpfe Laut klang unwirklich in dem totenstillen Beichtstuhl. »Er muss sich ändern, mein Kind. Das weißt du.«

    Die Frau schwieg, und der Priester hörte, wie sie leise zu weinen begann.

    Drei Wochen später.

    Bitte … Erlösung …

    Jeremiah wollte nichts mehr außer Erlösung.

    Gehetzt blickte er sich um, war auf der Suche nach einem Ausweg, aber er hatte einfach nicht mehr die Kraft, um weiterzumachen. Nicht nach allem, was passiert war …

    Du kannst das schaffen – du musst das schaffen!

    Aber es kam keine rettende Idee, gab keine noch so jämmerliche Waffe, mit der er sich gegen die grausame Willkür des Lebens hätte verteidigen können, die ihn wieder in diese Kirche getrieben hatte. Es schien ihm, als würden die grauen Gemäuer ihn auslachen, der in der Luft flirrende Staub ihn verspotten, das Holz der Bänke triumphierend knacken, weil sie ihn wieder eingefangen hatten; er war erneut hier, in einen Käfig gesperrt wie ein Tier, und er hörte das Schloss zum letzten Mal zuschnappen.

    Sein rasender Blick folgte dem Fall eines Schweißtropfens, bevor dieser auf den steinernen Bodenfliesen für immer zerbarst. Der Boden fühlte sich so kalt an, kalt an seinen Knien und seiner Stirn, denn immer noch kroch er, geduckt, angsterfüllt, tot.

    Ich muss rennen.

    Aber wohin? Wohin konnte Jeremiah schon laufen, ohne dass der Mann am Kreuz es sehen würde? Es würde ihn nicht wundern, wenn sich hinter dessen stumpfen Augen Kameras verbargen, kleine tückische Linsen, mit denen die Wärter das Tier noch im Käfig verhöhnen wollten, wir sehen dich, wir sehen dich immer …

    Jeremiah sprang auf die Füße. Er würde nicht kampflos aufgeben, nicht, wenn Chester noch irgendwo da draußen auf ihn wartete!

    Eine Tür lag hinter ihm, die konnte er nicht nehmen, denn die Wärter warteten davor. Also blieb nur noch eins: Die Treppe hinauf in den Kirchturm.

    Als er Stufe um Stufe entlang hastete, immer höher hinaus, kam er sich vor wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dâme, welcher seinen Herrn Frollo auf die Spitze der Kirche jagte, um ihn schließlich hinunterzustoßen, als Rache für den Tod seiner geliebten Esmeralda.

    Auf dem Dach der Kirche schien die Sonne. Der Himmel strahlte leuchtend blau, und die Vögel zwitscherten unbekümmert, solange die großen Messingglocken schwiegen. Ein leichter Windhauch durchfuhr sein Haar, er musste es sich aus den Augen wischen, um mit seinen Blicken den Tauben zu folgen, die sich flügelschlagend vom Kirchturm erhoben.

    Freiheit.

    Jeremiahs Atem kam immer noch in Stößen, als er sich umblickte: Vor ihm lag das Camp mit seinen hohen Mauern, das sein Leben zur Hölle gemacht hatte, dahinter der kleine Wald mit dem rätselhaften weißen Gebäude, und noch weiter weg konnte er den Smog erkennen, der an heißen Sommertagen wie diesem stets über der Stadt Memphis schwebte wie ein unheilverkündendes Omen.

    Sie war so weit weg.

    So unendlich weit weg.

    Er schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie die Hoffnung sich zwischen seinen Fingern in Luft auflöste, gerade, als er sie zu packen gewagt hatte. Sie hinterließ schmerzhafte Spuren auf seinen Händen, Narben, die er nie wieder verlieren würde, als ihm klar wurde, dass es keinen Ausweg gab.

    Ich bin nicht Quasimodo. Ich bin Frollo.

    Um frei zu sein, musste er sich selbst hinunterstoßen.

    Jeremiah starrte in den Abgrund, der sich vor ihm auftat. Hörte seine Mutter murmeln: »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« Hörte Chester sagen: »Vertrau mir.« Hörte zum letzten Mal das Rauschen der Blätter im Wind, spürte noch eine einzige Sekunde lang die warme Sonne auf seiner Haut, vergaß den Geschmack von Erbrochenem auf seinen Lippen.

    Dann lächelte er und machte einen Schritt nach vorne.

    Erlösung.

    Und vor seinem geistigen Auge spielte sich alles noch einmal ab, in einer rasenden Geschwindigkeit, schneller noch als sein Fall, so, wie es immer behauptet wird …

    1. Kapitel

    »Weil sie den richtigen

    Weg verlassen haben,

    irren sie jetzt herum«

    2. Petrus 2, 15

    Der nachtschwarz lackierte Mercedes fuhr durch die vor Hitze brütenden Straßen von Memphis, umgeben von abertausend anderen Kraftfahrzeugen. Aus den Augenwinkeln betrachtete Jeremiah Jessop seine Mutter, die neben ihm auf dem Fahrersitz des Wagens saß. Kurz erwiderte sie seinen Blick, dann strich sie sich die wenigen strohblonden Strähnen, die nicht fest in ihrem Dutt saßen, aus dem Gesicht und fixierte ihre Augen, ebenso königsblau getönt wie die ihres Sohnes, wieder auf die Straße. In der morgendlichen Rushhour konnte man in Memphis schneller sterben als in den Stromschnellen des Mississippis – was hauptsächlich daran lag, dass niemand so dumm war, sich in die Stromschnellen des Mississippis hineinzuwagen, die Autofahrer hingegen ganz erpicht darauf schienen, ihre Airbags auszuprobieren, ohne zu wissen, dass diese aufgrund der Finanzkrise in immer weniger Autos vorhanden waren.

    Jeremiah wandte den Blick wieder nach vorn auf die Straße. Er fragte sich, wo sein Vater wohl gerade steckte … Samuel war heute nicht aufgetaucht, um ihn gemeinsam mit seiner Mutter zu dem Camp zu bringen, welches ihn die nächsten acht Wochen lang beherbergen würde. »Dort kann Ihrem Sohn geholfen werden, Cornelia«, hatte der Pastor zu seiner Mutter gesagt, »die Menschen dort können mithilfe des Glaubens wieder zu Gott zurückfinden und die Seele von der Sünde befreien.«

    Jeremiah war der festen Überzeugung, dass ihm die Rettung seiner Seele gelingen würde. Es musste einfach sein! Für seine Mutter, um sie lachen zu sehen; für seinen Vater, der zwar nicht immer für ihn da sein konnte, aber stolz auf ihn sein würde.

    Alles würde sich bald ändern!

    Auf einmal zog ein Werbeplakat am Straßenrand Jeremiahs Aufmerksamkeit auf sich: Die Flasche Whisky, die darauf abgebildet war, machte ihm mit einem Schlag seine trockene Kehle bewusst. Selbst nach fünf Monaten strikter Abstinenz genügte ein bloßes Bild, um ihn in Versuchung zu führen … Doch an seine vergangene Alkoholsucht wollte er nicht denken.

    Auch das würde sich bald ändern. Alles würde sich bald ändern!

    Unauffällig blickte er wieder zu seiner Mutter, während sie auf die Autobahn fuhren, die zu dieser Zeit des Jahres stank wie ein Straßenköter. Seine Mutter rückte ihren nur locker übergeworfenen distelgrauen Regenmantel zurecht und bedeckte so ihre schneeweiße Bluse und den beigefarbenen knielangen Rock. Keine Laufmasche zog sich durch ihre sandfarbene Strumpfhose, und die goldene Kreuzkette um ihren Hals fügte sich perfekt in das Farbschema ein. Alles passte so gut zusammen, dass es langweilig wirkte.

    Die Kreuzkette war erst vor zehn Jahren hinzugekommen, als sie sich und ihren Sohn hatte taufen lassen. Sie waren damit von Atheisten zu katholischen Christen geworden, auch wenn er diesen Wandel im Gegensatz zu seiner Mutter nie verinnerlicht hatte.

    »Ich bin sehr froh, dass du in dieses Camp fährst, Jeremiah«, sagte seine Mutter auf einmal.

    »Danke, Mama«, erwiderte er ehrlich. Er war ihr dankbar – für so vieles. Dafür, dass sie ihn immer noch liebte, dass sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte und dass sie ihm helfen wollte.

    Sie lächelte: »Jeremiah. Der Dank gilt Gott, der dich wieder zurück auf den rechten Pfad geführt hat. Ich weiß, dass es sehr schwierig für dich gewesen ist. Es war für dich nicht so leicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen wie für andere Kinder. Es ist verständlich, dass du dich der Sünde zugewandt hast. Aber glaube mir: Gott wird dir vergeben, wenn du dich veränderst und die Liebe zu einer Frau gefunden hast, und er wird dich als seinen Sohn anerkennen.«

    Amen, fügte Jeremiah in seinem Kopf hinzu, hing aber dennoch an den Lippen seiner Mutter und lauschte jedem Wort.

    »Die Menschen dort werden dir helfen können. Dort wird es Kinder geben, die genauso kämpfen wie du. Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du bist ein starker Junge!«

    Prickelnde Wärme breitete sich in seiner Magengegend aus, als seine Mutter ihm den Kopf zuwandte und ihn direkt anlächelte. Jeremiah grinste glücklich zurück. Er musste es ihr sagen. Damals hatte er ihr nicht gesagt, dass er Männer attraktiv fand, doch das war ein Fehler gewesen. Er musste ihr sagen, wie viel es ihm bedeutete. Alles mussten sie teilen, dann könnten sie ihre Probleme auch lösen.

    »Alles für dich, Mama.«

    Sie lächelte gütig und sah wieder auf die Straße, legte ihm aber kurz die Hand auf die Schulter. »Alles zuerst für den Herrn, Jeremiah.«

    Er zuckte zusammen, aber nicht wegen ihrer Worten, sondern weil ihre Finger genau auf einem der blauen Flecken lagen, die seinen Arm zierten. Ein kleines Abschiedsgeschenk von den Arschlöchern seiner Schule. Jeremiah hatte sich daran gewöhnt. Wirklich, es gab Schlimmeres als das bisschen Ärger in der Schule; klar, er wurde schon mal in einen Spind geworfen oder herumgeschubst und getreten, aber er kam immer mit ein paar Prellungen davon. Nichts Großes. Die Beleidigungen waren auch nicht besonders einfallsreich, über »Schwuchtel« und »Pussy« ging es meistens nicht hinaus.

    Aber auch das würde sich bald ändern. Ja, alles würde sich bald ändern!

    Das Camp lag in Oakland, dem äußersten Vorort der Stadt Memphis. An der letzten Kreuzung davor stand zu ihrer Linken ein rechteckiges, blendend weißes Gebäude am Straßenrand. Jeremiah betrachtete es genau: Keine Fenster, keine Türen, ein ebenso reinweißes, sauberes Flachdach wie die Wände selbst. Unwillkürlich fürchtete er, dass das Camp in diesem Gebäude stattfinden würde. Er stand einige schlimme Sekunden aus, bis seine Mutter nach links abbog und sie es hinter sich ließen. Doch trotz des schlechten Gefühles in seiner Magengegend drehte er sich um und löste den Blick nicht von dem reinen Gebilde, bis es hinter den Bäumen des Waldes verschwand, durch den sie nun fuhren.

    Hinter dem Wald lag das Camp.

    Das Erste, was er sah, war nicht der aufragende moderne Kirchturm, die hohen Mauern oder das vergitterte Eisentor. Es waren die Demonstranten.

    Gut zwanzig Menschen hatten sich auf den restlichen 250 Metern zwischen dem Ende des Waldes und dem Camp versammelt. Sie standen zu beiden Seiten der Straße und hielten jeder ein Schild in die Höhe:

    LIEBE BRAUCHT KEINE HEILUNG!

    JESUS LIEBT MICH, WEIL ICH LIEBE. WAS SAGT ER ZU DEINEM HASS?

    GOTT HAT UNS GESCHAFFEN, SO WIE WIR SIND. GOTT LIEBT UNS, SO WIE WIR SIND.

    Was wollen die von mir?, fragte sich Jeremiah. Verständnislos blickte er die Frauen und Männer, Mädchen und Jungen an, die sich dort versammelt hatten. Was interessiert es sie überhaupt?

    Aber ein Plakat hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Es wurde von zwei jungen Frauen getragen, die einander fest in den Armen hielten. Jeremiah würde den Blick aus ihren dunklen Augen niemals vergessen, so eindringlich fixierten sie ihn. Einen Moment lang sahen die Mädchen das Auto bloß an, dann stellten sie sich kurzentschlossen auf die Straße und versperrten dem Mercedes den Weg. Auf ihrem Plakat stand:

    DU BIST NICHT ALLEIN.

    Jeremiah schluckte. Seine Mutter, die notgedrungen stehen geblieben war, hupte warnend, doch das Paar wich nicht zur Seite. Weitere Demonstranten folgten ihrem Beispiel und stellten sich vor das nachtschwarze Auto, bis sich schließlich alle zwanzig dort eingefunden hatten. Einige klopften herausfordernd an die Scheiben oder setzten sich sogar auf die Motorhaube.

    Seine Mutter begann nun, energisch zu hupen. Umgehend erschienen einige Sicherheitskräfte in schwarzen Uniformen und trieben die Demonstranten zurück an den Straßenrand. Es entstand ein kurzes Handgemenge, durch das Jeremiah den Blick auf das Plakat und die Mädchen verlor. Trotzdem blieben sie ihm im Gedächtnis haften, auch noch, als seine Mutter durch das schmiedeeiserne Portal hinein ins Camp fuhr. Und plötzlich fühlte er sich seltsam. Unsicher. Er würde dieses Tor nie wieder als derselbe Mensch durchschreiten, das wusste er.

    Ein großer Banner prangte über ihnen, gespannt zwischen den Mauern, die das Camp umgaben, auf dem in schwarzen Blockbuchstaben stand:

    LASST DIE KINDER ZU MIR KOMMEN; HINDERT SIE NICHT DARAN! DENN MENSCHEN WIE IHNEN GEHÖRT DAS REICH GOTTES.

    »Lukas 18, 16«, murmelte seine Mutter und bekreuzigte sich. Jeremiah schluckte. Und das Gefühl, dass sich nun bald wirklich etwas ändern würde, wurde stärker, als sie auf den staubigen Vorplatz fuhren. Noch einmal blickte Jeremiah in den Rückspiegel, vielleicht, um noch einen letzten Blick auf die zwei jungen Frauen und ihr Schild zu erhaschen. Stattdessen sah er jedoch, dass zwei Uniformierte dem Mercedes folgten, beide so breitschultrig, dass sich Jeremiah zweimal hinter ihnen hätte verstecken können. Hastig wandte er den Blick nach vorn, um nicht noch nervöser zu werden, und spähte über eine weite Wiesenfläche den Hügel vor ihnen hinauf: Dort oben thronte das Camp, daneben konnte man eine kleine Kirche erkennen. Es waren helle, freundliche Gebäude, und die Glocken läuteten in einem schnellen Takt – fast wie zur Begrüßung.

    Dann bog seine Mutter ab und parkte. Sobald sie den Motor ausgestellt hatte, öffneten die zwei Uniformierten die Autotüren. Seine Mutter stieg aus, als sei es das Normalste der Welt, dass bewaffnete Kraftprotze ihr aus dem Wagen halfen. Jeremiah hingegen vermied es, die beiden Männer anzusehen, während er seinen Koffer von der Rückbank nahm. Wie eine Eskorte folgten ihnen die Sicherheitsbeamten, als er mit seiner Mutter über den Platz auf zwei Tische zuschritt. Es war ungewöhnlich trocken für diese Jahreszeit, trotzdem schien es immer noch, als müssten sie sich durch die schwere, feuchte Luft hindurch kämpfen. Der Staub knirschte nicht unter Jeremiahs Schuhen, sondern klebte daran, und es war beinah unerträglich heiß.

    Die Uniformierten verließen sie erst, als sie die Tische erreicht hatten. Denken die etwa, dass ich weglaufen will?, schoss es Jeremiah durch den Kopf. Warum sollte er das tun? Er war schließlich freiwillig hier! Doch noch bevor er sich diesem Gedanken weiter widmen konnte, sagte eine tiefe, durchdringende Stimme: »Mrs. Jessop, es ist mir eine Freude, Sie begrüßen zu dürfen.«

    Jeremiah sah auf: Vor ihm stand ein Mann um die 40, mit breiten Schultern und dem Ansatz eines Bierbauches. Sein Haar war schmutziggrau, weil der Alterungsprozess noch einige schwarze Strähnen übrig gelassen hatte. Sein dunkelgrauer Anzug hingegen schien brandneu, die polierten Manschettenknöpfe strahlten weiß im Sonnenlicht. Er wirkte wie aus einem Schwarz-Weiß-Film ausgeschnitten; selbst seine stechenden Augen hatten die Farbe von Schiefer.

    »Es ist mir eine Ehre, meinen Sohn hierherbringen zu dürfen, Mister Feth.«

    Mister Feth nickte nur. »Nennen Sie mich ruhig Richard. Und das ist Jeremiah, nehme ich an«, sagte er mit einem kurzen Seitenblick. Es bescherte Jeremiah ein seltsames Gefühl, dass dieser Mann seinen Namen schon kannte, obwohl er sich selbst noch nicht einmal vorgestellt hatte. Er fand es noch seltsamer, sogar ärgerlich, dass Mr. Feth und seine Mutter sich unterhielten, als sei er gar nicht da. Aber immerhin gab Jeremiah dies die Gelegenheit, sich umzusehen: Neben ihm sprachen zwei Frauen miteinander; eine schien ebenfalls eine Mitarbeiterin des Camps zu sein, jedenfalls hielt sie ein Clipboard in ihrer Hand. Sie war groß, etwas pummelig und lachte viel. Neben der anderen Frau stand ein Junge in Jeremiahs Alter: Kurze aschblonde Haare, ein brauner Parker, offensichtlich ein T-Shirt der Band Lovin’ & Hatin’ Me und eisblaue Augen, die ihm einen schnellen Blick zuwarfen. Die schmalen Lippen lächelten unsicher. Jeremiah lächelte zurück.

    »Ich versichere Ihnen, dass wir alles nur Erdenkliche für Ihren Sohn tun werden. Und mit Gottes Hilfe ist alles möglich!«

    Das Feuer, das auf einmal in Mr. Feths Stimme lag, zog Jeremiahs Aufmerksamkeit sofort auf ihn. Es war, als hätte jemand das Spiel umgedreht und die Welt in schwarz-weiß aufgenommen, während Mr. Feth nun in Farbe entflammte. Er schien zu wachsen und von Innen heraus zu strahlen. Dagegen wirkte alles andere blass und farblos. Jeremiahs Arme überzog eine Gänsehaut, ob aus Ehrfurcht, Angst oder Bewunderung wusste er nicht, und unwillkürlich trat er einen kleinen Schritt zurück.

    So schnell, wie es gekommen war, ging es wieder vorbei. Seine Mutter lächelte, antwortete »wie recht Sie doch haben«, und Mr. Feth schrumpfte zurück in sein farbloses Selbst. Die Leidenschaft wich aus seiner Stimme, stattdessen sprach er jetzt mit der eines Geschäftsmannes:

    »Haben Sie Ihrem Sohn bereits seine FIs abgenommen?«

    Seine Mutter schüttelte den Kopf, während Jeremiah etwas verwirrt fragte: »Entschuldigen Sie, Sir, meine was?«

    Doch Mr. Feth beachtete die Frage gar nicht und griff stattdessen in Jeremiahs Hosentaschen. Er zog Handy, Schlüssel und einen Bleistift hervor.

    Jeremiah wurde knallrot. Seine Mutter musterte die Gegenstände mit Abscheu. Mr. Feth legte alles sorgsam in eine Kiste unter dem Tisch. »Sehr schön«, sagte er schließlich, während Jeremiah immer noch auf eine Erklärung wartete. Doch seine Mutter schwieg beharrlich, und Mr. Feth weigerte sich weiterhin standhaft, ihn anzusehen, als er sie dazu aufforderte, ihm zu folgen.

    In diesem Moment rauschte plötzlich ein lautes Geräusch durch die Luft, entweder leise Donnerschläge oder heulende Motoren. Jeremiah drehte sich um, spähte durch das offene Tor und erstarrte:

    Zwei kohlrabenschwarze Motorräder rasten auf sie zu. Die Maschinen stoben durch die Menge der Demonstranten, Hände zu beiden Seiten ausgestreckt, sodass diese einschlagen konnten. In ungedrosseltem Tempo rasten sie auf den Platz und zu den Tischen, wo sie mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen.

    Vom ersten Motorrad schwang sich eine junge Frau in Jeremiahs Alter. Sie war klein, doch die Lederkleidung brachte ihren attraktiven Körper gut zur Geltung. Als sie den Helm abnahm, fiel vollmilchschokoladenbraunes Haar in einem Pferdeschwanz auf ihre Schultern und bernsteinfarbene Augen musterten alle Anwesenden scharf. Ihre ausgeprägten Wimpern schienen nicht ein einziges Mal zu blinzeln, als sie das feine Kinn reckte und stolz zum Camp hinaufblickte.

    Auch der zweite Fahrer stieg nun ab und entledigte sich seines Helmes.

    Jeremiah sog hörbar scharf die Luft ein. Ein junger Mann stand ihm gegenüber, der einem Gemälde entsprungen sein musste: Bernsteinfarbene Augen musterten die Umstehenden. Eine behandschuhte Hand strich durch die dunkelblonden Haare, die so aussahen, als habe der Motorradfahrer gerade eben erst hemmungslosen Sex gehabt. Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, Lippen, die zum Küssen einluden …

    Wie gebannt starrte Jeremiah den schlanken Körper des jungen Mannes an, die klar definierten Oberarme, den knackigen Hintern, während die Neuankömmlinge auf Richard zuschritten.

    »Chester Smith«, stellte der Motorradfahrer sich vor. Seine Stimme klang angenehm tief, amüsiert und gelassen. »Das hier ist meine Zwillingsschwester Maggie. Meine Eltern

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