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Mein Kind
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eBook323 Seiten4 Stunden

Mein Kind

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Über dieses E-Book

Felix Behnke wird der Boden unter den Füßen entrissen, als er von dem Verschwinden seiner siebenjährigen Tochter erfährt. Die Polizei schließt eine Entführung nicht aus. Auf der verzweifelten Suche nach der kleinen Emma häufen sich die Überfälle auf die Familie Behnke und diejenigen, die ihnen nahe stehen...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Aug. 2015
ISBN9783739293172
Mein Kind
Autor

Diana Petersen

Diana Petersen wurde 1990 als zweites von drei Mädchen in Flensburg geboren. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Tanzlehrerin und arbeitet seither in diesem Beruf. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten und Romane. Ihr erster Roman "Mein Kind" erschien im September 2015.

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    Buchvorschau

    Mein Kind - Diana Petersen

    Für Christina und David

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    12. Oktober 2012

    13. Oktober 2012

    Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 2012

    14. Oktober 2012

    15. Oktober

    Nacht 15. / 16. Oktober

    16. Oktober

    17. Oktober

    18. Oktober

    19. Oktober

    20. Oktober

    Sonntag 21. Oktober

    August 2007 – November 2010

    Sonntagabend 21. Oktober 2012

    Nacht Sonntag auf Montag

    Montag 22. Oktober

    Dienstag 23. Oktober

    Samstag 9. Februar 2013

    Sonntag 10. Februar

    Epilog

    Prolog

    September 2010

    Yvonne sah auf ihre Armbanduhr. Sie zeigte nicht nur die Uhrzeit, sondern auch ihre Geschwindigkeit und die Strecke, die sie bereits zurückgelegt hatte.

    Es war 17: 26 Uhr. Sieben Kilometer hatte sie bereits geschafft. Normalerweise schaffte sie zehn, doch jetzt blieb sie stehen und stützte ihre Hände auf die Knie. Durch das Dach der Blätter fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und klebte ihr das T- Shirt an den Rücken. Yvonne atmete tief. Der Atem blieb vor ihr in der kalten Herbstluft hängen. Irgendwie war heute der Wurm drin. Sie hätte es wissen müssen. Als sie den Waldrand erreicht hatte und aus dem Auto ausgestiegen war, war sie über einen Ast gestolpert. Sie hätte direkt umkehren und Heim fahren sollen. Ihr Knöchel schmerzte immer noch. Irgendwo in der Ferne raschelte und knackte es. Wahrscheinlich ein Tier. Yvonne richtete sich auf, und ließ ihren Blick durch das Dickicht schweifen. In ihrem Kopf pochte es unangenehm und sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Sie griff sich an den Hals und tastete nach der Pfeife. Rocky, rief sie und blies in das silberne Mundstück. Ein hoher Ton erklang, doch nichts regte sich. Wann hatte sie den Golden Retriever aus den Augen verloren? Normalerweise lief er nie weit weg. Er kehrte regelmäßig zu ihr zurück, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht verloren hatte. Rocky war seit drei Jahren Yvonnes täglicher Begleiter und ihr bester Freund.

    Nach dem Tod ihrer Eltern vor fast vier Jahren hatte ihr ein Freund einen Retrieverwelpen besorgt, damit sie sich nicht so einsam fühlte. Rocky hatte ihre Eltern natürlich nicht ersetzen können, aber dieser Hund war alles was Yvonne noch hatte, und einer der wenigen auf dieser Welt, der sie liebte und verstand. Rockyy, rief sie ein zweites Mal, jetzt energischer. Nichts. Wieder und wieder blies sie in die Hundepfeife, doch von Rocky fehlte jede Spur.

    Das Herz schlug hart gegen Yvonnes Rippen. Sie wusste, dass nicht das Training der Grund für ihr Herzklopfen war. Panik stieg in ihr auf. Sie lief wieder los, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Oberschenkel schmerzten, jeder Muskel schrie. Rocky, Rockyyy, rief sie bis ihre Stimme versagte, weil die Panik ihr die Kehle zuschnürte. Yvonne begann zu zittern. Tränen liefen ihr heiß über das verschwitzte Gesicht. Wieder und wieder blies sie in die Pfeife. Hektisch drehte die junge Frau sich um die eigene Achse, blickte in alle Richtungen, lauschte auf das kleinste Geräusch. Rocky blieb verschwunden. Yvonne riss sich ihren Schal vom Hals, weil sie glaubte zu ersticken. Ihr Fuß schmerzte. Sie rannte weiter, begann haltlos zu schluchzen. Ihre Kräfte versagten und Yvonne knickte erneut um. Sie hörte ein Übelkeit erregendes Geräusch als ihr die Bänder rissen und sie zu Boden fiel. Der Waldboden war unerwartet weich. Unbewusst verzog Yvonne das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Sie heulte. Lautlos. Sie wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Da hörte sie es. Ein Bellen. Es hallte von den Bäumen wider. Rocky, flüsterte Yvonne hoffnungsvoll und blies ein weiteres mal in die Pfeife. Rocky antwortete. Er konnte nicht sehr weit sein. Beruhigt setzte Yvonne sich auf und schämte sich für ihre Panik. Sie verhielt sich so albern. Deshalb hatte sie kaum mehr Freunde.

    Seit ihre Eltern unerwartet ums Leben gekommen waren, glaubte sie überall das Böse zu sehen. Niemand hatte Verständnis für ihre Hirngespinste, manchmal nicht einmal sie selbst.

    Sie versuchte sich hinzustellen, fühlte wie ihr Knöchel anschwoll. Vorsichtig öffnete sie ihren Schuh. Der Fuß maß bereits das doppelte als noch vor wenigen Sekunden. Doch Yvonne konnte stehen und sich humpelnd fortbewegen. Rocky, rief sie wieder und diesmal glaubte sie seine bellende Antwort aus nächster Nähe zu hören. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und hielt den Atem an, um zu hören aus welcher Richtung der Retriever kam. Sie konnte den Wind hören, der die Blätter rascheln ließ, die Motoren der Autos in weiter Ferne, aber keine trappelnden Hundepfoten. Sie drehte sich um neunzig Grad, stellte sich gegen den Wind und lauschte erneut. Autos, der Wind, ein Bellen. Wieder rief sie nach dem Hund. Ein erneutes Bellen, diesmal keine Antwort auf ihren Ruf, es klang anders. Panisch, um Hilfe rufend. Das Bellen des Hundes wurde schriller. Wieder begann Yvonne am ganzen Körper zu zittern. Panik ließ sie flach atmen. Vielleicht würde sie wirklich ersticken. 'Konzentrier dich', sagte sie sich selbst. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das, was sie hörte. Rocky, diesmal reichte ihre Stimme nur für ein Flüstern.

    Ein Bellen, ein Quieken. Stille.

    Sie fühlte wie ihre Sinne sie verließen. Ihre Beine gaben nach, doch bevor sie auf dem Boden aufschlug, wurde ihr schwarz vor Augen.

    12. Oktober 2012

    Ein Polizeiauto stand am Straßenrand. Das Blaulicht war nicht eingeschaltet. Keine Sirene war zu hören. Es hätte das Auto von jedem sein können, wenn nicht dick POLIZEI darauf gestanden hätte.

    Felix zitterten die Hände, als er seinen BMW auf die Auffahrt des Hauses lenkte, das einmal seins gewesen war. Ein großes Haus, für eine große Familie. Der Garten noch größer und einfach traumhaft. Es war sein Traum gewesen. Dieses Haus, der Garten, Liliana und Emma. Er war schon vor einiger Zeit zerplatzt. Vor genau vier Jahren, als Liliana plötzlich die Scheidung gewollt hatte. Er hatte gewusst, dass er Emma nicht bei sich behalten konnte. Er hätte zu wenig Zeit für seine Tochter gehabt, deshalb hatte er Liliana das Haus überlassen. Sie sollte Emma dort aufziehen. Ihr eine Kindheit ermöglichen, die er nie gehabt hatte. Doch auch der Traum von einer perfekten Kindheit für Emma war zerplatzt.

    Lilianas Stimme hatte gepresst geklungen, sie hatte kaum einen zusammenhängenden Satz heraus bekommen ohne in haltloses Schluchzen zu verfallen. Vor genau einer Stunde hatte Felix ihren Anruf erhalten und auch ohne sie zu verstehen gewusst, dass etwas schreckliches geschehen war. Emma war verschwunden. Sie war nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Eine Siebenjährige brachte man zur Schule und holte sie auch wieder ab. Das hatte er immer gesagt. Doch Liliana wollte ihre Tochter schon früh zur Selbstständigkeit erziehen. Sie waren oft verschiedener Ansichten was Emmas Erziehung anging. Doch auch wenn man diese Meinungsverschiedenheiten außer Betracht ließ, war Liliana nie eine gute Mutter gewesen. Keine mit der Felix Kinder groß ziehen wollte. Sie war nicht die Frau, die er sich für sein Leben erträumt hatte.

    Warum er sie geheiratet hatte? Manchmal findet man keine Antworten auf einige Fragen. Fragen, die man sich ohnehin nicht stellen sollte. Dass das Leben nicht immer so verlief wie man es sich schon seit frühester Kindheit erträumt hatte, hatte Felix schon des öfteren schmerzhaft erkennen müssen. Doch heute dachte er, dass er sich vielleicht getäuscht hatte. Ein freudloses Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er sich selbst sagte, dass einige Träume wohl doch wahr werden konnten. Denn sein schlimmster Alptraum hatte sich bewahrheitet. Emma war verschwunden.

    Felix schaltete den Motor aus und schloss die Augen. Sein Herz hämmerte wie schon damals zu seiner Hochzeit. Vielleicht hätte es ihm eine Warnung sein sollen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, fuhr sich mit der Hand durch das, in den letzten Jahren dünn gewordene Haar, und eilte zur Eingangstür des Hauses. Liliana empfing ihn mit blutunterlaufenden Augen. Die Tränen hatten ihre Schminke in langen Fäden das schöne Gesicht hinuntergezogen. Schluchzend fiel sie Felix um den Hals. Die Beamten sagen, sie leiten eine Fahndung ein, weiß der Teufel, wie lange das dauern soll. Es dauert viel zu lange. Wieso passiert nichts?, flüsterte sie ihm mit einer Stimme ins Ohr, die erschöpft und rauh war vom vielen Weinen und unnötigem Gerede.

    Er griff nach Lilianas Schultern und schob sie sanft doch bestimmt von sich weg. Er bemühte sich ruhig zu bleiben, blickte in ihre fast schwarzen Augen.

    Beruhig´ dich. Bist du sicher, dass sie nicht zu einer Freundin gefahren ist?

    Ärgerlich wand Liliana sich aus seinem Griff. Sie war stark durch den vielen Sport, der ihr immer wichtiger zu sein schien als ihre Familie.

    Ich habe alle angerufen, bin stundenlang durch die Gegend gefahren und habe jeden verdammten Menschen in ganz Handewitt angesprochen.

    Ihre Stimme wurde schrill. Sie ist weg, Felix. Verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

    Ihr schlanker Körper, trotz der definierten Muskeln doch so zerbrechlich, begann zu zittern, als sie ein erneuter Heulkrampf schüttelte. Felix packte sie am Arm und trug sie mehr, als dass er sie stützte hinein ins Wohnzimmer. Zwei Männer in Uniformen saßen an dem großen Esstisch auf der linken Seite des Raumes.

    Er beachtete sie nicht, trug die Frau, die ihm einmal so viel bedeutet haben musste, zur rechten Seite des Wohnzimmers und setzte sie auf die einladende Couch.

    Herr Behnke?, der größere der beiden Polizisten hatte sich von seinem Stuhl erhoben.

    Ja, das bin ich, Felix reichte erst ihm, dann seinem Kollegen die Hand. Der fremde Mann mit der Uniform stellte sich als Sören Christiansen und seinen Kollegen als Jens Jannsen vor. Sören Christiansen machte eine Geste mit der Hand, mit der er andeutete, dass Felix sich setzen sollte.

    Diesem entfuhr ein verächtliches Schnauben. Wenn jemand das Recht hatte einem anderen in diesem Haus einen Platz anzubieten, dann er, Felix. Es war sein Haus. Sein Traum. Doch Felix setzte sich ohne Protest. Der Polizist blieb stehen. Wie wir Ihrer Frau... Exfrau, schnitt Felix ihm das Wort ab.

    Der Beamte räusperte sich. Natürlich. Exfrau. Entschuldigen Sie. Wie wir... er deutete mit dem Kinn in Richtung Liliana, ... Frau Behnke bereits gesagt haben, sind wir in Begriff eine Fahndung einzuleiten. Allerdings… Ihre Tochter wird erst seit fünf Stunden vermisst. Wir können noch nicht von einem Verbrechen ausgehen. Liliana krampfte sich bei diesen Worten auf der Couch zusammen und schluchzte erneut auf.

    Felix versuchte ihre Trauer zu ignorieren. Er war nicht dazu verpflichtet ihr Halt zu geben. Nicht mehr. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte es nicht gekonnt. Er presste die Zähne aufeinander und blickte starr aus der großen Fensterfront. Die Sonne war fast am Horizont verschwunden und malte den Himmel dunkelrot. Rot wie Rosen. Rot wie Blut. Wofür stand diese Farbe noch? Einst hätte Felix sofort mit ´Liebe´geantwortet, doch heute war seine Antwort eine andere. Aggression. Rot. Ein aggressives Rot. Hämisch, sadistisch.

    Das Suchverfahren wird eingeleitet, wie gesagt. Wenn Ihre Tochter bis morgen Mittag nicht aufgetaucht sein sollte, …, meldete sich Jannsen zu Wort und Felix hätte ihm für seinen förmlichen Ton am liebsten den Kiefer gebrochen. Er riss seinen Blick von dem blutenden Himmel, sah die Polizisten an und nickte, ohne die Worte zu verstehen, die sie sagten.

    Ja, danke, er schüttelte den Kopf um wieder klar zu denken.

    Falls Sie noch Fragen an uns haben, scheuen Sie nicht uns anzurufen. Christiansen legte eine Visitenkarte auf den Tisch.

    Felix nickte abwesend. Ja... ja, werden wir, seine Stimme war leiser als üblich. Sie drohte ihm zu brechen.

    Die Männer reichten ihm erneut die Hand. Kümmern Sie sich etwas um Ihre Frau... Exfrau, korrigierte Jannsen sich selbst, sie wird Ihre Unterstützung brauchen.

    Seine Unterstützung. Sie hatte sie nie zu schätzen gewusst. Er hatte sie in allem unterstützt. Er hätte alles für sie gegeben. Doch das war vorbei. Er wollte ihr nicht beistehen. Nicht an sie denken. Er hatte viel zu lange nur an sie gedacht. Er war der Mann. Der starke Teil einer Beziehung. Doch diese Beziehung war Geschichte und nun war er es, der Halt brauchte.

    Jens Jannsen trat zu Liliana ans Sofa und beugte sich zu ihr hinunter. Vielleicht sollten Sie einen Arzt aufsuchen und sich ein Beruhigungsmittel verschreiben lassen.

    Sie reagierte nicht. Eine Hand legte sich auf Felix Schulter.

    Sie braucht Sie jetzt, sagte Sören Christiansen mit wissendem Blick.

    Ja, klar, Felix hatte seine Antwort sarkastisch klingen lassen wollen, doch es misslang ihm. Seine Stimme war ungewohnt dünn. Wir finden allein zur Tür, sagte Jannsen, der eben noch besorgt bei Liliana gestanden hatte und die Beamten verschwanden aus Felix´ Sichtfeld. Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen begann Liliana wieder laut zu wimmern. Ungerührt setzte Felix sich wieder an den klobigen Esstisch. Ein Schaudern ergriff seinen Körper und er schlug unbeholfen die Hände vors Gesicht. Er wusste nicht was er fühlen sollte. Sein Herz war leer. Alles was sein Leben ausgemacht hatte war fort. Emma war fort. Wäre sein Kopf doch nur so leer gewesen wie sein Herz. Er hätte sich nicht quälen müssen. Doch schmerzhafte Gedanken kreisten in seinem Kopf. Er konnte an nichts anderes denken. Emma. Emma. Emma...

    Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als Liliana sich endlich vom Sofa erhob. Wir können doch nicht einfach tatenlos herumsitzen, ihre Stimme klang wieder klar.

    Was hast du vor?, fragte Felix, dessen Stimmbänder sich vor Anspannung zu einem Knoten zusammen gezogen haben mussten. Wir müssen sie suchen, sie trat ein paar Schritte auf ihn zu. Er sah sie nicht an. Felix, wir können nicht einfach abwarten und nichts tun, ihre Augen funkelten.

    Wo willst du anfangen zu suchen? Es ist sinnlos, Liliana.

    Und wenn ich die ganze Nacht durch die Gegend laufen muss, ich werde nicht einfach hier sitzen und darauf hoffen das sie plötzlich an die Tür klopft.

    Denn lauf los, er wurde laut. Felix konnte fühlen wie die Wut heiß in ihm aufkochte. Liliana hatte besser auf Emma acht geben müssen, doch es war nicht der richtige Moment für Vorwürfe. Er schluckte seine Wut hinunter.

    Lauf los. Lauf dir deine Füße blutig, du wirst sie nicht finden. Wer weiß, wo sie sein kann. Sie ist beinahe acht Stunden fort, sie könnte überall sein. Angst ließ ihn am ganzen Körper zittern.

    Und genau deshalb müssen wir sie suchen, Lilianas Stimme wurde sanft. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm und griff nach seiner Hand. Vielleicht liegt sie verletzt in irgendeinem Graben. Vielleicht ist sie wirklich bei einer Freundin und hat die Zeit vergessen. Vielleicht aber hat sie jemand entführt. Vielleicht...

    SEI STILL! Glaubst du nicht, dass ich auch schon darüber nach gedacht habe?, er riss seine Hand aus ihrer und stand abrupt auf.

    Denkst du nicht, dass ich mir genau so Sorgen mache? Aber es hat keinen Sinn, Liliana!

    Du hast sie bereits aufgegeben. Es war keine Frage. Es war eine Feststellung. Liliana erschrak, als Felix die Fäuste auf die Tischplatte knallte.

    Halt den Mund!, jetzt schrie er. Du weißt nicht was in mir vorgeht, du hast keine Ahnung!

    Hab ich nicht?, sie zog eine Augenbraue in die Höhe. Bei jedem Streit hatte sie dies getan. Herablassend. Entwürdigend. Felix atmete tief durch. Sie brachte ihn in Rage. Sie hatte keine Ahnung, nicht die leiseste. Sie wusste nicht, was er gerade durchmachte. Ja, Emma war auch ihre Tochter, doch es gab Dinge in seinem Leben, von denen sie nichts wusste.

    Nun spiel nicht den besorgten Vater..., jetzt lächelte sie spöttisch. Sie setzte an um noch etwas zu sagen. Etwas Verletzendes. Als hätte sie ihm nicht schon genug Nadeln ins Herz gerammt.

    Halt den Mund, schrie er wieder, den Zeigefinger drohend auf sie gerichtet, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen.

    Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst. Halt einfach den Mund, Liliana. Halt verdammt noch mal deinen Mund.

    Das war so klar, sagte sie, immer noch herablassend lächelnd, Herr Behnke weiß nicht weiter und fängt an zu schreien. Das war ungerecht. Er hatte sie nie angeschrien. Felix wusste, dass sie besorgt war, durcheinander. Sie meinte nicht was sie sagte. Oder vielleicht doch? Es war egal. Er war so wütend. So verletzt und so wütend. Jetzt verschränkte sie auch noch tadelnd die Arme vor der Brust. Das war zu viel. Er konnte nichts dagegen tun. All die Gefühle die in den letzten Stunden überhand genommen hatten vernebelten seinen Verstand. Die Wut, die Angst, der Hass, die Sorge, die Verwirrung, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung. Das Unverständnis und die Panik, sie alle ballten sich zu einer einzigen Bewegung zusammen. Felix hob die Hand, holte weit aus und schlug sie, der mit weit aufgerissenen Augen und vor Entsetzen zu einem o geformten Mund vor ihm stehenden Liliana hart ins Gesicht. Die Wucht seines Schlags riss sie von den Füßen. Sie fiel krachend auf den gefliesten Wohnzimmerboden. Ungläubig starrte Felix auf seine Hand. Sie kribbelte. Seine Exfrau rappelte sich etwas auf, eine Hand an der Wange, die bereits anschwoll. Ihr Mund verzerrte sich zu einem stummen Schrei, aus ihren Augen quollen Tränen. Er zwang sich sie anzusehen. Wie lange sie so verharrten konnte wohl niemand sagen. Schließlich stürmte Felix aus dem Wohnzimmer, zur Haustür hinaus. Er knallte die Autotür hinter sich zu, startete den Motor und raste in die neblige Nacht hinaus.

    Er stand an seinem Waschbecken im Bad. Das Blut tropfte unentwegt von seinem Arm. Verdammtes Mistvieh. Es hatte ihm den rechten Unterarm zerrissen. Da wo die Zähne in sein Fleisch gedrungen waren, klafften unansehnliche Löcher aus denen dunkles Blut quoll. Es war ihm ein Rätsel wo das Tier plötzlich her gekommen war. Verflucht. So einen Fehler hätte er sich nicht leisten dürfen. Man musste immer auf alles vorbereitet sein. Ärgerlich über sich selbst zerriss er den Ärmel seines Hemdes mit den Zähnen. Er knotete die zerfransten Enden zusammen um die Blutung zu stoppen. Vorsichtig hielt er den Arm unter den Hahn und drehte warmes Wasser auf. Es brannte fies. Das Pochen wollte gar nicht mehr aufhören. 'Bei meinem Glück hatte dieses Biest Tollwut', dachte er sich und überlegte einen Arzt aufzusuchen. Nein. Das kam gar nicht in Frage. Wie sollte er alles erklären? Das Wasser mischte sich mit seinem Blut und färbte sich rosa. Lange blieb er so stehen. Sicher ist sicher. Jede einzelne Bakterie musste mit ausgespült werden. Das Tier hatte mit Sicherheit lange Zeit keinen Tierarzt, geschweige denn eine Impfung oder gar eine Wurmkur gesehen. Allmählich blieb das Wasser durchsichtig. Es hatte aufgehört zu bluten. Seine Haut hing in Fetzen von seinem Unterarm. Vielleicht musste er genäht werden. An einigen Stellen konnte er sein bloßes Fleisch sehen, einige Sehnen und Muskeln. Mit ausdruckslosem Gesicht musterte er seine Verletzung. Mit der Blutung hatte auch der Schmerz nachgelassen. Doch nun wünschte er sich beinahe das ätzende Brennen zurück. Nichts zu spüren war unheimlich. Es war nicht einmal mehr ein Kribbeln da. Nichts. Er versuchte die Finger seiner rechten Hand zu bewegen. Es gelang ihm. Jedoch nur um wenige Millimeter. Fühlen konnte er die Bewegung nicht, er musste ganz genau hinsehen um sie wahrzunehmen. Vielleicht bildete er sie sich aber auch nur ein. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Er stolperte laut fluchend zum Verbandskasten und machte sich daran, umständlich den Arm zu verbinden. Eine dunkle, fast schlammfarbene Salbe schmierte er sich dick auf den gesamten Unterarm. Dann legte er Kompressen darauf. Sie blieben an der dicken Schicht Betaisadona kleben. Dann wickelte er, mehr schlecht als recht, einen Verband darum. Mit fahrigen Fingern versuchte er einen Knoten zu binden, um alles zum Halten zu bringen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen und eine vertraute Wut kochte in ihm hoch. Je wütender er wurde, desto mehr begann er zu zittern. Er schrie laut auf. Es kümmerte ihn nicht, ob einer seiner Nachbarn ihn hörte. Er vergaß oft, dass er überhaupt welche hatte. Zu lange, zu oft war er allein. Endlich gelang es ihm, der Verband hielt. Am Ende legte er sich noch eine Schlinge um den Hals, in die er seinen verletzten Arm hängte. Er würde diesem Monster das Fell über die Ohren ziehen.

    13. Oktober 2012

    Liliana wachte früh auf. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Sie konnte sich nicht daran erinnern überhaupt eingeschlafen zu sein. Ihr Kopf tat weh. Als sie sich aufrichtete begann er laut zu pochen. Sie zuckte zusammen. Nicht nur die Schmerzen machten ihr zu schaffen. Auch die Erinnerungen

    prasselten nun erbarmungslos auf sie ein. Mit einem Atemzug war alles wieder da. Die Angst, die Verzweiflung. Emma war verschwunden. Nicht wieder aufgetaucht. Weg. Die Sorge um ihre Tochter ließ sie schwer Atmen. Sie schloss die Augen. Sie waren geschwollen vom vielen Geheule. Das eine mehr als das andere. Moment mal. Das eine mehr als das andere? Sie ignorierte den hämmernden Schmerz hinter ihrer Stirn und zwang sich aufzustehen. Sie tapste ins Bad, schaltete das Licht an und sah in den Spiegel. Beinahe erschrak sie. Ihr sonst so schönes Gesicht war fast nicht wiederzuerkennen. Ihre dunkelbraunen Augen waren von roten Linien durchzogen. Ihr immer sorgfältig geschminktes Gesicht war bleich. Da wo Felix´ Schlag sie getroffen hatte, färbte sich ihre makellose Haut lila und blau. Das linke Auge und der Wangenknochen darunter waren dick angeschwollen und entstellten sie fast bis zur Unkenntlichkeit, wie sie fand. Heiß rann ihr erneut eine Träne übers Gesicht. Ein beinahe vertrautes Gefühl. Sie hatte zu viel geweint in den letzten Stunden. Sie konnte immer noch nicht fassen, was gestern alles geschehen war. Es schien ihr wie ein Traum. Doch die Prellungen in ihrem Gesicht zeugten von der Realität. Sie zog sich aus und stellte sich unter die heiße Dusche. Vielleicht würde die Hitze ihren steifen Nacken etwas lockern. Sie fühlte sich wie nach einem Autounfall. Als hätte sie ein Schleudertrauma erlitten. Mit beiden Händen stützte sie sich gegen die Duschkabine und ließ sich das heiße Wasser den Rücken runter laufen. Sie dachte gleich umzufallen. Alle Kraft war aus ihrem Körper gewichen. Was war nur los? Die Welt stand plötzlich Kopf. Vielleicht war das die Quittung für ihr Verhalten. Die Rache dafür, dass sie Felix verlassen hatte. Felix. Er hatte sie geschlagen. Er hatte sie tatsächlich geschlagen. Doch sie konnte ihm nicht einmal böse sein.

    Sie hatte es gewiss verdient. Oder war es nicht das? Nahm sie es ihm vielleicht nicht übel, weil es sie einfach kalt ließ? Er war ein Trottel. Ein armer Trottel. Ohne sie war er hilflos. Was wollte er schon machen ohne sie? Ein Mann wie er, brauchte eine Frau wie sie an seiner Seite. Zu blöd, dass er der Scheidung damals zugestimmt hatte. Es war nichts weiter als ein Test gewesen. Er hatte ihn nicht bestanden. Ahnungsloser Dummkopf. Sie war ihm von Anfang an überlegen gewesen. Liliana hatte es schon immer geliebt mit den Männern zu spielen. Und nicht nur mit Männern, alle Menschen legten ihr die Welt zu Füßen. Es lag an ihrem Aussehen, das wusste sie. Schönen Menschen konnte niemand etwas ausschlagen. Sie war sich dessen bewusst. Sie liebte es im Mittelpunkt zu stehen. Nicht nur, dass Emma verschwunden

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