Orxan, der Hexenmeister
Von Nazim Kiygi
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Über dieses E-Book
Nazim Kiygi
Nazim Kiygi, geboren 1949 in Istanbul, studierte Sprachwissenschaften an der Ruhr-Uni Bochum. Er ist Verfasser mehrerer Wörterbücher. Zu seinen Werken gehören auch Romane, Theaterstücke und Erzählungen.
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Buchvorschau
Orxan, der Hexenmeister - Nazim Kiygi
für all die guten Hexen,
die ich kenne,
und für Petra
Inhaltsverzeichnis
Kapitel Idie Begegnung
Kapitel IIder vertraute Alltag
Kapitel IIIin Gedanken dreißig Jahre zurück
Kapitel IV eine Koreanerin und eine alte Frau
Kapitel Veine schwarze Witwe
Kapitel VIerste Hilfe
Kapitel VIIJudith
Kapitel VIII Inge
Kapitel IXbei Inge
Kapitel XFrau Meiersdorf
Kapitel XIbei Sing Ling
Kapitel XIIerst Klara, dann eine Psychiaterin
Kapitel XIIIEssen mit Judith
Kapitel XIVLamía
Kapitel XVdie Jungfrau
Kapitel XVIbei Judith
Kapitel XVIIIntermezzo
Kapitel XVIIIAussprache mit Inge
Kapitel XIXAussprache mit Judith
Kapitel XXAussprache mit Lamía
Kapitel XXIAussprache mit Olli
Kapitel XXIIgute Hexen, böse Hexen
Kapitel XXIIITelefonate
Kapitel XXIVbei Kläuschen
Kapitel XXVzwei alte Bücher
Kapitel XXVIeine mumifizierte Jungfrau
Kapitel XXVIIder Hexenmeister
Kapitel XXVIIIein völlig anderer Mensch
Kapitel XXIXBruder und Schwester
Kapitel XXXDas Spiel der Könige
Kapitel XXXIOrca am Rande des Wahnsinns
Kapitel XXXIIGroßvater und Hexenmeister
Figuren in der Reihenfolge ihres Auftritts
Orca Kir
50 Jahre alt, Privatier, sein Körper dient als Versteck für
Orxan, er ist der Vater von Norbert Busch und der
Großvater von Kläuschen
Alda Müller
Witwe, wohnt in derselben Straße wie Orca Kir, Tochter
von Frau Meiersdorf, Mutter von Judith Busch,
Großmutter von Kläuschen
Sing Ling
Musikstudentin aus Südkorea, wird von Esmeralda
getötet.
Frau Meiersdorf
wohnt im Seniorenheim ‘Abendsonne‘, Mutter von Alda
Müller, Großmutter von Judith Busch,
Urgroßmutter von Kläuschen
Judith Busch
arbeitet als Pflegerin im Seniorenheim ‘Abendsonne‘,
Tochter von Alda Müller, Enkelin von Frau Meiersdorf,
verheiratet mit Norbert Busch und
Mutter von Kläuschen
Inge Busch
Mutter von Norbert Busch,
Schwiegermutter von Judith Busch,
Großmutter von Kläuschen
Norbert Busch
Sohn von Inge Busch und Orca Kir, Stiefsohn von Olli
Henkel, Ehemann von Judith Busch,
Vater von Kläuschen
Lamía
eine ganz besondere Katze mit telepathischen
Fähigkeiten, die Alda Müller im Tal der Könige
gefunden hat. Ihre Tochter, Judith, hat der Katze den
Namen Lamía gegeben. Bei den alten Griechen war
Lamía die ‘Verschlingerin’. Orca vermutet, dass sie in
einem früheren Leben eine Hexe war.
Klara
Freundin von Norbert Busch
Ruth Barthels
Psychiaterin, Schwester von Olli Henkel
Olli Henkel
Freund von Orca Kir aus Studentenzeiten, verheiratet mit
Inge Busch, Stiefvater von Norbert Busch,
Stiefgroßvater von Kläuschen
Prof. Dr. Dr. Phil. Hermann Valerien
Sprachwissenschaftler, befreundet mit Orca Kir
Prof. Dr. Phil. Hans Krane
Sinologe und Nachbar von Hermann Valerien
Reino
Mitbewohner der WG-Busch
Kläuschen
Sohn von Judith und Norbert Busch,
Enkel von Alda Müller, Inge Busch und Orca Kir,
Urenkel von Frau Meiersdorf
Orxan
Ork, Bruder von Esma bzw. Esmaxan, Hexenmeister,
versteckt sich seit 1000 Jahren vor seiner Schwester und
lebt seit 50 Jahren im Körper von Orca Kir,
der ihm als Wirt dient.
Esmaxan
Esma, Schwester von Ork bzw. Orxan, Hexe, sucht ihren
Bruder in Gestalt einer Spinne seit 1000 Jahren.
Esmeralda
eine außerordentlich große Vogelspinne mit dem Gift
einer Spinnenart namens ‘Latrodectus mactans’ (wissenschaftliche
Bezeichnung für die ‘Schwarze Witwe’), sie
beherbergt Esmaxan und dient ihr als Wirt.
Kapitel I
die Begegnung
Er liebte den Alltag, ganz besonders seinen Alltag. Er war ihm so vertraut und gab ihm ein solches Gefühl der Geborgenheit, dass er jedem, der ihn ihm wegnehmen wollte, sei es auch nur für ein paar Stunden, mit einer gewissen Skepsis gegenübertrat. Sein Alltag fing gewöhnlich mit dem Aufstehen an, was eigentlich ziemlich alltäglich ist; es sei denn, er fing an wie an jenem Morgen, als er sich auszog und ins Badezimmer ging.
Er ging hinein und da sah er sie. Sie stand mitten auf dem weißen Klodeckel in voller Größe. Pechschwarz auf weiß! Was für ein Gegensatz! Was für ein imponierender Augenblick! Sie stand da und betrachtete ihn, ihre Blicke durchbohrten ihn. Er fühlte, wie er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Ihre Blicke trafen sich, es war um ihn geschehen, es war Liebe auf den ersten Blick. Ja, geradezu majestätisch stand sie da auf ihren Beinen.
»Ihre Beine! So zierlich, lang und gleich acht Stück!«
Diskret zog sie sich nun zurück, damit er endlich das tun könne, was er musste. Sie verstanden sich ohne Worte.
Jeder Klobesuch wurde für ihn ein aufregendes Ereignis. Jedes Mal das gleiche Ritual. Sie stand da auf dem Klodeckel, sie schauten sich gegenseitig tief in die Augen, dann zog sie sich zurück. So vergingen die Tage und in einer Nacht erschien sie ihm in einem Traum. Zum ersten Mal unterhielten sie sich. So erfuhr er ihren Namen:
»Esmeralda!«
Danach hielt er sich mehr im Badezimmer auf als in den übrigen Räumen des Hauses. Wenn er auf der Klobrille saß, hing Esmeralda an einem dünnen, feinen Faden von der Decke herab oder klebte an allen acht Beinen neben ihm auf der weißen Kachelwand und hörte ihm zu. Er erzählte ihr von sich, von seiner Kindheit, von seinem Alltag und einfach alles, was ihm gerade einfiel. Esmeralda hörte immer interessiert zu. Manchmal nickte sie mit dem Kopf, um ihm ihre Zustimmung anzudeuten, und manchmal tappte sie mit den Vorderbeinen, wenn sie nicht einverstanden war.
Inzwischen kannten sie sich seit einem Monat. Er war der glücklichste Mensch auf Erden. Seine Freunde bemerkten den Stimmungswandel bei ihm und fragten neugierig nach dem Grund. Er erzählte niemandem von Esmeralda. Er hatte Angst, dass neidische Menschen ihre Harmonie zerstören könnten. Er hielt sich immer weniger bei Freunden auf, denn er wollte so viel wie möglich bei Esmeralda sein. Ihre Beziehung war einmalig. Es war eine rein platonische Beziehung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Lebewesen. In dieser Phase ihrer Beziehung bemerkte er, dass Esmeralda gewachsen war. Sie war um mindestens zwei Zentimeter im Umfang gewachsen. Ihre Beine waren nicht mehr so zierlich wie am Anfang.
»Esmeralda war kein Kind mehr, sondern ein junges Mädchen geworden. «
Auch ihr Hunger war dementsprechend gestiegen. Sie begnügte sich nicht mehr mit kleinen Mücken und Fliegen, sondern verzehrte gleich ganze Brummer. Er sorgte natürlich dafür, dass eine ausreichende Menge von ihnen im Haus herumflog. Er züchtete sie regelrecht, indem er Speisereste in der Küche stehen ließ.
Die Tage vergingen in voller Harmonie. Eines Tages saß er auf dem Klo und las die Tageszeitung. Er war ziemlich vertieft in einen Artikel über Arbeitslosigkeit, als er etwas auf seinem rechten Knie spürte. Reflexartig war er just dabei sich, am Knie zu kratzen, als er hinschauend bemerkte, wer gerade auf seinem Knie saß.
»Es war Esmeralda! «
Sein ganzer Körper reagierte mit einem Ausschlag von Gänsehaut. Er spürte, wie die Haare auf seinem Rücken zu Berge standen. Dies war der erste physische Kontakt zwischen Esmeralda und ihm. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ‘unheimlich’. Esmeralda schaute ihm tief in die Augen, er war wie gelähmt, dann machte sie einen Satz und sprang an die Kachelwand. Er machte den Mund auf, aber es kam kein Laut heraus. Wie in einem Trancezustand sah er sich selbst aufstehen, er hatte kein Gefühl in den Beinen. Das Badezimmer verließ er und ging ins Wohnzimmer, die Tür schloss er hinter sich zu.
Nach einem Monat platonischer Liebe und sinnlicher Harmonie war plötzlich ein anderes Gefühl an ihre Stelle getreten. Die Sinnlichkeit ihrer Beziehung war durch den Körperkontakt schlagartig verloren gegangen. Die gegenseitige Achtung, die durch den Abstand vorhanden gewesen war, hatte Esmeralda durch ihren Schritt zunichte gemacht. Er überlegte, ob er Esmeralda anfassen könnte. Allein die Vorstellung dessen erzeugte wieder Gänsehaut am ganzen Körper.
»Wovor habe ich denn Angst? « fragte er sich.
»Wenn sie mich beißen wollte, hätte sie es längst getan. «
So beruhigte er sich ein wenig, vermied jedoch das Badezimmer an jenem Abend.
Am nächsten Morgen, nach einer sehr unruhigen Nacht, stand er auf und ging ins Badezimmer. Esmeralda stand wie gewöhnlich auf dem Klodeckel und schaute ihn an.
»Guten Morgen, Esmeralda! Gehst du, bitte, weg! Ich muss nämlich dringend«, sagte er, aber Esmeralda rührte sich nicht; damit hatte er nicht gerechnet. »Esmeralda, Schätzchen, bitte! «
Aber Esmeralda rührte sich nicht von der Stelle. Er merkte, dass er wütend wurde.
»Esmeralda, ich sag’ dir zum letzten Mal: Wenn du nicht augenblicklich dort weggehst, dann ...«
»Dann was? « dachte er und ging, ohne weiter zu überlegen, hin, packte Esmeralda von oben, hob sie und setzte sie in die Badewanne.
Er fühlte nichts besonders dabei, er hätte genauso gut eine Katze oder einen Hund anfassen können. Ja, so traten sie in die nächste Phase ihrer Beziehung ein. Tage vergingen. Esmeralda hielt sich nicht mehr im Badezimmer auf, sondern machte sich im ganzen Haus breit. Nachts schlief sie auf seinem Bett neben dem Kopfkissen. Sie machte auch hin und wieder kurze Exkursionen in den Garten. Er ließ das Fenster für sie immer einen Spalt offen.
Ihre Beziehung war sehr freundschaftlich geworden. Die Spannung der ersten Phase war völlig verschwunden. Morgens schaute ihm Esmeralda beim Frühstück zu. Nachmittags, wenn er von der Arbeit zurück nach Hause kam, begrüßte sie ihn, indem sie entweder auf seine Schulter oder seinen Kopf sprang und einen kreischenden Laut von sich gab. Sie spielten abends Murmeln oder Memory. Esmeralda war in beiden Spielen unschlagbar. Wie zielsicher sie die Murmeln mit ihren vier Hinterbeinen schoss und wie schnell sie die Karten umdrehte, war unglaublich. Wenn er dann mal dran kam und überlegen musste, setzte sie sich mit dem Hinterleib nach hinten und trommelte ungeduldig mit den rechten zwei Vorderbeinen. Ihre Intelligenz versetzte ihn immer wieder in Staunen.
Es war schwer vorstellbar, dass diese kleine Spinne ... . ‘Klein?’ Er holte ein Lineal und hielt es über Esmeralda. Sie war genau 15 Zentimeter im Durchmesser. Dann nahm er sie und setzte sie auf die Küchenwaage. Sie wog 220 g. Die Daten trug er in sein Tagebuch ein. Eine Woche später maß er 16 cm Durchmesser und 250 g Gewicht.
Eines Tages kam er von der Arbeit zurück und entdeckte mitten im Wohnzimmer einen toten Vogel auf dem Boden. Auf dem hellen Teppich waren Blutflecken. Er war sauer, er rief nach Esmeralda:
»Esma, wo bist du? Komm her! «
Esmeralda kam auf allen Achten laufend ins Zimmer, machte einen Schlenker um die Vogelleiche und sprang auf den davor stehenden Fernsehsessel, drehte sich um und schaute ihn neugierig an.
»Esma, das ist ungeheuerlich! Ich möchte so was nicht wieder sehen! « sagte er mit zorniger Stimme.
Esmeralda nahm den toten Vogel und verschwand damit durch das offene Fenster in den Garten. Esmeralda war eindeutig eine Vogelspinne, und ein ganz schönes Prachtexemplar noch dazu. Inzwischen hatte sie einen Durchmesser von 20 cm und brachte stattliche 420 g auf die Waage. Wenn sie von 4 bis 5 Meter Entfernung auf ihn sprang und auf seiner Brust landete, musste er aufpassen, dass ihm die Luft nicht wegblieb.
Abends, wenn sie ins Bett gingen, kuschelte sich Esmeralda an ihn heran und machte eine Art Milchtritt, wie bei Katzen, aber nicht nur mit zwei, sondern mit allen acht Beinen, bis sie beide einschliefen.
»Esmeralda war kein Mädchen mehr. Sie war eine junge Frau geworden. «
Es vergingen glückliche Tage. Er brachte Esmeralda das Schachspielen bei. Sie lernte schnell und setzte ihn dann immer schachmatt. Am Wochenende nahm er sie im Auto mit. Am liebsten wäre sie selbst gefahren, aber es ging nicht. Sie hatte eingesehen, dass sie nicht fürs Autofahren geschaffen war, beziehungsweise, dass Autos nicht für sie konstruiert worden waren. Eines Tages kaufte er einen kleinen Computer. Esmeralda lernte schnell. Wenn er zur Arbeit ging, setzte sie sich vor den Bildschirm und war damit beschäftigt, bis er nach Hause kam. Ihre Intelligenz war außergewöhnlich. Nach einer kurzen Zeit war sie in der Lage, neue Programme zu entwickeln. Inzwischen kommunizierten sie über den Bildschirm. Eines Tages teilte sie ihm mit, dass die Kapazität des Computers nicht mehr ausreiche. Er kaufte ihr einen neuen Computer.
Als er mit dem neuen Computer nach Hause kam, freute sich Esmeralda so sehr, dass sie ihn kreischend ansprang und überall küsste. Sie hatte ihn in ihrer Freude förmlich zu Boden gerissen. Immerhin wog sie inzwischen 4,2 kg und maß im Durchmesser 40 cm. Er musste sich anschließend unter die Dusche begeben, weil von ihren Küssen alles, aber wirklich alles an ihm klebte. Esmeralda saß nun Tag und Nacht vor dem Monitor. Sie hatte auch eine neue Programmsprache entwickelt, so dass er nicht mehr verstand, was sie machte.
»Aber sie ist glücklich und das ist die Hauptsache«, dachte er.
Eines Tages, als er im Garten nach Vogelleichen suchte, um sie zu begraben, entdeckte er eine Katzenleiche. Die Leiche war höchstens 24 Stunden alt. Die Katze war erstarrt. Esmeralda hatte ihr das ganze Blut ausgesaugt.
Ihn ekelte zwar diese Vorstellung an, zumal er Katzen gern hatte, aber er musste zugestehen, dass Esmeralda inzwischen zu groß war, um ihren Hunger nur mit Vögeln zu stillen. Er hoffte immer wieder, dass Esmeraldas Wachstumsprozess endlich einmal zu Ende gehen würde, aber Esmeralda wuchs weiter. Nun wog sie mehr als 5 Kilo und im Durchmesser war sie um 5 cm auf 45 cm gewachsen.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Er lernte eine Frau kennen und verliebte sich in sie. Er wusste nicht, woran Esmeralda bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Er spürte die Spannung, wenn er nach Hause kam. Er erzählte Esmeralda nichts über seine neue Bekanntschaft. Irgendwas sagte ihm, dass sie sehr eifersüchtig werden könnte. Seiner neuen Freundin konnte er auch nichts über Esmeralda erzählen. Er hatte Angst, dass er sie damit verschrecken würde.
»Frauen mögen im Allgemeinen keine Spinnen und noch dazu eine solche! «
Also konnte er Judith - so hieß sie nämlich - nicht mit nach Hause nehmen. Er musste dauernd irgendwelche Ausreden finden. Er fing an, später als gewöhnlich nach Hause zu gehen, er hielt sich immer länger bei Judith auf. Er telefonierte öfters mit ihr, er zog sich dann mit dem Telefon zurück ins Schlafzimmer, Esmeralda kam hinterher, er ging in die Küche und sie ging mit. Es herrschte eine unerträgliche Spannung im Haus. Nachts schlief er sehr schlecht, er hatte ständig Albträume. Morgens stand er total erschöpft auf. Er hatte auch ständig Hunger. Er aß sehr viel, nahm aber trotzdem ab.
Es war Judith, die ihn auf die beiden Punkte an seinem Hals aufmerksam machte. Sie waren so geschwollen, dass er sie eigentlich auch hätte sehen müssen. Merkwürdigerweise hatte er weder Schmerzen noch irgendein Gefühl an den Stellen. Als Judith scherzhaft nebenbei die Bemerkung machte: »Wie der Biss eines Vampirs«, wurde ihm plötzlich alles klar! Die Albträume, die er hatte! Sie waren Wirklichkeit! Esmeralda saugte ihm in der Nacht sein Blut aus. Er erinnerte sich an die erstarrte Katze im Garten.
»Merkwürdigerweise lässt sie mir noch so viel Blut übrig, dass ich weiterleben kann. «
Deswegen war er morgens so erschöpft. Judith schaute ihn fragend an. Er überlegte, ob er ihr von Esmeralda erzählen sollte. Nein, besser nicht. Das war seine Sache. Er ging wütend nach Hause. In den letzten zwei Tagen, die er bei Judith verbracht hatte, hatte er sich einigermaßen erholt und Kraft gesammelt. Er schloss die Haustür leise auf. Es war ganz still im Haus. Er ging ins Wohnzimmer. Sie lag auf der Couch und ignorierte ihn einfach.
»Esma, ich hab’ dir etwas zu sagen. So kann es nicht weitergehen! «
Esmeralda schaute ihn nun an. Sie lag nicht mehr, sondern hatte Sprungstellung angenommen. Bevor er sich überlegen konnte, was er machen sollte, sprang sie ihn an und biss ihn in den Hals. War es der Schock oder etwas, das sie in ihn hinein gespritzt hatte oder beides - er war sofort von Kopf bis Fuß gelähmt. Esmeralda hob ihn mit ihren fingerdicken Vorderbeinen hoch und schleppte ihn zum Bett. Dann zog sie ihn aus und fing an zu spinnen. Mit einem feinen dünnen Faden umwickelte sie seinen Körper. Nach einer kurzen Zeit sah er aus wie eine halbfertige Mumie. Nur sein Kopf und seinen Hals hatte sie freigelassen. Nun ging sie ins andere Zimmer und kam mit dem Computer zurück. Sie stellte den Monitor so auf, dass er den Bildschirm sehen konnte. Sie ging zur Tastatur und tippte. Auf dem Bildschirm erschien:
»Ich liebe dich. Ich will dich mit niemandem teilen. Ich werde dich auffressen. «
Esmeralda kroch langsam auf das Bett. Sie würde gleich ihre Saugzähne in seinen Hals stechen und ihn aussaugen. Er schrie ... und wurde wach. Von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, saß er aufrecht im Bett. Er schaute auf den Wecker, es war neun Uhr.
»Irgendwie muss ich mich wieder hingelegt haben«, dachte er.
Oder war er überhaupt nicht aufgestanden?
»Doch, ich muss wohl aufgestanden sein, denn ich bin nackt. «
Er stieg langsam und überlegend aus dem Bett. Das Nachthemd und die Boxershorts lagen auf dem Boden. Also war er doch aufgestanden.
»Und dann?«
Hatte er sich tatsächlich wieder ins Bett gelegt? Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er Richtung Badezimmer ging. Ob er dann tatsächlich ins Badezimmer gegangen war? Da war er sich nicht sicher. Irgendwo zwischen Schlafzimmer und Badezimmer war der Faden gerissen. Er ging nun langsam Richtung Badezimmer, schaute auf die eigenen Beine und Füße, die sich vorwärts bewegten, und versuchte, sich daran zu erinnern, ob er jene Schritte vorhin schon ein- mal gemacht hatte. Ja, er hatte sie gemacht, jedoch war er sich nicht sicher, ob er sie im Traum oder in Wirklichkeit gemacht hatte. Die Tür vom Badezimmer war zu.
»Ich hatte sie aufgemacht«, dachte er.
»Im Traum oder in Wirklichkeit?«
Er machte die Tür auf und ging hinein. Mitten auf dem weißen Klodeckel stand eine kleine schwarze Spinne. Dann ging alles ziemlich schnell. Er nahm die Klopapierrolle vom Halter und schlug damit auf die Spinne ein. Die Reste spülte er den Abguss hinunter. Als er zitternd und unter wiederkehrenden Schüben von Gänsehaut in und ums Becken herum, den Überresten der Spinne hinterher pinkelte, schaute er sich mehrmals um, ob nicht vielleicht noch mehr Spinnen da wären. Aber da waren keine. Er zog mehrmals ab. Er konnte sich immer noch nicht beruhigen. Das Duschen half nur wenig, der Traum war zu ‘real’ gewesen.
Kapitel II
der vertraute Alltag
Er musste unbedingt in den Alltag zurück. Sein Alltag, der ihm so vertraut war, hatte einen Knacks bekommen. Er fühlte sich in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr geborgen. Schnell zog er sich an und ging in die Küche. Er schaute sich mehrmals um. ‘Keine Spinnen!’ Die Uhr behielt er im Auge, während der schwarze Tee zog.
»Zwei Minuten und nicht länger. Bloß nicht wieder einschlafen«, murmelte er vor sich hin.
Der Tee beruhigte ihn ein wenig. Die Zeitung war ein weiterer Beweis dafür, dass er sich in Zeit und Raum am richtigen Ort befand. Er fühlte sich jetzt etwas besser, konnte sich aber nicht auf die Zeitung konzentrieren.
»Nun einen Kaffee und die erste Pfeife.«
Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Seine Hände zitterten noch ein wenig, als er die Pfeife anzündete, dann fing er an zu lachen.
»Lachen ist gesund«, dachte er.
»Man sollte mindestens einmal am Tag laut lachen. «
Er sagte laut:
»Mein Gott, du lässt dich durch einen Traum so aus der Fassung bringen! « und konnte allmählich seine Pfeife ruhiger halten.
»Ich habe in letzter Zeit zu viel Fantasy und Sciencefiction gelesen«, dachte er.
»Das ist es! Freud hätte bestimmt gesagt, ... Was hätte er gesagt? «
Er wusste es nicht. War es ein Zufall, dass auf der Klobrille tatsächlich eine schwarze Spinne gestanden hatte? Hatte sie auch schon vor seinem Traum dort gestanden? War er tatsächlich ins Badezimmer gegangen und hatte die Spinne dort gesehen, war er dann wieder ins Bett gegangen und eingeschlafen? Hatte die Spinne den Traum ausgelöst? Er wusste es nicht.
»Du spinnst! « sagte er sich und lachte.
»Es ist schön, dass ich über mich selbst lachen kann. «
Es war ein gutes Zeichen dafür, dass der Alltag zurückkehrte.
»Mein vertrauter Alltag«, dachte er.
Eigentlich tat es ihm Leid um die kleine Spinne. Er hatte nichts gegen Spinnen. Er hatte keine Angst vor Spinnen oder ‘Arachnophobie’, wie es so schön hieß. Die kleinen Tiere waren sogar sehr nützlich. Sie fraßen Fliegen und.... Er merkte, dass dies nicht unbedingt der richtige Weg war, um in den Alltag zurückzukehren. Er müsste an etwas Angenehmeres denken, an Judith beispielsweise. Wie hatte sie ausgesehen? War sie blond oder rothaarig gewesen?
»Dunkelhaarig war sie nicht. Esmeralda war dunkelhaarig«, dachte er und merkte gleichzeitig, dass er sich noch immer auf dem falschen Weg befand.
»Wenn ich so weitermache, bin ich im Nu in einem weiteren Traum. «
Also stand er auf, brachte den leeren Becher in die Küche, ging dann ins Badezimmer, schaute sich noch einmal gründlich um, keine Spinnen waren zu sehen, er rasierte sich schnell und verließ das Haus. Draußen schien die Sonne. Es war ein herrlicher Tag mitten im August.
»Eine kleine Spritztour mit dem Roadster wird mir gut tun«, dachte er.
»Und mich auf andere Gedanken bringen. «
Er ging zur Garage, um den Roadster herauszuholen, steckte den Schlüssel ins Schloss, konnte es aber nicht aufschließen. Der Schlüssel ließ sich im Schloss nicht bewegen. Das Schloss saß fest. Immerhin waren mehrere Monate vergangen, seitdem er das Garagentor das letzte Mal aufgeschlossen hatte.
Aber solche Kleinigkeiten konnten ihn nicht aus der Bahn werfen. Also ging er ins Haus zurück, ab in den Keller, holte die Sprühdose mit dem Kriechöl, sprühte ein paarmal ins Schloss, wartete ein wenig, dann steckte er den Schlüssel ein, und siehe da! Das Schloss ließ sich ohne Widerstand aufschließen. Nun stand der Roadster, ein wenig staubig, aber sonst genauso da, wie er ihn vor Monaten abgestellt hatte. Allein der Anblick ließ Freude in ihm aufkommen und es ging ihm wieder besser. Als er sich jedoch hinters Lenkrad quetschte, den Schlüssel ins Zündschloss steckte und nach rechts drehte, hörte er das ihm vertraute Klicken der Benzinpumpe nicht.
»Tja! « dachte er,
»Wer seine Liebe vernachlässigt, der muss leiden. «
Auch dies konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Er fuhr sein Alltagsauto, das Coupé, vor die Garage, schloss die Überbrückungskabel an und schon saß er wieder im Roadster. Den Schlüssel nach rechts drehend, hörte er das Klicken der Benzinpumpe. Nun zog er den Choke ganz heraus, drückte zwei Mal aufs Gaspedal, drehte den Zündschlüssel ganz nach rechts und der Roadster brummte förmlich aus allen acht Zylindern. Schnell machte er die Überbrückungskabel los, fuhr erst das Coupé weg, dann den Roadster aus der Garage, und stieg dann aus, um das Tor zu schließen. Eine Nachbarin lehnte sich aus dem offenen Fenster in der zweiten Etage hinaus.
»Na, endlich kommen Sie aus Ihrem Häuschen! «
»Tag, Frau Müller!«
Er grüßte sie mit der erhobenen rechten Hand, so wie er sie immer grüßte. Frau Müller war Witwe. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Irgendwo zwischen 40 und 60, wobei wenn sie 40 war, sah sie eher aus wie 50 und wenn sie 60 war, hatte sie sich gut gehalten. Frau Müller war eigentlich blond, aber nachdem sie ihren Mann vor drei Jahren verloren hatte, hatte sie sich ihre Haare schwarz färben lassen. Seitdem trug sie auch nur noch schwarz. Frau Müller wusste über alles und jeden in der Straße Bescheid.
»Ihr entgeht nichts, aber wirklich nichts. Eine Alarmanlage für das Haus und die Garage brauche ich bestimmt nicht, « dachte er.
»Wo geht’s hin? « fragte Frau Müller.
»Ach, ich wollte eine kleine Spritztour machen bei dem schönen Wetter. «
»Nehmen Sie mich mit? «
Er zuckte kurz, seine Stimme klang ein wenig nervös, als er sagte:
»Aber selbstverständlich, Frau Müller. Kommen Sie! «
»War nur ein Scherz, «rief jetzt Frau Müller.
Er überlegte, ob sie sein Zögern gemerkt hatte.
»Ach, was! Es war ein Scherz, wie sie gesagt hat«, dachte er.
»Und mir wäre die Bemerkung: ‘Und ich dachte, dass Sie es ernst meinen’ beinahe über die Lippen gerutscht. «
»Vielleicht ein anders Mal«, fügte Frau Müller hinzu.
»Wann immer Sie wollen, Frau Müller! Also, Tschüss!«
Als er wieder im Auto saß, merkte er, dass er kein Lenkrad vor sich hatte. Bei dem britischen Roadster war das Lenkrad auf der rechten Seite. Obwohl dies nicht das erste und bestimmt nicht das letzte Mal war, dass er sich auf die falsche Seite gesetzt hatte, war es ihm in dem Augenblick schon ein wenig peinlich, zumal Frau Müller noch zuschaute. Also fummelte er unter dem Armaturenbrett herum, als ob er irgendetwas reparieren wollte. Vorsichtig riskierte er einen Blick nach oben, Frau Müller war noch da.
»Alles in Ordnung? « fragte sie.
»Ja, ja. Alles bestens, Frau Müller. Da war eine Schraube locker. «
Er hatte die Situation wieder im Griff. Gelassen stieg er links aus, ging zur anderen Seite und stieg wieder ein, holte die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, setzte sie auf, zog an dem Sicherheitsgurt, zog noch einmal und noch ein drittes Mal, aber der Gurt bewegte sich nicht. Er saß fest! Er schaute kurz nach oben und sah Frau Müller, wie sie immer noch aus dem Fenster schaute. Er müsste erst einmal dort weg, dann könnte er in aller Ruhe nach dem Problem mit dem Gurt sehen. Also löste er die Handbremse und