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Gespaltene Seelen: Roman
Gespaltene Seelen: Roman
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eBook742 Seiten10 Stunden

Gespaltene Seelen: Roman

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Über dieses E-Book

Was ist Heimat? Für Familie Maucher ist das nicht leicht zu beantworten. Von Oberschlesien ins Ruhrgebiet eingewandert, verschlägt es den achtköpfigen Clan in den Zwanzigerjahren nach Nordfrankreich. Doch bleiben die Bande der Mauchers zur Heimat stets erhalten – und ausgerechnet in finsterster Zeit führt es einige von ihnen nach Deutschland zurück.

Der epische Roman folgt den Spuren einer Familie, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in alle Winde zerstreut wird. Er führt die Leser an Schauplätze quer durch Europa: ins Pariser Nachtleben, in die Zechen des Ruhrpotts, ins oberschlesische Oppeln, an Schreckensorte an der Ostfront. Zahllose Episoden erzählen von Liebe und Leidenschaft, von Verrat und Egoismus, von Lebensmut und Opferbereitschaft – und vor allem von starken Charakteren.

Da ist Paul, Familienoberhaupt und unsteter Wanderer, da ist seine Frau Michelina, die ihre Heimat im Herzen nie verlässt, die aufmüpfige Tochter Maria, die sich um Konventionen nicht schert, und der jüngste Sohn Paulchen, der Sympathien mit den Nazis hegt und sich in eine Jüdin verliebt. Im Mittelpunkt aber steht Anna, eine schöne junge Frau, deren übersprudelnder Lebensenergie weder eine schlechte Ehe noch die Schrecken des Krieges etwas anhaben können.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Dez. 2011
ISBN9783844865240
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    Buchvorschau

    Gespaltene Seelen - Anita Ingen

    ERSTES BUCH

    April 1890

    ES WAR ein angenehm warmer Tag. Die Sonne lachte vom Himmel, als hätte sie in den letzten Wochen nichts anderes getan. Glücklich darüber nutzten Michelina, soeben sieben Jahre alt geworden, und ihre um ein Jahr ältere Freundin Judith, die Tochter des Grafen, das freundliche Wetter, um in ihrer Lieblingsecke des Parks Verstecken zu spielen. Zwischen den hohen Jasmin- und Ginstersträuchern duftete es zu dieser Jahreszeit nicht nur wundervoll; man konnte auch ungesehen von einem Busch zum anderen hüpfen …

    Nach dem langen harten Winter hatte es zunächst einen recht verregneten Frühlingsanfang gegeben. Michelina durfte während der schlechten Witterung sonst nur bei matka in der Küche bleiben, da es Frau Gräfin nicht erlaubte, dass sie sich in den anderen Räumen des Schlosses aufhielt. Jedes Mal, wenn sie in einem davon von ihr erwischt wurde, fragte die hochgewachsene Dame barsch: »Was hast du hier zu suchen, du kleines Biest? Ab in die Küche mit dir! Deine Hurenmutter sollte besser auf dich aufpassen!«

    Es gelang Michelina aber trotzdem immer wieder, mit Judith zusammenzutreffen, die sie dann in Zimmer des Schlosses führte, wo die Gräfin die beiden nicht vermutete. Judith hatte ständig irgendwelches Spielzeug aus ihrer riesigen Sammlung dabei und überließ ihrer Freundin – zumindest kurzfristig – großzügig einen Teil davon.

    Die Dienstboten waren nicht halb so streng wie die Gräfin. Sie hatten Mitleid mit Michelina und ihrer Mutter, denn sie kannten Michelinas Vater.

    »Da kommt eine Kutsche!«, rief Judith laut aus ihrem Versteck heraus und wurde vor Erregung ganz rot im Gesicht. »Das ist bestimmt mein Papa!« Schon lief sie los, um ihn am herrschaftlichen Eingangstor des Parks zu begrüßen.

    Michelina folgte ihr zögernd. Auch sie mochte den kleinen, sehr gutaussehenden Mann. Er hatte die gleichen schwarzen Haare wie sie und einen lustigen Schnurrbart. Und er war – im Gegensatz zu seiner Frau – immer freundlich und nett, nahm sie manchmal sogar auf den Arm und fragte dies und das.

    Vor nicht allzu langer Zeit hatte er Michelina eine Puppe geschenkt. Dabei musste sie ihm versprechen, sie niemandem zu zeigen, auch Judith nicht. Sie sollte ganz alleine ihr gehören.

    Die Puppe, der sie den Namen Marie gab, weil matka behauptete, dass die Heilige Mutter Gottes die barmherzigste aller Frauen sei, hütete sie wie ihren Augapfel. Zum täglichen Abendgebet vor der kleinen Madonnenstatue auf ihrem Nachttisch setzte sie sie auf ihren Schoß und faltete mit ihren Händen gleichzeitig die der Puppe. Danach schlief sie friedlich mit Marie im Arm ein. Gleich nach dem Aufstehen versteckte sie sie in einer Kommode neben dem Bett. Nur matka wusste, dass sie eine Puppe besaß.

    Jetzt rannte sie zusammen mit Judith hinter der Kutsche her zum Haupteingang des Schlosses. Als Judiths Vater ausstieg, erschien die Frau Gräfin in der Eingangstür und breitete erfreut die Arme zum Empfang aus. Judith war aber schneller.

    »Papa, Papa!«, rief sie keuchend. »Habt Ihr mir aus Warschau etwas mitgebracht?« Schon schlang sie die Arme um seinen Hals.

    »Na, was denkst du, Prinzessin? Warst du während meiner Abwesenheit denn auch brav genug?«

    »Hm«, Judith schien unsicher und schielte zu ihrer Mutter hinüber, »ich glaube, ja, frag Mutter. Ich habe in dieser Woche zweimal mein Zimmer selbst aufgeräumt. Edelka hat mich dafür gelobt. Und dann durfte ich einige Male zusammen mit Michelina ihrer matka in der Küche helfen. Das hat unglaublich Spaß gemacht!«

    Gräfin Koschnewskis Lächeln erstarb, als sie dies vernahm. Hastig sagte sie: »Nun ist es aber gut, Judiczka. Lass deinen Vater erst einmal ins Haus. Kutscher, bringen Sie die Koffer herein! Und du, kleines Fräulein«, wandte sie sich zornig an Michelina, »mach, dass du wegkommst!«

    Erst jetzt drehte sich der Graf herum und entdeckte Michelina, die schüchtern neben der Kutsche stand. Ihre bernsteinfarbenen Augen, die ihn zuvor noch strahlend beobachtet hatten, blickten nun traurig auf den Boden. Als sie sich zum Gehen wandte, rief er: »Judiczka, Liebes, mein Geschenk für dich ist gut verpackt in einem der vielen Koffer hier! Mir ist tatsächlich entfallen, wo genau. Wie wär’s, wenn du noch ein Weilchen mit Michelina spielst? In ein, zwei Stunden rufen wir dich dann.«

    »Ooch, und ich dachte, ich krieg mein Geschenk sofort.« Die Enttäuschung in Judiths Stimme war nicht zu überhören. »Dann sag mir wenigstens, was es ist, bitte, bitte, Papa!«

    »Nein, ich finde, du solltest ein wenig Geduld haben. Das müssen alle kleinen Mädchen früher oder später lernen.«

    Judith überlegte einen Moment, ob sie böse auf Michelina sein sollte, bemerkte dann aber den traurigen Ausdruck auf dem Gesicht der Freundin und meinte: »Ach komm, Linchen, ich ahne sowieso schon, was er mir mitgebracht hat. Wahrscheinlich ist es wieder etwas Neues für meine Puppenstube. Ich zeig es dir dann, sobald es geht. Lass uns noch etwas schaukeln gehen.«

    *

    Die Hebamme wusch das Kind, ein Mädchen, und wickelte es in weiche Tücher.

    Interessiert verfolgte Maria ihre Handlungen, fand den Säugling bis auf die dichten schwarzen Haare jedoch vollkommen unscheinbar. Er hatte eine kleine Stupsnase und einen kleinen Mund. Alles an ihm war irgendwie viel zu klein. Ob sich das noch ändern würde? Hoffentlich. Maria und ihre Brüder waren nämlich stolz auf ihre prächtigen Nasen und sehr ausgeprägten Gesichtszüge. Mutter sagte immer, dass sie das von ihrem Vater geerbt hätten, der ein gutaussehender Mann war.

    Überhaupt fand Maria, dass es keinen schöneren als ihn gab. Mit seinem »Kaiser-Wilhelm«-Schnauzer und den hellbraun gelockten Haaren wirkte er stolz und gepflegt, was man von den Männern, die sie sonst aus der Nachbarschaft kannte, nicht behaupten konnte. Die waren allesamt sogar recht schmutzig, hatten dreckige Fingernägel, schlechte Zähne und oftmals ungewaschene Haare; von der schäbigen Kleidung gar nicht erst zu reden. Ihr Vater aber, das spürte sie, musste etwas Besonderes sein. So elegant, wie er sich anzog … Und der Klügste von allen war er auch.

    Wenn Vater zu Hause war, sprach man natürlich nur Deutsch miteinander, außer mit der Mutter. Maria und ihre Brüder liebten die polnische Sprache nicht besonders. Vielleicht lag es daran, dass ihre Mutter stets so streng mit ihnen war. Jeden Abend vor dem Schlafengehen mussten sie endlose Gebete aufsagen, und vor dem Mittagessen auch, auf Polnisch, versteht sich. Mutter war sehr fromm. Ja, sicher war das der Grund für die Abneigung der Kinder gegen ihre Sprache.

    Die Geschwister kamen einfach nicht an sie heran. Immer nur beten und darauf achten, alles richtig zu machen, das war so langweilig.

    Sie achteten ihre Mutter sehr, spürten auch, dass sie sie liebte, jedes Einzelne von ihnen. Aber es war einfach nicht so wie bei Vati. Der verhielt sich längst nicht so ernst, hatte immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Er konnte die schönsten Geschichten erzählen, zum Beispiel aus seiner Jugendzeit und auch andere. Es waren abenteuerliche Geschichten, von Räubern und Gendarmen, von Reichen und Armen, von Schönen und Hässlichen. Von Ländern, von denen man nur träumen konnte. Sogar die Nachbarskinder standen Schlange, um auch etwas von seinen wunderbaren Erzählungen mitzubekommen. Manchmal hatte Maria Albträume, weil die Räuber oder Soldaten sie noch des Nachts verfolgten.

    Kopfschüttelnd schmunzelte sie darüber, als es erneut an der Tür klopfte.

    Nachdem Frau Kolber Michelina mit einem sanften Streicheln der Wange in die Gegenwart zurückgeholt hatte, legte sie das Kind in ihre Arme und flötete: »Es ist ein Mädchen, Gott sei Dank. Da haben Sie später wieder eine Hilfe mehr im Haus, Frau Maucher. Wissen Sie denn schon, wie Sie die Kleine nennen wollen?«

    Die Wöchnerin lächelte das erschöpfte und zugleich stolze Lächeln einer inzwischen vierfachen Mutter und antwortete leise: »Anna, das ist meine kleine Anna!«

    Frau Szendrzik, die Nachbarin, hatte vom Garten aus die Ankunft der Hebamme verfolgt. Sie hatte sich schon gedacht, dass Michelina heute niederkommen würde.

    Normalerweise traf sie die kleine fleißige Frau, die wie sie aus Oberschlesien stammte und mittlerweile eine richtige Freundin geworden war, fast jeden Tag im Garten bei der Wäsche, im Gemüsebeet oder mit anderen Hausarbeiten beschäftigt. Selbst im hochschwangeren Zustand hatte sie sich keine Pause gegönnt. Wie auch, mit drei Kindern? Selbst wenn die Tochter des Hauses ihrer Mutter schon etwas zur Hand gehen konnte, so blieben doch die beiden Söhne, die sie zudem noch ziemlich verhätschelte. Und nebenbei verdiente sie sich ein kleines Zubrot mit Näh- und Häkelarbeiten.

    Greta Szendrzik hoffte inständig, dass Michelina zukünftig wieder öfter mal nein sagen würde, wenn Paul sie bedrängte. Endlich war sie einige Jahre, nach einer Fehl- und einer Totgeburt, nicht mehr in anderen Umständen gewesen, und nun das. Das musste doch nicht sein, nach einer derartig langen Zeit. Wenigstens sollte sie, so wie sie selbst es auch bereits seit Jahren tat, ihre Fruchtbarkeitstage im Auge behalten. Sie musste bei Gelegenheit noch einmal mit ihrer Freundin darüber reden.

    Natürlich war es zwischen Paul und Michelina anders als in ihrer eigenen Ehe. Ihr Mann Leo war von der schweren Arbeit unter Tage immer so müde, dass er nach dem Essen vollkommen erschöpft ins Bett fiel und oftmals gar nicht mehr daran dachte, sie zu belästigen. Ansonsten achtete sie eben darauf, dass, wenn er unter ihre Decke wollte, es immer kurz nach der Monatsblutung geschah. Andernfalls wies sie ihn ab. Das war bis jetzt gut gegangen.

    Drei Kinder waren vollkommen ausreichend, fand Frau Szendrzik. Allerdings, drei sollten es schon sein. Man wollte sich im Alter schließlich gut versorgt wissen. Und man wusste ja nie, was passieren konnte im Leben. Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da kam Michelinas Tochter vom Nachbarhaus herübergerannt.

    Maria bat Frau Szendrzik in die gute Stube und geleitete sie ins Schlafzimmer.

    Hier hatten sich auch Stefan und Joseph (genannt Jupp), die beiden Söhne, eingefunden, die den Familienzuwachs neugierig und staunend begutachteten.

    Michelina strahlte ihre Freundin an und sagte auf Polnisch: »Hast du jemals einen schöneren Säugling gesehen, Greta?«

    Greta beugte sich über die Kleine und meinte: »Oh ja, du hast recht, meine Liebe, es ist ein sehr hübsches Kind. Und viel zarter als die anderen drei. Meinen Glückwunsch, es scheint nach dir zu kommen. Hoffentlich wird es auch so zäh sein wie du.«

    Maria, die das meiste verstanden hatte, gab ihren Brüdern ein Zeichen und ging mit ihnen aus dem Zimmer.

    »Das war’s dann ja wohl, jetzt wird Mutter mich noch weniger beachten als vorher«, maulte sie missmutig. In Gedanken freute sie sich aber, dass von nun an auch ihre Brüder nicht mehr so im Mittelpunkt stehen würden wie bisher. Die bekamen fast jeden Wunsch von den Augen abgelesen und durften sich viel mehr erlauben als sie.

    Nun denn, Maria würde sich trotzdem nichts gefallen lassen, das wusste sie genau.

    »Hat man Paul benachrichtigt, dass es so weit ist?«, wollte Greta wissen.

    »Frau Kolber wird auf dem Rückweg beim Telegraphenamt vorbeigehen, damit man ihn von dort aus benachrichtigt. Er war in den letzten Tagen so angespannt; es muss etwas vorgehen bei Krupp. Obwohl die Maschinen auf vollen Touren laufen, liegt Unheilvolles in der Luft, das sich niemand erklären kann, erzählte er neulich. Sonst redet er nicht viel über die Arbeit, aber …«

    »Hoffentlich hat das nichts mit den Gerüchten in der Stadt zu tun. Man spricht von Problemen in Österreich und Unruhen auf dem Balkan. Wenn ich ehrlich sein soll, haben die Männer kein anderes Thema mehr. Auch dass die Deutschen irgendwelchen Ärger mit England hätten, wird berichtet. Und dass es deshalb vielleicht Krieg geben könnte …«

    Unwillkürlich erstarrten Michelinas Gesichtszüge. Greta, der das nicht verborgen blieb, beschwichtigte schnell: »Na ja, so schlimm wird es schon nicht sein. Hm, und im Übrigen haben wir Verwandtschaft in Frankreich, wie dir vielleicht bekannt ist. Mein Bruder arbeitet dort in Avion, im Land Pas-de-Calais, auf der Zeche. Falls es hier zu unsicher wird, wollen wir dorthin ziehen.«

    »Glaubst du wirklich, dass es so weit kommen könnte?« Michelina beugte sich vor und versuchte, sich aufs Bett zu setzen. Sie vergaß ihre Vorsätze in Bezug auf die deutsche Sprache und wandte sich an Frau Kolber, die mittlerweile alles gereinigt und ihre Tasche gepackt hatte: »Bitte beeilen Sie, Frau Kolber. Ich wollen, dass Mann so schnell wie möglich nach Hause kommen.«

    »Oh, es geht ja doch … äh, selbstverständlich, Frau Maucher… ich mache mich sofort auf den Weg. Sehen Sie zu, dass Maria meine Anweisungen befolgt, und schonen Sie sich noch eine Weile. Heute auf keinen Fall mehr aufstehen und schon gar keine Hausarbeiten verrichten!« Frau Kolber drückte die Wöchnerin sanft in die Kissen zurück.

    »Ja, schon gut. Und vielen Dank für Hilfe. Maria soll Korb mit Obst geben, steht wegen Hitze in Keller.«

    Frau Kolber schüttelte missbilligend den Kopf und ging aus dem Zimmer.

    Erneut wandte sich Greta an Michelina: »Wie wirst du die Kleine nennen?«

    »Anna.«

    »Schöner Name, passt gut zu ihr. Was hältst du davon, wenn wir sie später mal mit unserem Edmund verheiraten?«

    Entsetzt wich Michelina vor Greta zurück: »Wie kannst du jetzt schon davon reden? Wo das Kind gerade mal eine Stunde auf der Welt ist? Und zudem gibt es immer noch Maria, die ist vorher dran.«

    »Ja, aber die ist nicht so hübsch.«

    2. Juni 1914

    SEIT TAGEN schwebte eine merkwürdige Stimmung über der Stadt.

    Maria, mit ihrer Mutter und Anna im Kinderwagen zum Einkaufen unterwegs, beobachtete, wie die Leute an allen Ecken und vor den Hauseingängen erregt miteinander redeten.

    »Können Sie mir sagen, warum alle so aufgeregt sind, Mutti?«

    Neuerdings weigerte sie sich, das Wort »Mutter« auszusprechen. Alle ihre Freundinnen redeten die Mütter mit dem viel netteren »Mutti« an. Sie hatte das bei einigen daheim gehört. Und ihre hat merkwürdigerweise nicht dagegen protestiert, obwohl Maria und ihre Geschwister von klein auf dazu angehalten wurden, die Eltern mit Mutter oder Vater anzureden. Weil Vati aber lang nicht so streng war, spielte das bei ihm keine Rolle.

    »Nein, mein Kind, das kann ich dir nicht sagen. Man berichtet jedoch von Krieg in Südeuropa.«

    »Wo ist das, Südeuropa? Und was ist das eigentlich, Krieg? Ich hörte Vati letztens mit Onkel Leo, dem Mann von Tante Greta, darüber reden. Sie haben mich aus dem Zimmer geschickt, als ich neugierig wurde.«

    Als Michelina nicht gleich antwortete, bohrte Maria weiter: »Und Fräulein Hilberts, unsere Lehrerin, wollte in der Schule nicht darüber sprechen.«

    »Sie will euch Kinder sicher nicht beunruhigen, was auch gut ist. Also denn: Südeuropa, genauer Serbien, ist weit weg von hier. Man ist viele Tage unterwegs, um dort hinzukommen. Und Krieg ist, wenn sich zwei Länder oder Völker mit Waffen bekämpfen, weil sie unterschiedlicher Meinung sind. Oder weil ein Land dem anderen seine Meinung aufzwingen will. Meistens geht es um Ländereien und irgendwelche Geschäfte, ich kenne mich damit auch nicht so aus. Jetzt mach dir aber keine Gedanken, es wird schon nicht so schlimm werden.«

    »Aber Onkel Leo sagte zu Vati, man sollte den Großmäulern von Russen und Engländern endlich mal das Maul stopfen, und der Kaiser von Osterreich lässt sich zu viel gefallen.«

    »Ja, was weißt du denn schon … hm, was die Erwachsenen so reden! Halte dich da raus. Ich will jetzt nichts mehr davon hören, verstehst du? Wir haben andere Sorgen.«

    Insgeheim ärgerte sich Michelina, dass Maria sie aufregte. Das Mädchen war furchtbar neugierig und wollte immer alles ganz genau wissen. Was könnte sie ihm noch erklären?

    Dass Deutschland eng mit Österreich verbunden war, wie Paul es immer erzählte. Er nannte das … wie hieß das gleich … Bündnissystem? Dass die Deutschen wahrhaftig Probleme nicht nur mit den Engländern hatten? Meistens ging es um den Handel mit Dingen des täglichen Bedarfs wie Lebensmitteln, Stoffen, Maschinen und was sonst noch alles. Da gab es so viel, worüber die Männer redeten. Michelina konnte und wollte nicht weiter darüber nachdenken. Aber die allgemeine Unruhe im Land war tatsächlich nicht mehr zu überhören.

    Im Übrigen bemerkte sie seit Wochen schon die vielen Soldaten, die die Stadt bevölkerten.

    Und Paul bangte mittlerweile auch um seine Arbeitsstelle in Essen, wo er als Dolmetscher beschäftigt war; es gab immerhin viele polnische Arbeiter dort. Obwohl die meisten von ihnen das Land jetzt wieder verließen.

    Auf dem Markt herrschte wie immer reges Treiben; es wimmelte von schwitzenden und schmutzigen Menschen. Hin und wieder rümpfte Michelina die Nase, wenn sie an jemandem vorbeimusste, der unangenehm roch. Anna, die heute ihren ersten Geburtstag hatte, war wach geworden und beobachte die bunte Geschäftigkeit um sie herum mit wachen, staunenden Augen. Sie war ein freundliches Kind, meistens guter Laune und weinte nur ganz selten. Kein Wunder, dass sie sich zu Papas Liebling gemausert hatte. Aber nicht nur Paul, auch die Geschwister Joseph und Stefan und sogar Maria waren in Anna vernarrt.

    Es war schon wieder viel zu warm. Michelina wollte noch ein paar Suppenknochen kaufen und danach so schnell wie möglich zurück nach Hause.

    »Mein Gott«, keuchte sie, als sie zum Fleischerstand kamen, »ein bisschen Regen zwischendurch könnte nicht schaden!«

    Neben dem allgegenwärtigen Schweißgeruch vernahm sie nun noch den des rohen Fleisches in den Auslagen. Dies und die Fliegen drum herum verursachten ihr plötzlich eine solche Übelkeit, dass sie sich neben dem Verkaufstisch des Händlers auf die Bordsteinkante setzen musste. Sie bemerkte noch, wie Maria aufgeregt um sie herumsprang und auf den Verkäufer einredete. Dann vernahm sie aus der Ferne seine Stimme: »Geht es Ihnen nicht gut, junge Frau?«

    In Michelinas Ohnmacht drängten sich erneut die Erlebnisse aus ihrer Kindheit:

    *

    Gräfin Koschnewski war es endgültig leid. Auf der Suche nach ihrem Mann, den sie in seinem Zimmer nicht antraf, überraschte sie die Mägde Sonja und Edelka, wie sie kichernd aus der Küche liefen.

    Es war bitterkalt um diese Jahreszeit, und die Gänge waren schlecht geheizt. Immerhin nahte das Weihnachtsfest, und sie hatte eigentlich vor, mit ihrem Gatten die Gästeliste zu diesem Anlass bei einer schönen heißen Tasse Tee aus dem Samowar durchzugehen.

    Zudem wollte sie die Geschenke mit ihm besprechen, die alle Dienstboten zum Jahresabschluss bekamen.

    Gräfin Koschnewski war nicht kleinlich in diesen Dingen, hatte sie doch mit ihren ererbten Ländereien in der Gegend von Kattowitz nicht unwesentlich zum Reichtum der Familie beigetragen.

    Edelka, die sich beim Anblick der Gräfin verschluckte, bekam einen Hustenanfall, und es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigte.

    »Habt ihr eigentlich nichts anderes zu tun, als kichernd durch die Gegend zu laufen, ihr dummen Gänse? Seht nur zu, dass ihr an die Arbeit geht. Soweit mir bekannt ist, stehen immer noch einige Körbe Äpfel zum Sortieren im Keller herum.«

    »Jawohl, Frau Gräfin, wir erledigen das sofort.«

    Die jungen Frauen machten einen Knicks und beeilten sich wegzukommen, während die Hausherrin schon weitergehen wollte, als sie aus der Küche männliches Gelächter vernahm.

    Seltsam, welcher Kerl mochte da bei Michelinas Mutter sein? Der Kutscher vielleicht? Den hatte sie doch mit der Reparatur eines Wagenrads beauftragt. Oder sollte er damit schon fertig sein?

    Nein, Frau Gräfin kannte ihre Dienstboten alle sehr gut. So schnell waren die nicht.

    Und obwohl sie sich normalerweise weigerte, diesen Raum zu betreten, weil sie das Luder von Köchin wegen der ganzen Gerüchte um ihren Mann nicht ausstehen konnte und eigentlich schon längst vor die Tür hatte setzen wollen, wurde sie wie magisch davon angezogen …

    Graf Koschnewski hielt Michelina auf dem Arm und schaute ihrer Mutter über die Schulter beim Kochen zu. Es duftete nach deftiger Eintopfsuppe. Sie wirkten wie ein jung verliebtes Paar, das sich schon gemeinsam mit dem Kind aufs Abendessen freute. In ihrer Vertrautheit bemerkten sie noch nicht einmal, dass jemand zur Tür hereingekommen war.

    Die Schlossherrin hörte gerade noch, wie ihr Mann sagte: »… und überhaupt wird sich Michelina auf dieser Schule sicher wohl fühlen, Marianna. Sowohl du als auch ich können sie regelmäßig dort besuchen, es ist ja nicht sehr weit von hier.«

    »Um welche Schule handelt es sich denn, mein Lieber?«, fauchte die Gräfin ihren Gatten von hinten an. »Soll ich das etwa so verstehen, dass du der Schlampe und ihrem Balg eine teure Schule bezahlen willst?«

    Hoch erschrocken und vollkommen blass im Gesicht drehte sich der Graf um, blieb aber äußerlich ruhig. Er setzte Michelina ab, die sich sogleich ängstlich hinter ihrer schönen Mutter verkroch.

    Noch ehe Koschnewski etwas entgegnen konnte, schrie die Gräfin weiter: »Jahrelang habe ich die Schande ertragen, warum, weiß ich selbst nicht! Vielleicht hoffte ich auf Euer Einsehen, mein Gemahl! Doch ein Einsehen, wie sehr Ihr mich mit dem beinahe schon albernen Getue um diese Person und ihren Bastard kränkt, werdet Ihr wohl niemals haben. Nicht nur, dass Ihr die Küchenmagd geschwängert habt, nein, Ihr müsst Euch auch zunehmend um den Balg kümmern. Am Ende nehmt Ihr ihn vielleicht noch in unsere Familie auf?«

    »Es reicht, Marga, lass es gut sein. Ich möchte mich nicht mit dir streiten. Wir werden im Salon weiterreden!« Er nahm seine Frau mit kräftigem Griff beim Arm und zog sie mit sich zur Tür. Hier drehte er sich noch einmal zu Michelina und ihrer Mutter um: »Habt keine Angst, euch wird nichts geschehen. Ich lasse mir etwas einfallen.«

    *

    Michelina schlug die Augen wieder auf und vernahm den Geruch von Fenchel, den ihr eine der Marktfrauen unter die Nase hielt. Man hatte auf die Schnelle nichts Besseres gefunden, um sie wieder wach zu bekommen.

    Mit der weinenden Anna auf dem Arm stand Maria daneben und versuchte vergebens, das Kleinkind zu beruhigen.

    »Gott sei Dank, gute Frau, was ist denn passiert?«

    Eine dicke Marktfrau zog Michelina mit starken Armen langsam auf die Beine. Sie war noch immer etwas benommen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ihr langer Rock fühlte sich hinten feucht an. Erschrocken prüfte sie die Feuchtigkeit und bemerkte sogleich, dass sie sich in eine Pfütze gesetzt hatte, als ihr übel wurde.

    »Gut, dass es nur eine Pfütze war«, dachte sie unwillkürlich und bedankte sich ohne weitere Erklärungen für die Hilfe der Umstehenden. Schnell kaufte sie die Suppenknochen und machte sich mit den Kindern auf den Heimweg.

    Kurz vor ihrer Wohnung in der Bismarckstraße zupfte Maria sie verstohlen am Rock und wollte wissen: »Kriegen Sie jetzt wieder ein Kind, Mutti?«

    »Wie um alles in der Welt kommst du denn da drauf?«

    Michelina, die den Gedanken sofort verdrängt hatte, sobald sie die Augen wieder aufschlug, war entsetzt über eine derartige Frage ihrer zehnjährigen Tochter. Sie würde zukünftig noch besser auf Maria aufpassen müssen. Woher sie das wohl hatte? In ihrem Alter glaubten die meisten doch noch an den Klapperstorch; sie selbst hatte es ja auch getan.

    Nun, Maria war bei der Geburt von Anna dabei gewesen. Es ließ sich nicht vermeiden, Michelina brauchte einfach ihre Hilfe. Zuvor hatte sie zumindest ein kurzes aufklärendes Gespräch mit ihr geführt; zum Beispiel erwähnt, dass die Kinder aus dem Bauch der Mutter kämen, bevor sie in die Wiege gelegt werden könnten. Und sie war mit ihr zu einem Bauernhof gegangen, damit Maria anhand des Viehzeugs selbst erleben konnte, wie eine Geburt vonstatten geht. Aber wie Kinder entstehen und mit welchen Unannehmlichkeiten werdende Mütter zu rechnen hatten, konnte das Mädchen eigentlich nicht wissen. Durfte es nicht wissen, ihrer Meinung nach. Dazu war es viel zu jung.

    Michelina entschloss sich, ruhig zu bleiben, und meinte dann leise: »Es liegt nur an der Hitze, Kind. Ganz sicher ist es nur die Hitze.«

    Am 28. Juni wurden der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajevo ermordet.

    Einen Monat später folgte die Kriegserklärung der Österreicher an Serbien.

    Deutschland ergriff die Partei Österreichs und erklärte am 1. August Russland den Krieg, drei Tage später auch Frankreich.

    Am 4. August marschierten die Deutschen in Belgien ein. Dies hatte zur Folge, dass nun auch England an der Seite Russlands und Frankreichs gegen die Deutschen antrat.

    Der Erste Weltkrieg

    WÄHREND DES Krieges blieb die Familie nahezu unbehelligt.

    Paul Maucher arbeitete wieder auf der Zeche in Herne, auf der er schon vor Jahren einmal, als sie nach ihrem Weggang aus Oberschlesien hierherkamen, beschäftigt war. So blieb ihm die umständliche Fahrt nach Essen und zurück erspart. Maria fand zwar, dass ihr Vater sich nun kaum noch von den übrigen, schmutzig aussehenden Bergleuten unterschied, ihre Eltern aber betonten, besser schmutzig als tot.

    Zu Beginn des Krieges wurden nur wenige Kumpel rekrutiert, es sei denn, es meldete sich jemand freiwillig, was allerdings viele taten. Besonders die Jüngeren. Für sie war das ein willkommener Anlass, weg vom Pütt, hinaus in die weite Welt zu gelangen. Später dann, als sich die Kämpfe ausbreiteten, mussten viele von ihnen unfreiwillig an die Front, so dass ab 1915 die Kohle bereits knapp wurde.

    Mit den Monaten und Jahren kehrten einige Kämpfer zurück, verwundet und schwermütig. Sie redeten kaum über ihre Erlebnisse, die von den Politikern stets verharmlost wurden.

    Manch eine der Nachbarinnen der Mauchers erhielt die Nachricht, dass der Mann oder Sohn nie wieder zurückkommen würde. Das war dann für alle schlimm. Auch nicht mit noch so schönen Worten konnten die Mütter und Witwen getröstet werden. Bei den meisten von ihnen kam oft die wirtschaftliche Not hinzu. Lebensmittel wurden knapper, und man musste fast zaubern können, um die Familie satt zu kriegen.

    Im Frühjahr 1916 nahm sogar Michelina, zusammen mit einigen Nachbarinnen, an einer der vielen Hungerdemonstrationen teil.

    Viele Nahrungsmittel gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Die Preise dafür konnte niemand mehr bezahlen. Ansonsten musste man für die rationierten Grundnahrungsmittel Schlange stehen.

    Es wurde davon geredet, dass die Engländer die Deutschen aushungern wollten, indem sie Seeblockaden errichteten.

    Als im Februar 1915 der kleine Paul geboren wurde, verbesserte das die Lage der Mauchers auch nicht gerade. Drei Jahre später, kurz vor Ende des Weltkrieges, erblickte dann noch Martha, das letzte von sechs Kindern, das Licht der Welt.

    Mit dem Waffenstillstand im Jahr 1918 trat dennoch keine Zeit der Ruhe ein. Kaum einer der Kriegsheimkehrer fand Arbeit, und nach einem Aufstand von Matrosen in Kiel breitete sich im ganzen Land eine Revolution gegen das überkommene System aus.

    Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden ermordet, unmittelbar nachdem unter ihrer Mitwirkung die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet worden war. Streiks und Demonstrationen waren an der Tagesordnung. Sie wurden jedoch meistens mit Hilfe der alten Armee blutig niedergeschlagen.

    An ein Kindheitserlebnis aus dieser Zeit musste Anna ihr Leben lang zurückdenken:

    Es war wenige Tage nach ihrem sechsten Geburtstag. Vom elterlichen Schlafzimmerfenster im ersten Stock ihrer Wohnung beobachtete sie neugierig eine Demonstration. Plötzlich hallten Schüsse durch die Luft, und Anna bemerkte, wie zwei Männer auf der Straße getroffen aufs Pflaster fielen.

    Einer der Verletzten entdeckte sie am Fenster und rief ihr zu: »Geh weg vom Fenster, Mädchen, geh weg da! Es ist zu gefährlich hier!«

    Kurze Zeit später – Anna war aufgeregt zu Michelina in die Waschküche gelaufen, um über den Vorfall zu berichten – zerbarsten im Schlafzimmer oben die Fensterscheiben. Mehrere Kugeln hatten sich gegenüber in den Kleiderschrank gebohrt. Danach durfte Anna nie wieder am Fenster stehen, um dem Treiben auf der Straße zuzusehen.

    Zu allem Übel wütete während der Wintermonate bereits zum zweiten Mal die gefährliche Influenza, im Volksmund die Spanische Grippe genannt. Allein im besiegten Deutschland fielen ihr dabei eine Viertelmillion Menschen zum Opfer. Die Mauchers im Ruhrgebiet überlebten auch dies.

    Ende Juni 1919 hofften alle, dass mit den Friedensabschlüssen von Versailles das Schlimmste überstanden wäre.

    September 1920

    »DAS KANN doch nicht wahr sein. Ich glaub es einfach nicht. Nur weil Mutter Angst vorm Wasser hat, sollen wir nicht nach Amerika?« Stefan, ein mittlerweile stattlicher junger Mann von neunzehn Jahren, schüttelte fassungslos den Kopf. Die ehemals blonden Haare waren mit den Jahren deutlich dunkler geworden.

    »Ich kann dich nicht verstehen, Vater. Wenn Onkel Hermann uns die Fahrkarten schickt, was hält uns dann noch hier? Ihm ist doch bei der Überfahrt auch nichts passiert! Und jetzt geht es ihm so gut dort drüben, dass er unsere Fahrtkosten bezahlen würde! Ich habe jedenfalls keine Lust mehr, weiter arbeitslos zu sein. Da könnte man direkt zum Kommunisten werden, wenn deren Weltanschauung nicht auf einen Diktator hinausliefe.« Den letzten Satz betonte Stefan nicht ohne Stolz, hatte er ihn erst kürzlich einen belesenen Mann in seiner Stammkneipe gebrauchen hören.

    Entsprechend beeindruckt starrte ihn die Familie daraufhin eine Weile schweigend an.

    Paul Maucher war verzweifelt. Auch ihn reizte der ferne Kontinent: Amerika. Ohne Michelina wäre er Hermann seinerzeit dorthin gefolgt. Und nun zum wiederholten Mal das Lockangebot des Bruders mit den Fahrkarten. Das war die Chance ihres Lebens, der ganzen Familie!

    Was man so hörte vom Staat Michigan, klang richtig gut. Hermann war drei Jahre vor dem Krieg ausgewandert. Nicht regelmäßig, aber mindestens zweimal jährlich ließ er von sich hören. Unter anderem berichtete er, was er alles erreicht hatte: Seine Familie besaß einen kleinen Gemischtwarenladen und ein hübsches Haus auf einem herrlichen Grundstück, auf dem sich alle wohl fühlten. Es war zwar nur ein Holzhaus, jedoch immerhin sein Eigentum. Der Bruder schrieb auch, dass jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer hatte, und Kinder gab es reichlich. Ja, er war schon früher, als gelernter Kaufmann, der Klügste in der Familie gewesen, das musste Paul neidlos zugeben.

    Vor der Auswanderung hatte Hermanns Frau Ursula ebenfalls Angst vor dem großen Teich gehabt und vor der Fremde ganz besonders. Man hörte ja auch viel Abenteuerliches aus der Neuen Welt. Aber jetzt konnte sich niemand mehr von ihnen vorstellen, woanders zu leben. Sie wollten auf jeden Fall für immer in Amerika bleiben.

    In regelmäßigen Abständen bemühte Paul sich zwar, Michelina umzustimmen. Aber gegen ihre Angst vor der Überfahrt mit einem Dampfer war er einfach machtlos. Allerdings war auch ihr mittlerweile klar, dass die Lage im Ruhrgebiet zu eskalieren drohte, da hatte Stefan schon ganz recht.

    Nicht nur, dass es enorm viele Arbeitslose gab. Vor allem die kommunistischen Umtriebe gingen all denen auf die Nerven, die Arbeit hatten. Die Roten verdarben die Stimmung in den Werken, ganz besonders dann, wenn man nicht an ihren Versammlungen teilnehmen wollte. Das betrachteten sie schon als verräterisch; nicht eben selten wurden Arbeiter von Parteimitgliedern angegriffen.

    Allerdings: Im Gegensatz zu den Mauchers hatten viele Menschen wirklich keine Arbeit. Ganz abgesehen von Stefan, dem kürzlich wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration auf der Zeche gekündigt worden war. Da musste man sich nicht wundern, wenn diese Arbeitslosen zunehmend von einer neuen, wie Stefan es so klug ausdrückte, Gesellschaftsordnung träumten.

    Im Übrigen hatte es sich auch bis zu den Kumpeln herumgesprochen, dass die Sieger des Krieges etliche Reparationsforderungen an Deutschland gestellt hatten. Wie und was alles bezahlt werden sollte, davon ahnte kaum jemand etwas. Fest stand nur, dass es nichts gab. Die Fabriken und kleineren Werke – die zum größten Teil noch immer bis auf die Grundmauern zerstört waren – und die Landwirtschaft würden Jahre brauchen, um sich davon zu erholen.

    Stefan tat dem Vater wirklich leid. Der Junge hätte erstens ohnehin einen anderen Beruf verdient, und nun traf ihn auch noch das Los der Arbeitslosigkeit. Er war als Kind von rascher Auffassungsgabe gewesen, richtig klug, wie Paul meinte. Mit einer Schlosser- oder ähnlichen Lehre hätte er beruhigter in die Zukunft blicken können. Wenn es doch nur Lehrstellen gäbe! So blieb dem Jungen nichts als zu hoffen, bald wieder auf einem Pütt als Hauer eingestellt zu werden, da die Familie einfach jeden Pfennig benötigte.

    Dennoch war Paul innerlich fest entschlossen, Hermann in seinem nächsten Brief um die Fahrkarten zu bitten. Vielleicht konnte er Michelina bis dahin noch umstimmen. Und danach sollte es ihnen egal sein, was mit Deutschland passierte. Nicht dass er sein Land nicht liebte, ganz im Gegenteil. Aber leben konnte man immerhin überall auf der Welt, besonders heimisch hingegen hatte er sich bislang nirgendwo gefühlt.

    Jupp, zwei Jahre jünger als sein Bruder und ebenfalls seit dem Schulabgang auf der Zeche tätig, wandte sich seiner Mutter zu, die im Erker des kleinen Zimmers am Fenster saß und häkelte: »Ich finde, Stefan hat recht, Mutter. Wenn wir hier bleiben, kommen wir auf keinen grünen Zweig. Alfred hat mir gestern auf dem Nachhauseweg von der Arbeit erzählt, die ganze Familie will jetzt nach Nordfrankreich auswandern.« Alfred war der älteste Sohn der Szendrziks. »Sie haben Familienangehörige in einem kleinen Ort in der Nähe von Lens. Die arbeiten da zwar auch alle auf der Zeche, aber man verdient viel besser als bei uns. Alfred wird mit seiner Frau schon in den nächsten Wochen dorthin ziehen. Sie erwartet ein Kind, und er möchte, dass sie bereits eine neue Wohnung gefunden haben, wenn es zur Welt kommt.«

    Michelina, die bis dahin still zugehört hatte, meinte plötzlich: »Wenn Greta nach Frankreich geht, würde ich mitgehen.«

    Fassungslos starrten die Männer sie an. Michelina sprach ja nie sehr viel, aber das hatte gesessen.

    »Das gibt es nicht, Mutter!« Stefan fand als Erster seine Sprache wieder. »Das verstehe ich nicht. Nach Amerika wollen Sie nicht, aber Frankreich würde Ihnen gefallen? In Amerika hätten wir gleich Familienanschluss, in Frankreich wüssten wir überhaupt nicht, was auf uns zukommt.«

    »Nun mal sachte, Stefan«, fuhr Paul dazwischen. Er stand von seinem gemütlichen Ohrensessel auf, setzte seinen Jüngsten, Paulchen, der die ganze Zeit auf seinem Schoß gesessen und an seinem Bart herumgezwirbelt hatte, sanft zu Anna, die neben dem Laufstall mit Martha spielte. »Der Einfall eurer Mutter ist vielleicht gar nicht so übel.« Paul dachte kurz nach.

    »Frankreich ist eines der Länder, die uns besiegt haben. Ich denke, dort sieht es vielleicht nicht so schlimm aus wie hier … Gut, die Franzosen werden uns sicher nicht besonders lieben, aber das tun die Amerikaner auch nicht. Schließlich haben auch viele ihrer Soldaten im Krieg ihr Leben gelassen. Man müsste zunächst nur wissen, ob es überhaupt möglich ist, dorthin auszuwandern, und dann könnten wir uns den Franzosen gegenüber immer noch als Polen ausgeben, falls es Schwierigkeiten mit unserer Herkunft gibt.«

    »Wie stellst du dir das denn vor, Vater?« Maria war ins Zimmer getreten und hatte seine letzten Worte mitbekommen. Auf ihrer ansonsten glatten Stirn, die durch das streng zurückgeknotete, schwarze Haar besonders zur Geltung kam, bildete sich eine tiefe Zornesfalte. Sie stellte ihren Einkaufskorb, den sie unentwegt mit sich führte, neben sich auf den Holzlattenboden und setzte sich dann auf einen Hocker, um die fest geschnürten, knöchelhohen Stiefel auszuziehen. Dabei hörte sie nicht auf, den Vater mit ihren schwarzbraunen Augen missbilligend anzustarren.

    »Denkst du etwa, ich würde jetzt anfangen, nur noch Polnisch zu reden? Das fällt mir ja im Traum nicht ein.« Sie holte die wenigen Sachen, die sie mitgebracht hatte, aus dem Korb und verstaute sie im Wohnzimmerschrank, der sowohl als Geschirr- als auch Vorratsschrank diente. »Außerdem habe ich bei den Rosenbaums eine sehr gute Stelle, die gebe ich so schnell nicht auf.«

    Das stimmte, Maria war tüchtig als Hausmädchen. Ständig brachte sie von ihrer Arbeit Kleinigkeiten mit, die die Rosenbaums nicht mehr benötigten, wie zum Beispiel Kleidungsstücke oder auch Reste vom Mittagessen. Das kam der ganzen Familie zugute.

    »Und zum anderen würdest du sicher Herrn Rosenbaum kränken, indem du ihn verlässt, du kleines Flittchen«, fiel ihr Stefan ins Wort.

    Michelina entfuhr bei seinen Worten ein spitzer Schrei. Sie legte die Handarbeit beiseite, ging auf Stefan zu und holte aus, um ihn zu ohrfeigen. Allerdings streifte sie ihn nur kurz: Sie kam, klein wie sie war, kaum an ihn heran.

    Maria lachte vor Schadenfreude und wegen der Komik der Szene laut los – und fing sich im gleichen Moment die nächste Ohrfeige ein. Auf Polnisch sagte Michelina zu Paul: »Bring deinen Frechdachsen endlich mal bei, sich ordentlich zu benehmen. Solche Ausdrücke gebraucht man nicht vor den Kleinen.«

    »Es sind auch deine Frechdachse, mein Weibchen. Vor dir haben sie wahrscheinlich mehr Respekt als vor mir.«

    »Schlimm genug.« An Maria gewandt, meinte sie: »Wenn das wirklich stimmt, was ich soeben gehört habe, schlage ich dich windelweich. Erkläre mir das!«

    »Das wollen wir doch erst mal sehen, Mutti. Stefan lügt. Er will mir wie immer eins auswischen. Nur weil ich nett zu Herrn Rosenbaum bin, bedeutet das noch lange nicht, dass ich was mit ihm habe.«

    »Und wieso bringst du dann immer so viel von diesen Leuten mit?«, wollte Jupp wissen.

    »Ach, ist es jetzt schon Sünde, dass ich euch miternähre und einkleide, ihr Dummköpfe? Dann kauft zukünftig die Sachen von eurem eigenen Geld, wenn ihr könnt. Frau Rosenbaum kann die alten Kleider jederzeit anderweitig loswerden, sie meint es nur gut mit unserer Familie. Und essen braucht ihr die Reste vom Mittagstisch der Rosenbaums natürlich auch nicht. Ihr könnt genauso gut in die nächste Wirtschaft gehen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es euch da so gut schmecken wird, zumal es auch noch ’ne Menge kostet.«

    Die Brüder blieben still. Ihnen war klar, dass Maria wunderbar kochte und vor allem im Organisieren einmalig war. Hinzu kam, dass die Rosenbaums zwei Kinder hatten, die etwas älter als die jüngsten Mauchers waren. So wurden Paulchen und Martha auf wundersame Weise eingekleidet, es mangelte ihnen an nichts.

    Anna trug die alten Sachen von Maria oder das, was Mutter hin und wieder nähte oder häkelte. Und Vater und Maria selbst bekamen auch manchmal etwas von den abgelegten, aber durchaus noch ansehnlichen Kleidungsstücken der Bankiersfamilie. Nur Mutter war zu stolz, bereits von anderen Getragenes anzuziehen. Da begnügte sie sich lieber mit dem Wenigen, was an älteren Sachen übrig geblieben war.

    Wie auch immer, die Brüder wussten genau, dass Maria log, wenn sie bestritt, Herrn Rosenbaum näher zu kennen. Freunde hatten die beiden vor einiger Zeit in Düsseldorf gesehen. Sie waren am Rhein entlangspaziert, wenn auch natürlich nicht eng umschlungen; Maria war gerade mal sechzehn. Doch wozu sonst sollte ein Bankier sein Hausmädchen zum Bummeln mit in die Stadt nehmen, wenn er sich dabei nicht ein amouröses Abenteuer erhoffte?

    Im Übrigen trug Maria neuerdings Kleider, die ihnen teuer vorkamen. Das konnte sie sich vom eigenen Geld einfach nicht leisten, zumal sie fast alles zu Hause abliefern musste. Doch obwohl sich die älteren Geschwister häufig stritten, mochten Stefan und Jupp ihre Schwester. Wenn sie auch nicht besonders hübsch war (wie sie meinten), so sollten sie künftig besser auf sie aufpassen.

    »Schluss jetzt mit der Streiterei!« Paul versuchte, energisch zu klingen.

    »Wir werden Schritt für Schritt vorgehen. Auswandern geht sowieso nicht von heute auf morgen. Wenn wir es tatsächlich tun, muss vorher alles gut überlegt und geplant sein. Ab sofort behalten wir die Nachrichten aus Amerika und aus Frankreich im Auge. Und wenn die Zeit reif ist, entscheiden wir uns.« Während er dies von sich gab, wusste Paul bereits, dass es ihn woanders hinzog, von zu Hause weg. Es hielt ihn auf Dauer an keinem Ort. Für seine Begriffe lebten sie schon viel zu lange im Ruhrgebiet.

    »Na, dann hoffe ich sehr, dass wir uns niemals entscheiden können«, meckerte Maria lautstark und machte sogleich kehrt, um in der Küche zu verschwinden, damit sie keine Antwort abwarten musste.

    »Anna, mein Schatz, geh und hilf deiner älteren Schwester in der Küche. Martha und Paulchen müssen gleich essen, damit sie ins Bett kommen.« Michelina nahm ihre Häkelarbeit wieder zur Hand und lehnte sich im Stuhl zurück. Sie bemerkte nicht mehr, wie alle auf leisen Sohlen das Zimmer verließen und sie träumend zurückblieb.

    Februar 1899

    »GIB NUR acht, Kind, dass es dir später einmal nicht ergeht wie mir.« Marianna trocknete sich die Augen mit dem Saum ihres langen Rocks; ihre Tränen wollten einfach nicht versiegen.

    Niedergeschlagen beobachtete Michelina die Mutter vom Herd aus, an dem sie das Abendessen zubereitete. Wie immer litt sie unsagbar mit, wenn diese unglücklich war. Warum hatte der Graf auch nur so wenig Zeit für sie …

    »Ach matka, nun seid nicht mehr traurig. Vielleicht ist ihm etwas Wichtiges dazwischengekommen; er wird sich sicher bald melden.«

    »Ja, irgendwann meldet er sich immer; bis dahin muss ich bangen, dass wir genug zu essen haben.«

    »Jetzt tut Ihr ihm Unrecht, matka. Er hat uns bisher noch nie im Stich gelassen. Übrigens bringe ich ja auch schon etwas Geld nach Hause … und der Tag wird kommen, an dem wir keine Hilfe mehr von ihm benötigen.«

    Nach der Vertreibung aus dem Schloss hatte der Graf für seine Geliebte und deren Tochter eine kleine Wohnung in einem Dorf bei Kattowitz besorgt – ganz in der Nähe eines Bekannten, bei dem Marianna wieder eine Anstellung als Küchenmagd fand.

    Allerdings hatte sich Frau Gräfin erfolgreich dagegen gewehrt, dass Michelina die Schule besuchen durfte, die ihr Mann ursprünglich für sie ausgesucht hatte.

    So ging sie denn in die Grundschule des Ortes, die zum nahegelegenen Kloster gehörte und von einer strengen Schwester Oberin geleitet wurde. Michelina lernte dort vor allem Handarbeiten wie Nähen, Sticken und Häkeln; zudem Kochen. Lesen und Schreiben selbstverständlich ebenfalls, aber das war für Schüler weiblichen Geschlechts eher ein nebensächliches Fach.

    Im Religionsunterricht ermahnte der Priester die Kinder unentwegt zur Frömmigkeit und Keuschheit. Nur der Glaube an Gott werde sie von allem Übel der Welt fernhalten, predigte er immerzu. Und wer nicht mindestens dreimal am Tag bete, habe später einmal kaum Aussicht aufs Paradies.

    Die Trennung von ihrer Freundin Judith war Michelina besonders schwergefallen. Während der ersten Monate im neuen Heim mochte sie deshalb kaum hinaus zum Spielen, begleitete lediglich ihre Mutter zu deren Stellung und half ihr ein wenig bei der Arbeit, wenn sie keinen Unterricht hatte. Mit der Zeit jedoch verblasste die Erinnerung an Judith, und sie fand neue Freundinnen in ihrer Klasse.

    Graf Koschnewski besuchte sie anfangs wöchentlich und verbrachte meistens einen ganzen Tag mit ihnen. Er versorgte sie mit allem, was nötig war, auch mit Geld. Es mangelte ihnen an nichts. An einem dieser denkwürdigen Tage erfuhr Michelina dann auch, dass er ihr Vater war.

    Mit den Jahren allerdings verlängerten sich die Abstände zwischen seinen Besuchen. Ihre matka, für die außer dem Grafen und dem Priester keine anderen Männer mehr existierten, neigte in solchen Pausen häufig zur Panik, weil sie glaubte, ihm könne etwas zugestoßen sein. Michelina vermutete aber, dass er einfach älter wurde und es ihm schwerer fiel, sich die Zeit für sie zu stehlen. Immerhin schätzte sie ihn auf mindestens zwanzig Jahre älter als ihre matka.

    In den letzten Monaten kam statt des Grafen auch schon mal ein Bote der Familie Koschnewski, um Marianna einen Umschlag zu überreichen. Sie war dann jedes Mal tief verletzt, weil ihr Liebster sich nicht selbst die Zeit dafür genommen hatte.

    Einmal, auf dem Weg zur Schule, war eine Kutsche – vielleicht wegen des matschigen Weges – auffällig langsam an Michelina vorbeigefahren. Darin glaubte sie Judith und die Gräfin sitzen zu sehen, war sich zunächst aber nicht sicher. Erst als die Kutsche für einen kurzen Moment in unmittelbarer Nähe stehenblieb, erkannte sie die beiden ohne Zweifel. Die Damen, vornehm und fremd, beachteten sie nicht einmal. Von diesem Tag an nahm sie sich vor, keinen Gedanken mehr an die gräfliche Familie zu verschwenden.

    Den Grafen, den sie glühend verehrt und oft vermisst hatte, betrachtete sie fortan auch mit anderen Augen; er wurde ihr zunehmend gleichgültiger.

    Sehr früh schon beschloss sie, Näherin zu werden, und hoffte, nach ihrer Ausbildung auf keine Almosen Koschnewskis mehr angewiesen zu sein.

    »Ja, du bist sehr tüchtig, mein Kind, mein ganzer Stolz. Und ich bin ja so dankbar, dass ich dich habe. Meine Sorge ist nur … nun ja, in letzter Zeit sah ich dich häufig mit diesem Jungen … dessen Namen ich nicht weiß. Ich kenne ihn nicht. Ist er überhaupt von hier? Und was arbeitet er? Es wäre besser, wenn ich als Mutter erfahren könnte, mit wem du dich einlässt. Ich hoffe nur, du hast dich von ihm nicht anfassen lassen.«

    »Aber nein, was glaubt Ihr denn, matka? Ich habe gar keine Zeit für Jungs. Es stimmt allerdings, dass Paul mich hin und wieder von der Arbeit abholt und nach Hause begleitet. Jetzt im Winter ist mir das ganz lieb, weil es so früh dunkel wird.« Michelina errötete heftig. Fromm und tugendhaft, wie sie erzogen war, würde sie nie zugeben, dass Paul bereits versucht hatte, sie zu küssen. Selbstverständlich hatte sie sich dagegen gewehrt. Schlimmer allerdings war die Tatsache, dass ihr seine zarten Berührungen gefallen hatten.

    Kennengelernt hatte sie ihn bei dem Schneider, für den sie arbeitete. Er brachte eines Tages Jacke und Hose zum Ändern vorbei, weil er aus den Sachen herausgewachsen war.

    Der junge Mann aus Oppeln gefiel ihr ausgesprochen gut. Er war irgendwie anders als die männlichen Kunden, die sie sonst noch zu Gesicht bekam: hochgewachsen, dunkelblond und überhaupt nicht schüchtern. Vielleicht etwas unstet, da er, obwohl noch keine zwanzig, schon viel herumgekommen war. Auch in Preußen, was Michelina besonders beeindruckte. Und mit ständig neuen lustigen Geschichten von seinen vielen Reisen brachte er sie häufig zum Lachen.

    »So, so, Paul ist sein Name. Und weiter? Ach, übrigens: Dabei wird es nicht bleiben, beim ›Nach-Hause-Begleiten‹.« Marianna, die wegen ihres starken Rheumas kaum noch arbeiten konnte und sich seit Wochen fast nur daheim aufhielt, blickte Michelina streng an. Ausgestreckt in ihrem geliebten Ohrensessel, hatte sie sich mittlerweile ein wenig von der Tatsache, dass der Graf erneut nicht gekommen war, erholt.

    »Wie meint Ihr das?«

    »Nun, Kind, wie soll ich dir das erklären? Hm, du bist doch immerhin schon sechzehn.«

    »Ja, und?«

    »Na ja«, Marianna zögerte, »wie könnte ich das beschreiben?«

    »Also matka, was soll das? Du machst mich jetzt neugierig. Erzähl einfach, was du auf dem Herzen hast.« Michelina duzte Marianna nur, wenn sie energisch wurde. Sie wusste, dass diese gern vornehm tat. Das hatte sie sich bei den Koschnewskis abgeguckt, die dabei auch noch Französisch miteinander sprachen.

    »Äh … hat dieser Paul denn schon einmal versucht, dich zu küssen?«

    »Und wenn?«

    »Oh Gott, das ist der Anfang vom Ende!«

    »Ich hab es nicht zugelassen!«

    »Gott sei Dank, Kind. Du musst nämlich wissen, auch beim Küssen wird es nicht bleiben.«

    Michelinas Gesichtsfarbe glich nun endgültig der einer reifen Tomate. »Was gibt es noch außer Küssen und Kinderkriegen?«

    »Vom Küssen jedenfalls kriegt man keine Kinder; es ist nur der Anfang zum Weitermachen.«

    »Wie bitte, w a s weitermachen?«

    »Na gut, mir scheint, ich komme nicht umhin, dir alles zu erzählen, obwohl es ziemlich unanständig ist. Du brauchst ja mit niemandem darüber reden. Ein Mädchen oder eine Frau tut so etwas nicht, ist das klar? Es kann auch nicht schaden, wenn du nach unserem Gespräch in der Kirche ein bis zwei Vaterunser betest, nur so, für alle Fälle.«

    »Matka, bitte komm zur Sache!«

    »Nach dem Küssen wird er dich streicheln wollen, äh, überall am Körper.«

    »Wie, Ihr meint überall? Auch …«, und jetzt war es Michelina, die anfing zu stottern, »… hm …an meinen Brüsten und …«

    »Ja, ja! Überall! Und wahrscheinlich wird es dir gefallen. Genauso, wie es mir gefallen hat, als der Graf damals zu mir kam. Sie machen einen damit verrückt. Und ehe man sich’s versieht, liegt man im Bett oder sonst wo mit ihnen, und schon haben sie dir die Unschuld geraubt …«

    »Mit dem Streicheln … Oh, ich ahne, was Ihr meint. Judith und ich hatten damals auf dem Schloss die Magd Edelka mit einem Knecht beobachtet, wie er im Stall auf ihr drauflag. Sie haben da so komische Laute von sich gegeben. Und sie waren fast nackt.«

    »Du meine Güte, das habt ihr gesehen? So etwas Unanständiges? Das ist ja schrecklich. Warum hast du mir das nie erzählt?«

    »Wir dachten, es wäre besser, nicht darüber zu reden, damit wir keine Schläge bekommen. Übrigens lag ein enormer Abstand zwischen uns … Zuerst nahmen wir an, dass der Knecht Edelka gekitzelt hätte.«

    »Nun, vielleicht war das ja richtig so, dass ihr es für euch behalten habt. Jedenfalls weißt du jetzt, was die Männer letztendlich von dir wollen, wenn sie dir den Hof machen. Und das ist bei jedem so.«

    »Bei Paul nicht. Der würde so was nie tun. Jedenfalls nicht, solange ich nicht damit einverstanden bin.«

    »Wie du meinst, meine Tochter. Aber bitte sei vorsichtig. Ein uneheliches Kind wäre für uns eine Katastrophe. Denke daran, dass du uns zukünftig vielleicht ernähren musst.«

    »Ich werde schon aufpassen, matka, das hört sich ja auch alles ziemlich eklig an. Ich verstehe nur nicht, wie Ihr damals auf den Grafen hereingefallen seid …«

    »Ach, Kind, mir hatte vorher niemand erzählt, was du heute erfahren hast. Ich war ganz allein auf der Welt. An meinem sechzehnten Geburtstag kam Koschnewski das erste Mal zu mir. Ich hatte noch enormes Glück, erst mit achtzehn ein Kind zu bekommen. Er war aber auch so charmant, wie ich es nie mehr bei einem anderen Mann erlebt habe.«

    »Wie solltet Ihr auch, Ihr habt seitdem ja keinen mehr angesehen.«

    »Ja, das stimmt. Ich will auch nichts mehr von den Männern, dazu bin ich viel zu krank. Am besten wäre es, wenn wir beide unsere Ruhe vor ihnen hätten.«

    »Ach, matka, ich muss Euch noch etwas sagen: Paul hat mich für Sonntag zu einem Tanzfest eingeladen. Und danach wollte ich ihn Euch eigentlich einmal vorstellen.«

    »Oje, ich sag’s ja; irgendwie hat man im Leben keine Ruhe vor den Kerlen. Na schön, von mir aus, bring ihn mit. Aber denke allzeit an unser heutiges Gespräch. Ich habe dich gewarnt.«

    *

    Anna zupfte ihre Mutter noch einmal am Ärmel, bis sie endlich die Augen aufschlug.

    »Bin ich etwa eingeschlafen? Na, so was. Dabei wollte ich doch nur zwei Reihen häkeln und Maria danach in der Küche helfen.«

    »Maria schimpft schon. Sie sagt, das Essen wird gleich kalt, wenn Sie nicht kommen, Mutti.«

    Benommen schüttelte Michelina den Kopf und staunte einmal mehr über Annas wunderschöne blaue Augen.

    »Ich bin schon unterwegs, Kleines.«

    Dezember 1920

    PAUL UND Michelina befanden sich mit den Kindern im Wohnzimmer und tranken ihren Nachmittagstee, als Stefan von der Arbeit kam und seine Tasche überschwänglich in die Ecke der Diele warf. Seine Stimme überschlug sich förmlich vor Erregung:

    »Hast du es schon gehört, Vater? In Oberschlesien rumort es heftig.«

    »Guten Tag, Stefan, wie war deine Arbeit heute?«

    Anna, die ihren ältesten Bruder abgöttisch liebte, sprang vom Sofa und lief auf ihn zu. Er fing sie auf und hielt sie hoch in die Luft. Als er sie wieder absetzte, sagte er keuchend: »Meine Güte, du wirst auch immer schwerer, Anna. Kann es sein, dass du schon wieder ein Stück gewachsen bist?«

    »Nee, glaub ich nicht. Es gibt welche in der Klasse, die viel größer sind als ich. Da ist zum Beispiel Gerda …«

    »Nun lass Stefan sich erst mal setzen, Anna«, sagte Michelina. »Er ist sicher müde. Geh und spiel mit Paulchen ein wenig an der frischen Luft. Es hat so schön geschneit, da könntet ihr einen Schneemann bauen. Und wenn ihr fertig seid, kommen wir ihn bewundern, ja?«

    »Au ja, komm, Paulchen, wir bauen den schönsten Schneemann, den die Straße je gesehen hat!«

    Die Kinder zogen warme Sachen an und stürmten hinaus.

    Stefans Eltern hatten von den Neuigkeiten aus der alten Heimat noch nichts gehört. Laut dem Versailler Vertrag, über den sie recht gut informiert waren, sollte Oberschlesien oder zumindest Teile davon Polen zugesprochen werden.

    Paul zupfte nachdenklich an seinem Schnauzer: »So könnte es also geschehen, verdammt; was einmal unsere Heimat war, gehört irgendwann womöglich nicht mehr zu Deutschland. Tja, was soll ich dazu sagen? Mehr als ärgerlich, das Ganze. Aber schließlich haben wir den Krieg verloren, und nun müssen wir die Rechnung begleichen.«

    Michelina ging mit Martha an ihrem Rockzipfel in die Küche und setzte frisches Wasser auf. Martha, das jüngste Kind der Mauchers, war sehr still, ein wenig unscheinbar und vollkommen auf ihre Mutter fixiert. Sie verzichtete sogar aufs Spielen mit den Geschwistern, wenn sie nur bei ihr sein konnte.

    »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Was ist mit unserem Haus? Ich meine das Haus meiner Großeltern in Oppeln? Soll das womöglich für immer verloren sein?«

    »Unsinn, Junge, wie kommst du denn darauf? Dir ist auch bekannt, dass der Pächter ein ordentlicher Kerl ist. Er wird sich nicht aneignen, was ihm nicht gehört.«

    Nachdem sie in alle Winde zerstreut worden waren, hatten Paul und seine Geschwister nach dem Tod der Eltern beschlossen, das leer stehende Elternhaus an einen Nachbarn zu verpachten.

    Es war ein hübsches, anderthalbstöckiges Gebäude, am grünen Stadtrand von Oppeln gelegen, mit einem kleinen Bach in der Nähe. Allerdings hatte der Krieg auch hiervor nicht haltgemacht, so dass Pächter Juri Jawinski eine ganze Weile mit Ausbesserungsarbeiten daran beschäftigt war.

    »Na, wenn du da mal recht behältst, Vater.« Betrübt lehnte sich Stefan im Sessel zurück und schloss für einen Moment die Augen. Wie so häufig in letzter Zeit hatte er mal wieder keinen guten Tag gehabt. Aber diesmal lag es weniger an der harten Arbeit in seiner neuen Firma als an seinem Liebeskummer …

    Die Gespräche übers Auswandern fanden auch nicht mehr so häufig statt wie noch vor Wochen. Onkel Hermann ließ schon gar nichts mehr von sich hören, und die Szendrziks waren nach tränenreichem Abschied im Herbst weggezogen. Später als ursprünglich geplant, aber immerhin hatten sie

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