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Fliegengittertür: Eine Reiseliebesgeschichte in Sydney
Fliegengittertür: Eine Reiseliebesgeschichte in Sydney
Fliegengittertür: Eine Reiseliebesgeschichte in Sydney
eBook600 Seiten9 Stunden

Fliegengittertür: Eine Reiseliebesgeschichte in Sydney

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Über dieses E-Book

Ein Englischkurs in Sydney? Wohnen bei einer Gastmutter? Es mag aufregendere Entwürfe geben, einen mehr als zehn Jahre alten Traum von Freiheit in australischer Weite zu leben. Doch hinter der Fliegengittertür erweiterte Ines Schaub nicht nur ihren Wortschatz und erkundete Sydney, Canberra und die Blue Mountains, sondern sie lernte auch viele wunderbare Menschen aus Australien, Asien und Europa kennen. Die Begegnungen mit den vielfältigen fremden Kulturen führten dazu, dass sie auch auf ihre eigene Kultur eine neue Sichtweise bekam. Ihre Abenteuer und Erlebnisse, aber auch die Banalitäten ihres australischen Alltags notierte sie täglich in einem Reisetagebuch. Durch dessen Grundrauschen hindurch konnte sie zunächst zaghaft, schließlich aber mit jedem Satz, den diese sprach, ihre eigene literarische Stimme deutlicher hören. Außerdem gelang es ihrem Herzen, nach langem Suchen endlich seinen Weg zu finden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Mai 2015
ISBN9783739251936
Fliegengittertür: Eine Reiseliebesgeschichte in Sydney
Autor

Ines Schaub

Ines Schaub, Jahrgang 1966. Freiwilliges Soziales Jahr, anschließend Ausbildung zur Krankenschwester. Berufserfahrung im In- und Ausland. Studium der Sprach- und Erziehungswissenschaften. Volontariat als PR-Journalistin. Zur Zeit Check-in Agent am Flughafen Frankfurt und freie Autorin für airliners.de.

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    Buchvorschau

    Fliegengittertür - Ines Schaub

    Vorfreude.

    Anreise, Nougatpralinen, Möwenfüßchen

    Samstag, 26.5.7

    Nach knapp 30 Stunden des Unterwegsseins meldet sich über Lautsprecher der sonore Bariton des Kapitäns: Guten Abend, meine Damen und Herren. Wir befinden uns bereits im Landeanflug auf Sydney. Wenn Sie damit einverstanden sind, löschen wir jetzt die Kabinenbeleuchtung, damit Sie den Blick auf Sydney besser genießen können. Ein wenig fühle ich mich wie ein Kind, das nach schier endlosen Wochen des Kaum-Erwarten-Könnens am ersten Dezember endlich hinter das erste Türchen seines Adventskalenders schauen darf. In Sydney ist es jetzt kurz nach 18 Uhr. Ich bin völlig erstaunt, dass es draußen dunkel ist; mein Tag- und Nachtrhythmus scheint ein wenig durcheinandergeraten zu sein. Bis auf diejenigen, die in der Mitte des Flugzeugs sitzen, verrenken sich alle die Köpfe, um aus den kleinen Fenstern schauen zu können, kommentiert von vielen Ohs und Ahs. Beim Anblick des erleuchteten Sydneys wird mir so feierlich zumute, dass mir fast die Tränen kommen. Obwohl ich noch nie in dieser Stadt war, fühlt es sich an wie Heimkommen, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzt.

    Zum ersten Mal in meinem Leben setze ich am Kingsford Smith Flughafen erst den rechten, dann den linken Fuß auf australischen Boden, der in meinem Fall mit blau gemustertem Teppich ausgelegt ist. Bei der Passkontrolle reihe ich mich in eine der Schlangen an den Schaltern für Nicht-Australier ein. Auf Anraten meines Reisebüros habe ich meine Einwanderungskarte für Australien bereits am heimischen Schreibtisch in Stuttgart ausgefüllt. Zusammen mit meinem Reisepass schiebe ich sie dem Beamten hin. Er blättert in meinem Pass und tippt etwas in seinen Computer. Das, was er auf dem Monitor sieht, scheint ihn zufriedenzustellen. Er nickt, schlägt eine beliebige Seite unter der Rubrik Sichtvermerke auf, greift nach einem Stempel, holt aus und donnert ihn hinein. Zufällig ist es Seite zwölf unten, und das Datum meiner Einreise steht auf dem Kopf. Obwohl ich schon viel in Europa gereist bin, fühle ich mich erst durch die Einreisestempel von Hongkong und Australien zur Cosmopolitin initiiert.

    Kurz vor dem Ausgang reihe ich mich ein letztes Mal in eine mit Tensatoren geordnete Warteschlange ein. An deren Ende stehen sechs Röntgengeräte, von denen fünf in Betrieb sind und die in ihrer Größe an Computertomographen erinnern. Ich wuchte mein Gepäck auf ein freies Band, packe Laptop und Kamera aus. Mein Handgepäck muss inzwischen völlig verstrahlt sein, es ist die vierte Röntgenkontrolle während meiner Reise. Haben Sie Lebensmittel bei sich, die Sie nicht einführen dürfen?, fragt mich der Beamte, ohne seine Miene zu einem Lächeln oder Vergleichbarem zu verziehen. Unterm Haaransatz bricht mir der Schweiß aus. In meinem großen Rucksack habe ich in einer Plastikdose ein Tütchen mit handgemachten Stuttgarter Nougatpralinen für meine Gastmutter. Die Tüte ist nicht verschweißt, deshalb dürfte ich die Pralinen nicht einführen. Kann er die auf dem Bildschirm erkennen oder nicht?, frag ich mich. Ich hole tief Luft und sehe ihm fest in die Augen. Nein, hab ich nicht, lüge ich mit entschlossener Stimme. Sofort guckt er freundlicher. Dann dürfen Sie jetzt gehen, sagt er, einen schönen Aufenthalt in Sydney.

    Am Taxistand vor dem Flughafen koordiniert ein Ordner den Andrang der Angekommenen. Fünf Minuten später ist mein Gepäck im Kofferraum verladen und ich sitze in einem Taxi. Aus meinem kleinen Rucksack ziehe ich das Blatt mit der Adresse meiner Gastmutter hervor und strecke es dem Fahrer entgegen. Da will ich hin, sag ich und zeige auf die Adresse. Der Fahrer schaltet die Innenbeleuchtung ein, setzt eine Lesebrille auf, studiert die Adresse, runzelt die Stirn, die Falten glätten sich wieder, er lächelt, ah, ich weiß. Er setzt die Brille wieder ab, schaltet das Licht aus und startet den Motor. Ich finde es sehr komisch, in einem Auto auf der linken Seite zu sitzen und kein Lenkrad vor mir zu haben. You are from Germany, diagnostiziert er nach wenigen Minuten, it is your accent. I know them all, the Germans, Austrians and Dutchmen. Über so viel Scharfsinn muss ich lachen und bin froh, dass ich ihn als ersten Australier, mit dem ich länger als nur Hallo und Guten Tag zu tun habe, gut verstehen kann. Während der Fahrt nach Clovelly bekomme ich eine vorletzte Panikattacke vom Typ Oh Gott, auf was hast du dich da nur eingelassen? Viel kann ich von Sydney nicht erkennen, dazu ist es zu dunkel. Irgendwann huscht eine einzelne Palme an uns vorbei. Nach einer knappen halben Stunde nimmt der Fahrer den Fuß vom Gas, sodass er nur noch Schritttempo fährt, und starrt angestrengt auf die Häuser der rechten Straßenseite. Wir sind schon eine ganze Weile in der Clovelly Road, kommentiert er, jetzt suche ich nach der richtigen Hausnummer. Dann zieht er von der linken über die rechte Fahrspur und hält in einer Garageneinfahrt. Er schaltet den Motor aus. Hier ist es, sagt er.

    Schemenhaft erkenne ich ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus aus rotem Backstein, dessen Balkone zur Straße liegen. Hinter den meisten Fenstern brennt Licht. Das Fundament des Hauses bildet eine ebenerdige Tiefgarage ohne Tor. Links von der Garage befindet sich eine Treppe. Keuchend und schnaufend schleppe ich meine beiden Rucksäcke und den Trolley hinauf. Oben am Treppenabsatz liegt gleich rechts ein schummerig beleuchteter Eingang. Ich taste und finde den Lichtschalter. Das Treppenhaus ist mit einem Teppich ausgelegt, der einmal beige war, jetzt aber von Wasserrändern, Stockflecken, Schmutzkörnchen und Tierhaaren überzogen ist. Es riecht muffig. Über der linken der beiden Türen steht eine Zwei, das muss die Wohnung meiner Gastmutter sein. Genau genommen stehe ich vor zwei Türen, denn vor der eigentlichen Wohnungstür fasst ein wollweiß gestrichener Eisenrahmen verschieden große, geometrisch angeordnete Schnörkel. Außerdem ist er mit einem feinen Gitterdraht bespannt, was die Tür aussehen lässt wie ein Fliegengitter. Da ich keine Klingel finden kann, drücke ich die zierliche Klinke der Fliegengittertür runter und zieh die Tür zu mir her. Ich bin erstaunt, wie leicht sie ist, trotzdem fiele sie gleich wieder zu, hielte ich sie nicht mit dem Fuß auf. An der zweiten Tür ist ein Türklopfer aus Messing. Einen Spion hat sie nicht. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Was mache ich, wenn meine Gastmutter und ich uns spontan ankotzen?, denke ich. Mit zitternden Fingern klopfe ich an, erst zu zaghaft und zu leise, dann entschlossener. Begleitet von einem lauten Klacken geht im Treppenhaus das Licht aus. Mittlerweile bin ich so aufgeregt, dass ich kaum noch Luft bekomme. Die Tür fliegt auf, und vor mir steht eine schlanke Frau in einer schwarzen Hose und einer kurzärmeligen, schwarzen Seidenbluse. Ihre Füße stecken barfuß in rosa Frotteeschläppchen. Sie hat dunkelbraune, stufig geschnittene, schulterlange Haare. Unter Ponyfransen und hinter einer Brille mit rechteckigen Bifokalgläsern blitzen mokkabraune Augen erwartungsvoll und gleichzeitig traurig hervor. Hat sie erst vor Kurzem ihren Mann verloren?, schießt es mir durch den Kopf. Good evening, I am Ines, hauche ich atemlos. Hello, I am Rebecca, stellt sie sich vor. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Ist dein Flugzeug früher gelandet?, wundert sie sich, ich hab erst später mit dir gerechnet. Komm rein.

    Ihre Wohnung hat keinen Flur. Ich stehe gleich mitten im Wohnzimmer. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie grinst, als ich vor dem dunkelblauen Sofa erst meinen kleinen, dann meinen großen Rucksack auf den dunkelbraunen Teppichboden gleiten lasse. Hier wohne ich also die nächsten sechs Wochen, denke ich. Mein Fluchtinstinkt regt sich. Zum allerletzten Mal auf dieser Reise stelle ich mir die Frage, oh Gott, was hast du nur getan?

    An einem ovalen Esstisch aus hellem Holz sitzen zwei Frauen. Die mit den langen blonden Haaren steht auf und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich schätze sie auf Ende 40. Das ist Jen, meine Nachbarin, stellt Rebecca sie mir vor. Ab und zu trinken wir zusammen eine Tasse Kaffee und reden. Ich bin Zeynap, sagt die andere Frau. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich, hat schulterlanges, schwarzes, welliges Haar und ebenso dunkle Augen wie Rebecca. Zeynap hat die letzten zehn Wochen bei mir gewohnt, erklärt Rebecca, sie ist Sprachstudentin wie du, besucht aber ein anderes College. Jetzt ist sie noch eine Woche bei Jen, und dann zieht sie mit ein paar Freunden zusammen in eine Wohnung in der Innenstadt. Möchtest du etwas essen? Um Gottes Willen nein, schlage ich ihr Angebot aus, während des Fluges hab ich eigentlich nur gegessen, und vor der Landung hab ich noch die letzten Äpfel reingestopft, weil ich die ja nicht nach Australien hätte einführen dürfen. Sie kommt mit einer Teekanne in der Hand aus der Küche zurück. Möchtest du etwas trinken? Grünen Tee? Ehe ich antworten kann, hat sie mir schon einen kleinen weißen Porzellanbecher gefüllt und auf den Tisch gestellt. Sie rückt den freien Stuhl zurecht, hier, setz dich zu uns. Sie selbst nimmt auf einem der blauen Sessel Platz. Ich greife nach dem Becherchen und nippe am Tee.

    Wie war dein Flug?, erkundigt sich Jen. Lang, aber angenehm, entgegne ich, das Essen war lecker, und ich hab mich mit vielen netten Leuten unterhalten. Wo wohnst du in Deutschland?, will Rebecca wissen. Ich komm aus Stuttgart, das liegt im Süden, die Berge sind nicht mehr weit weg, erklär ich. Über Jens Gesicht huscht ein Lächeln. Bei mir wohnt ein junger Deutscher, der auch aus Stuttgart kommt. Ach was, wirklich?, sag ich. Die Welt ist klein, denke ich. Wie alt bist du?, fragt Rebecca. Übernächsten Montag werde ich 41 Jahre alt, gebe ich höflich Auskunft. Sie und Jen fangen an zu lachen, als hätte ich entweder etwas ganz Witziges gesagt oder unwissentlich eine obszöne Vokabel gebraucht. Irritiert guck ich von einer zur anderen. Ich hab zwei Tage nach dir Geburtstag und eine meiner Freundinnen auch, erklärt Rebecca, nachdem sie sich wieder beruhigt hat. Ach so, sag ich, übrigens hat eine Freundin von mir am 20. Geburtstag und meine Schwester morgen. Und ich hab am 11. Juni Geburtstag, schaltet sich Zeynap ein, dieses Jahr werde ich 30. Meine Tochter feiert am 16. Juni ihren 21. Geburtstag, wirft Jen dazwischen. Die meisten von uns hier sind also nicht nur Zwilling, sondern kennen auch noch viele Zwillinge, fasst Rebecca zusammen, wir können ja mal festhalten, gemeinsam auf unsere Geburtstage anzustoßen. Sie nimmt einen Schluck Tee. [‘ιnәs] spricht besser Englisch als Zeynap, stellt sie dann mit Kennermiene fest. Das stimmt, pflichtet Jen ihr bei. Ich bin über mich selbst erstaunt, wie gut es mit der Unterhaltung klappt. Sowohl Jen als auch Rebecca sprechen deutlich, verwenden keine Abkürzungen und verschlucken keine Silben. Hätte damals in der Schule mein Herz auch ein wenig für Englisch geschlagen und nicht nur für Französisch, könnte ich nach sieben Jahren Schulenglisch mehr können. Als ich vor zehn Wochen nach Sydney gekommen bin, hab ich kein Wort Englisch gesprochen, versichert Zeynap. Dafür macht sie ihre Sache in meinen Ohren sehr gut. Die drei empfangen mich so offen und so selbstverständlich, als sei ich für sie keine Fremde, sondern eine alte Bekannte, die sie ein paar Tage nicht gesehen haben. Rebecca mit ihrer feinen und herzlichen Ausstrahlung mag ich sofort.

    Was hältst du davon, den jungen Deutschen kennenzulernen?, fragt Jen. Wir erheben uns von unseren Stühlen und gehen in die Wohnung nebenan. Schwanzwedelnd springt ihr ein kleiner, weißer Malteserhund mit gekringelten Ponyfransen über seinen großen schwarzen Augen entgegen. Der junge Deutsche lümmelt auf dem Sofa und sieht fern. Fabian, sagt Jen, das ist [‘ιnәs]. Sie kommt auch aus Stuttgart. Vor mir entfaltet sich ein zirka ein Meter 85 großer, schlanker Mann in Jeans und T-Shirt mit kurzem, blondem, leicht lockigem Haar. Hallo, sagt er lässig auf Deutsch und streckt mir seine Hand entgegen, ich bin Fabian. In Wahrheit komm ich gar nicht aus Stuttgart, sondern aus Fellbach, das liegt… Kenn ich, unterbrech ich ihn, auch auf Deutsch, ich hab mehr als vier Jahre in Schorndorf gewohnt und bin jeden Tag zweimal mit der S-Bahn durchgefahren. Er grinst, dann kennst du dich ja aus. Wie hat es dich nach Sydney verschlagen?, will ich wissen. Ich hab eine Ausbildung zum Außenhandelskaufmann gemacht, erzählt er, und dann musste ich erst mal weg, um nicht verrückt zu werden. Bist du länger in Australien?, frag ich. Ja, entgegnet er, ich hab ein Work-and-Travel-Ticket und bin schon seit drei Monaten unterwegs. Vorher war ich in Melbourne. Und du, reist du auch noch durch Australien? Nein, sag ich, ich mach hier einen Sprachkurs und guck mir Sydney an, und dann muss ich leider wieder heim.

    Den ganzen Abend schon schau ich auf das Veilchen, das Jen unter ihrem rechten Auge hat. Dieses Mal hab ich einen Sekundenbruchteil zu lang gestarrt, sie hat es bemerkt und geht in die Offensive. Das hat mir kein Mann geschlagen, falls du das denkst, sondern ich bin gestürzt. Dort, wo ich arbeite, ist eine sehr steile Wendeltreppe, auf ihr bin ich ausgerutscht und hab mir den Kopf angeschlagen, rechtfertigt sie sich. Hmhm, murmel ich und nicke. Ganz überzeugt bin ich nicht. Jen hat so eine Ausstrahlung, dass die Ursache dafür durchaus eine Männerfaust hätte gewesen sein können.

    Lass uns wieder rübergehen, schlägt Rebecca vor, ich zeig dir dein Zimmer, und du kannst deine Sachen auspacken. Bist du müde? Nein, sag ich, nur völlig überdreht. Während sie die Teebecher in die Küche trägt und spült, wühle ich in meinem großen Rucksack, bis ich die blaue Dose mit den Pralinen gefunden habe. Nach diesem herzlichen Empfang kommt mir mein kleines Gastgeschenk äußerst armselig vor. Ich beschließe, ihr später einen Blumenstrauß oder eine Flasche Wein oder beides zu schenken. Diese Pralinen sind eine Spezialität aus Stuttgart, erklär ich, als ich ihr das Zellophantütchen überreiche. Lieb von dir, bedankt sie sich, wir probieren sie morgen. Wir lehnen jede an einem Schrank in der Küche und trinken noch ein Glas Leitungswasser. Vor dem Fenster hängt eine Jalousie, deren Lamellen sich unter Bratfett und Staub biegen. Was machst du in Deutschland?, erkundigt sie sich. Zurzeit arbeite ich an einem Roman, aber wenn ich eine gute Idee hab, schreib ich auch Kurzgeschichten. Übrigens, bevor ich nach Sydney geflogen bin, war ich noch zwei Tage in London. Ich hab mal das Gesicht von Virginia Woolf als Quilt genäht, den hab ich jetzt der University of Sussex gestiftet. Hast du denn schon Pläne für deine Zeit in Sydney?, erkundigt sie sich. So genau noch nicht, gebe ich zu, aber ich möchte auf jeden Fall in die Oper gehen. Du bist voller Energie, findet Rebecca. Alarmiert frage ich mich, ob sie sich von mir überrannt fühlt.

    Gegen halb zehn zieht sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Nach einigen Minuten kommt sie in einem weißen Morgenmantel mit blassblauen Blümchen wieder raus, in der Hand ein weißes Nachthemd. Ich höre, wie im Bad die Dusche rauscht. Dann steht sie wieder vor mir in ihrem Morgenmantel. Ich dachte, dass wir morgen zusammen mit dem Bus in die Innenstadt fahren, schlägt sie vor, ich zeig dir deinen Schulweg. Sie faltet einen Busfahrplan auf. Schaffst du es so aufzustehen, dass wir den Bus um kurz vor zehn nehmen können? Auf jeden Fall, versicher ich. Gute Nacht, [‘ιnәs], ich geh jetzt ins Bett. Dem Beispiel folge ich, sag ich. Du darfst so lange aufbleiben, wie du willst, entgegnet sie. Aber ich will gar nicht. Ich will duschen, ich will schlafen, ich will so schnell wie möglich in den neuen Rhythmus finden. Gute Nacht, Rebecca.

    Prominentestes Möbel in meinem Zimmer für die nächsten sechs Wochen ist ein weißer Wandschrank, der sich über die ganze Längsseite erstreckt. Seine vier breiten Schiebetüren sind mit Spiegeln verkleidet. Die zweite Tür von links steht zur Hälfte offen, dieser Teil des Schrankes ist für mich gedacht. Ich hänge die Bügel mit meinen Hosen an die Kleiderstange und stapel meine Pullis auf das Regal darunter. An der Querseite des Zimmers steht vor dem Fenster ein Etagenbett aus Kiefernholz, dessen unteres Bett Rebecca für mich mit türkis-grüner Bettwäsche bezogen hat. Rüschen in den gleichen Farben bedecken den Rahmen. Am Fußende liegen zwei altrosafarbene Badetücher. Ich fühl mich wie in der Jugendherberge. In dem Zimmer steht noch ein Regal mit einigen Büchern, Geschenkpapier, Plastikboxen und einer kleinen australischen Flagge, vielleicht ein Erinnerungsstück an die Fußball-WM von 2006. Mindestens drei Fächer sind leer, sodass ich in ihnen noch ein paar T-Shirts verstaue. Hinter der Tür befindet sich schließlich noch ein Möbel, das aussieht wie ein sehr schmaler Schreibtisch aus dunkelbraunem Holz. In einem schlichten goldenen Rahmen hängt über ihm eine Collage mit rotstichigen oder verblichenen Fotos von Rebecca, ihrer Tochter Mel und den drei Enkeltöchtern. Auf einem Bild ziemlich in der Mitte steht Rebecca mit einem schätzungsweise drei Monate alten Baby auf dem Arm vor einem gusseisernen Kerzenständer, der ihr bis zur Schulter reicht. Stolz lächelt sie in die Kamera. Sie ist zum ersten Mal Großmutter geworden. Das Baby trägt ein weißes Rüschenkleid und ein Mützchen, vielleicht ist es gerade getauft worden. Andere Bilder zeigen Mel zusammen mit ihrem Bichon Frisé in einem Park, in ihrer Schuluniform und zusammen mit ihrer Mutter auf dem Walk of Fame in Los Angeles. In der rechten unteren Ecke ist Mel 15 oder 16 und sitzt vor dem Spiegel eines Fotografen, der dadurch nicht nur sie, sondern auch ihr Spiegelbild aufgenommen hat. Sie trägt ein rotkariertes Kleid und im Haar eine Schleife. Es ist das einzige Foto, das weder rotstichig noch verschossen ist. Für mich strahlt es den ganzen Stolz einer Mutter auf ihre Tochter aus. Kalt ist es in meinem Zimmer. Den ganzen Tag hat das Fenster offengestanden. Ich knie auf das Bett, schlag mir den Kopf am Lattenrost des oberen Bettes an, schiebe den staubigen Vorhang ein wenig zur Seite und staune, wie dünn das Fensterglas ist. Ich kralle meine Finger in den Metallrahmen und versuche, das Fenster zuzuziehen. Der Rahmen hakt in der Führungsschiene, aber mit etwas Schwung gelingt es. Mit klappernden Zähnen ziehe ich meine Jeans aus. Vom langen Sitzen sind die Knie ganz ausgebeult. In meinem Morgenmantel und mit meinem Schlafanzug, meinen Handtüchern und meinem Kulturbeutel unterm Arm husche ich ins Bad.

    Das liegt gleich neben meinem Zimmer. Die Handtücher und den Kulturbeutel hänge ich an den Handtuchhalter hinter der Tür. Die Dusche befindet sich gleich rechts neben der Tür. In der geräumigen Glaskabine könnte auch ein Rollstuhlfahrer duschen ohne anzuecken. Bei dem Versuch, mit einem Kaltwasserhahn und einem Warmwasserhahn die richtige Mischung zu finden, klatscht mir aus der an der Decke festgeschraubten Brause ein Schwall kaltes Wasser auf den Rücken. Mir bleibt fast die Luft weg, und ich trete einen Schritt zurück. Bis die Temperatur stimmt, habe ich schon etliche Liter Wasser verschwendet. Nach dem Duschen halte ich mich strikt an die Empfehlungen der Frau aus dem Reisebüro, die mir vor allem nachts zu warmer Kleidung geraten hatte. Unter die Schlafanzughose ziehe ich also eine Leggins, über das Oberteil eine Fleecejacke und über das Paar Wollsocken an meinen Füßen ein zweites. In meinem Bett sind Laken und Wolldecke fest unter die Matratze gespannt, beides zerre ich raus. Beim Hinlegen ziehe ich meine Knie bis zum Bauch und mag meine Beine gar nicht ausstrecken, um nicht mehr als nötig von der klammen Kälte der Bettwäsche spüren zu müssen. In Sekundenbruchteilen werden meine angenehm warmen Füße eiskalt. Trotzdem werde ich zu meinem Erstaunen sofort schläfrig. Beim Einschlafen erkenne ich einen der wesentlichen Vorzüge des Fliegens: Anders als nach langen Zug- oder Schiffsreisen schwanken weder Boden noch Bett.

    Sonntag, 27.5.7

    Dreimal bin ich in dieser Nacht wach geworden. Zweimal, weil ich gefroren hab, und das dritte Mal – gegen fünf Uhr morgens –, weil mir zu warm war. Da hab ich die Fleecejacke und ein Paar Socken wieder ausgezogen. Um acht Uhr Sydneyzeit hält es mich nicht mehr im Bett. Wenn ich auf der rechten Seite liege, bohrt sich mir eine Feder in die Hüfte, weshalb ich mich sofort wieder auf die linke Seite drehe. Doch da sind mir längst alle Knochen lahm geworden. Ich stehe auf. Nach der ersten Nacht in Sydney irrt meine Seele noch irgendwo zwischen den Kontinenten umher, was sich auf der körperlichen Ebene anfühlt, als sei ich zwischen zwei Mühlsteine geraten. Vielleicht ist der Grund auch der, dass in Deutschland gerade Mitternacht ist. Noch bevor ich mich anziehe, ziehe ich zusätzlich die Steppdecke des oberen Bettes in den Bezug meiner eigenen.

    Ich stell meinen Laptop auf den Esstisch und hol mir, solange er hochfährt, in der Küche ein Glas Wasser. Der Akku meines Laptops hält ungefähr noch eine Dreiviertelstunde, dann stellt mich das Symbol einer fast leeren Batterie mit einer Sprechblase vor die Wahl, Steckdose oder Datenverlust. Ich hab alles schon vorbereitet, ich brauch nur noch den Schukostecker des Netzteils in meinen internationalen Adapter zu stecken. Um ihn ranken sich die Stecker für die Länder diese Welt wie eine Dornenkrone. Doch es funktioniert nicht. Dem Stecker stellen sich zwei Plastikgrate in den Weg. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Laptop auszuschalten.

    Kurz darauf hör ich durch die angelehnte Schlafzimmertür Rebeccas Wecker piepsen. Ihr Bett knackt, vier Minuten später piepst der Wecker noch mal, das Bett knackt lauter, zehn Minuten später steht sie vor mir, in Nachthemd und Morgenmantel, mit zerknittertem Gesicht und verquollenen Augen. Good morning, [‘ιnәs], begrüßt sie mich, hast du deine erste Nacht hier gut geschlafen? Geht so, sag ich, war aber nicht schlecht. Hast du schon gefrühstückt?, will sie wissen. Nein, ich hatte noch keinen Hunger. Sie grinst. Wir sind uns einig: Kein Frühstück auf nüchternen Magen, das können wir auch in der Stadt erledigen. Außerdem gibt es da richtigen Kaffee. Sie hat nur löslichen im Schrank, und auf den hat sie keine Lust. Oder grünen Tee im Beutel. Auf den habe ich keine Lust. Komm trotzdem mal mit in die Küche, fordert sie mich auf. Hier ist Obst, erklärt sie, mehr davon findest du im Gemüsefach im Kühlschrank. In einer Obstschale neben der Spüle liegen zwei Bananen und einige kleine, rot glänzende Weihnachtsbaumäpfel. Von denen suche ich mir einen aus, halte ihn unter den Wasserhahn und beiße hinein. Der Apfel hat festes, fast weißes Fruchtfleisch, ist sehr saftig und schmeckt fruchtig süß. Hab ich in Deutschland je einen so köstlichen Apfel gegessen?, frag ich mich und spüre bereits jetzt eine Tendenz, die nächsten sechs Wochen in Australien alles besser als in Deutschland zu finden. Bist du auf etwas allergisch?, erkundigt sie sich. Eine Heilpraktikerin hat mir mal gesagt, dass ich angeblich Milchprodukte und Getreide nicht vertrage, aber das scheint jetzt gut zu sein, sag ich. Sie öffnet die Kühlschranktür und zeigt auf ein Tetrapak neben einem anderen mit fettreduzierter Kuhmilch, ich hab auch Sojamilch. Bist du Veganerin?, frag ich beeindruckt. Nein, antwortet sie, so streng bin ich nicht, aber Fisch und Fleisch esse ich nicht. Einzeln hebt sie die Schätze ihres Kühlschranks: australisches Weißbrot, Käse, Diätmargarine, Marmelade, den Beutel mit den restlichen Äpfeln, Möhren, Sojabratlinge. Du brauchst nicht zu fragen, wenn du etwas möchtest, bitte bedien dich einfach, ermuntert sie mich, please help yourself. Gibt es etwas, was du überhaupt nicht isst? Erbsen, entgegne ich ohne nachzudenken und gebe mir keine Mühe, sowohl den Ekel als auch den hysterischen Unterton in meiner Stimme zu verbergen, ich hasse Erbsen!!! Aber sonst esse ich alles. Dann wird es ja einfach mit dem Kochen, wenn du so unkompliziert bist. Sie ist zufrieden mit dem Ergebnis unserer Unterredung. Und ich bin darüber erleichtert, dass ich nicht eines Abends vor einem Stück Kängurufilet sitzen werde.

    Sanft knistert in ihren Händen das Zellophantütchen, sie nestelt am Verschluss. Als sie es offen hat, streckt sie mir das Tütchen hin, hier nimm. Nein, protestiere ich, die sind doch für dich, greife aber trotzdem hinein. Danke. Auch sie nimmt eine Praline, beißt die Hälfte ab, prüft den Geschmack, rollt genießerisch ihre großen Augen, köstlich, befindet sie und steckt sich die zweite Hälfte in den Mund. Gestern am Zoll hab ich richtig geschwitzt und mir Sorgen gemacht, dass die Beamten die Pralinen finden und dann wegschmeißen, und dann hätte ich nichts gehabt, was ich dir aus Deutschland hätte mitbringen können. Sie lacht verächtlich, die hätten die Pralinen ganz sicher nicht weggeschmissen, sondern selber gegessen. Vielen Dank noch mal, sie schmecken wirklich lecker.

    Im Wohnzimmer nimmt sie einen blauen Ordner vom Büfett und schlägt ihn auf. Die erste Seite ist die Kopie eines Textes in koreanischer Sprache. Dieser Ordner ist für die homestay students, erklärt sie, da steht drin, worum eure Gastfamilien euch bitten. Ich bin sehr gespannt, was jetzt kommt. Bitte gib nicht einfach Leuten meine Adresse, die du nicht kennst, fängt sie an aufzuzählen, geh nicht ans Telefon, lass niemanden in meine Wohnung und bring nicht einfach jemanden mit, den ich nicht kenne. Ich spüre ganz deutlich, dass sie einen heftigen inneren Kampf mit sich ficht. Einerseits widerstrebt ihr, mir diese Punkte so direkt sagen zu müssen, andererseits sind sie ihr zu wichtig. Rebecca, erlöse ich sie von ihren Qualen, von allein wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, dein Telefon abzuheben oder jemanden mitzubringen. Erleichtert blättert sie fünf Seiten auf einmal um. Vor uns liegt jetzt ein Busfahrplan. Deine Busse, mit denen du fahren kannst, sind die Linie 339 und werktags auch der Expressbus 39. Beide halten in der Innenstadt nicht weit von deiner Schule, du wirst es ja nachher sehen. Sie schiebt mir den Ordner hin. Hier, du kannst noch ein wenig in ihm lesen, solange ich im Bad bin. Bevor wir das Haus verlassen, drückt sie mir an einem Ring zwei Schlüssel in die Hand, einen grünen leichten aus Aluminium für die Fliegengittertür und einen schwereren aus Messing für die Wohnungstür. Wie damals als Krankenschwester in der Gemeindekrankenpflege habe ich das Gefühl, damit in ihre Privatsphäre einzudringen, obwohl sie ja ausdrücklich gesagt hat, hier sind deine Schlüssel.

    Rebecca lässt mich vorausgehen und schließt erst die Wohnungstür und dann die Fliegengittertür hinter sich ab. Wir steigen die Treppe hinunter und gehen durch die Tiefgarage. Die ist in Wahrheit eine Matrjoschka, in der noch viele kleine Garagen stecken. Die Bushaltestelle liegt unmittelbar vor dem Haus, doch wir gehen noch ungefähr 100 Meter weiter zu einer Art Tante-Emma-Laden. Dort kann man Brot, Butter, Marmelade, Tiefkühlkost, Babywindeln, Klopapier, Chips, Eiscreme, Kaugummi, Zeitungen, Illustrierte, Briefmarken und Busfahrscheine, also eigentlich alles, kaufen, nur keinen Alkohol. Am besten nimmst du ein Red Travel Weekly Ticket, rät Rebecca, damit kannst du nicht nur in der ganzen Stadt herumfahren, sondern auch Züge und Fähren benutzen. Zurück an der Bushaltestelle haben wir noch ein wenig Zeit und setzen uns auf die Bank im Bushäuschen. Vom Busfahren wird mir immer schlecht, warnt sie mich, das war schon so, als ich noch ein Kind war. Und wenn ich beim Autofahren nur kurz auf die Karte schaue, muss ich hinterher…, sie gebraucht den Begriff to pull over. Diese Ansage macht mich ein wenig nervös. Der Bus kommt, wir steigen ein, stempeln unsere Tickets und setzen uns in die Nähe der Tür.

    Bei Sonnenschein und blauem, wolkenlosem Himmel sehe ich, wo ich die nächsten sechs Wochen wohnen werde. Die Clovelly Road kurvt und schlängelt sich über mehrere Kilometer auf und ab parallel zur Küste, ohne dass sich das Meer zeigt, und endet am Centennial Park. Man kann das Meer auch nicht riechen oder rauschen hören, aber das Geschrei der Möwen lässt ahnen, dass man schon sehr nah dran ist. Die Häuser sind leicht gebaut, mehrheitlich aus rotem Backstein. Entweder haben sie Flachdächer oder Dächer, die von allen vier Seiten hin sanft nach oben zulaufen. Schiebefenster mit dünnen Scheiben machen den Eindruck, als würde bereits der Gedanke an einen Fußball ausreichen, sie zu zerbrechen. Strommasten aus verwittertem Holz mit Isolatoren aus Porzellan sehen aus, als gehörten sie zur Kulisse eines Schwarz-Weiß-Films aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit beiden Armen gestikuliert Rebecca vor meinem Gesicht und erklärt: Das Gebäude da links gehört zur University of New South Wales; gerade halten wir am Centennial Park, dort sind viele Teiche und du kannst schön spazieren gehen; wenn du diese Straße in die andere Richtung weiterfährst, kommst du zum Nida, dem National Institute of Dramatic Arts; schau, hier ist die Sydney Girls Highschool, nach der du gefragt hast; jetzt fahren wir am Royal Randwick Racecourse vorbei, nächsten Monat ist da, glaub ich, ein Pferderennen; rechts siehst du von Weitem das Aussie Stadium für Football-Spiele; der Turm, der jetzt vor uns aufragt, ist der Sydney Tower. Kaum hab ich meinen Kopf irgendwo hingedreht, gibt sie mir schon die nächste Information. Meine Halsund Nackenmuskulatur ist von dem langen Flug und einer Nacht auf einem ungewohnten Kopfkissen völlig verspannt. Ich hab vor allem Mühe, meinen Kopf nach rechts zu drehen. Besonders schwer fällt mir das, wenn der Busfahrer beschleunigt. Nach links geht es besser. Sie bittet mich um meinen Stadtplan und zeigt mir die Straße in North Sydney, in der Nicole Kidman wohnt, wenn sie mal in ihrer Heimatstadt ist, was mir gar nicht so recht ist, weil ich befürchte, dass wir fluchtartig den Bus verlassen müssen. In der Nähe der Tür sitzen wir ja bereits. Ist Nicole Kidman bei euch Australiern eigentlich beliebt?, frag ich. Ja, sehr, sagt Rebecca nach kurzem Nachdenken. Also, ich mag sie nicht so gern, sag ich, sie ist so perfekt und unterkühlt. Die flachen Backsteinhäuser haben wir hinter uns gelassen. Mittlerweile sind die Häuser ziemlich hoch geworden. Rechts liegt der Hyde Park, erklärt Rebecca, gegenüber der Bahnstation St. James in der Elizabeth Street ist unsere Haltestelle Market Street. Sie drückt auf den Halteknopf, der Bus hält, wir steigen aus. Auf dem Gehsteig atmet Rebecca ein paarmal tief durch. Der weißblaue Sydney Bus stößt eine schwarze Wolke aus und dröhnt mit seinem schweren Diesel davon. Hinter mir klingen die Verkehrsampeln wie der Soundtrack eines Atari-Spiels. Wenn die Fußgänger rot haben, ertönt ein Geräusch, das sich in etwa so anhört, wie wenn im Fernsehkrimi der Zeitzünder einer Bombe rückwärts zählt. Der Moment, in dem die Ampel auf grün umspringt, klingt wie das Ende eines Computerspiels vom Typ Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die nächste Ebene erreicht. Die Grünphase ist mit dem computeranimierten Gackern eines Huhns im Tempo einer Maschinengewehrsalve unterlegt. Rebecca stupst mich am Arm, lass uns gehen, deine Schule ist nicht weit von hier. In Deutschland sind die Ampeln stumm, sag ich. Sie schaut mich erstaunt an. Wirklich?

    Mein erster Eindruck von Sydney begeistert mich. Trotz oder vielleicht wegen der vielen Hochhäuser, der Nähe zum Meer und der vielen Rasenflächen finde ich die Stadt wunderschön. Sie ist sehr sauber, alle paar Meter stehen Mülleimer auf den Gehsteigen. Obwohl starker Verkehr herrscht, ist es weder so laut, noch so hektisch wie in London. Kein Autofahrer hupt. Der Straßenverkehr in Australien ist viel weniger aggressiv als bei uns in Europa, teil ich Rebecca meine Hypothese mit, ihr gebraucht ja nicht mal eure Hupe. Der Verkehr ist in Australien in den letzten Jahren ganz schön aggressiv geworden, widerspricht sie, aber vielleicht hupt heute ja keiner, weil Sonntag ist. Nach einigen 100 Metern, an der Ecke Market Street und York Street, stehen wir vor einem Yengaturm aus Beton und Glas. Hinter uns befindet sich das Queen Victoria Building. Deine Schule befindet sich im ersten Stock, erklärt sie. Morgen früh sollst du um acht Uhr da sein. Keine Ahnung, was ich mit der Buchungsbestätigung für meinen Sprachkurs gemacht habe, wahrscheinlich ausgedruckt und später durch den Aktenvernichter geschoben. Auf jeden Fall kann ich mich weder erinnern, dass meine Schule in der Market Street, geschweige denn im ersten Stock liegt.

    Wir folgen der Market Street weiter geradeaus in Richtung Darling Harbour und überqueren die Pyrmont Bridge. Das Gebäude, das du jetzt rechts siehst, ist das Australian National Maritime Museum, erklärt Rebecca. Im Hafenbecken unmittelbar davor ankern ein Zerstörer und ein U-Boot. In Harbourside suchen wir in einer Art Einkaufszentrum, in dem zwar einige Geschäfte, aber noch viel mehr Restaurants und Cafés sind, nach einem uns genehmen Café. Wir warten am Tresen und bestellen, Rebecca Cappuccino und ein Stück Kuchen, ich Milchkaffee und ein Käsebrot. Der Kellner fragt mich etwas, aber ich hab noch nicht mal mitbekommen, dass er mit mir gesprochen hat. Ob du das Brot getoastet haben möchtest?, dolmetscht Rebecca. Ja gern, sag ich, bitte toasten Sie es. Drei überdimensional große Bonbongläser am Tresen verwahren Törtchen aus Mürbteig in den Geschmacksrichtungen Zitrone, Mandel und Schokolade. Bei deren Anblick läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Bevor wir wieder gehen, muss ich unbedingt ein Zitronentörtchen kaufen, teil ich Rebecca mit. Sie nickt und grinst. Wir setzen uns unter einen Sonnenschirm auf der Terrasse. Rebeccas Scheibe Kuchen hat die Farbe und Konsistenz von Gewürzkuchen. Sie greift nach dem Stückchen Butter, das dabei liegt, wickelt es aus dem goldfarbenen Papier, teilt mit dem Messer zwei Drittel ab und streicht es auf den Kuchen. Kratzend fährt das Messer über das getoastete Gebäck, die Butter schmilzt augenblicklich und versickert in den Teigwaben. Eigentlich sollte ich gar keine Butter essen, kommentiert sie, der Arzt hat gesagt, dass mein Cholesterinspiegel zu hoch ist. Was für ein Leben würden wir führen, wenn wir uns jede Freude versagen würden?, beginne ich zu philosophieren. Sie nickt. Eben. Beinahe trotzig verstreicht sie auch noch das letzte Stückchen Butter. Warum besuchst du einen Englischkurs?, fragt sie kauend. I want to improve my English, gebe ich Auskunft. Aha. Und was hast du mit deinem improved English vor? Vielleicht hab ich dann mehr Selbstvertrauen, wenn ich im Beruf Englisch sprechen muss, sag ich. Bis jetzt hab ich immer Kollegen gefunden, die das für mich erledigt haben, aber ich fürchte, diese Serie hält nicht ewig. Könntest du meine Fehler verbessern?, bitte ich sie. Das fällt mir schwer, weil ich das unhöflich finde, entgegnet sie. Aber ich hab dich doch jetzt ausdrücklich darum gebeten, widerspreche ich. Trotzdem, findet sie, ich fall dir doch nicht einfach ins Wort.

    Selbst für einen australischen Wintertag ist dieser Tag sehr warm. Ich schwitze in meiner Goretexjacke. Nach unserem Frühstück sitzen wir noch ein wenig unter unserem Schirm, bis wir beschließen zu gehen. Ist hier in der Nähe eine Buchhandlung?, frag ich, ich brauch unbedingt ein Wörterbuch. Und einen Adapter. Sie nickt. Zeig ich dir. Wir haben ungefähr ein Drittel der Pyrmont Bridge passiert, als uns eine Art Gatter zum Stehenbleiben zwingt. Im mittleren Teil der Brücke steht von uns aus gesehen links auf seinen stählernen Stelzen ein Führerhaus, auf dessen Dachfirst zwei kleine Pickelhauben sitzen. In dem Führerhaus sitzen ein älterer Mann und auf seinem Schoß ein kleiner, blonder Junge, vielleicht sind sie Großvater und Enkel. Immer weiter dreht sich der mittlere Teil zur Seite, wir lehnen am Gatter und beobachten andächtig die Zeremonie, bis die Fahrrinne unter der Brücke ganz frei ist. Wir warten, halten nach beiden Seiten Ausschau nach einem Schiff, aber es passiert – nichts. Die Brücke wird wieder geschlossen. Rebecca schüttelt den Kopf und lacht. Seit ich in Sydney lebe, und das tu ich im Prinzip schon mein ganzes Leben lang, hab ich dieses Schauspiel noch nie erlebt. Und dir wird diese Ehre gleich an deinem ersten Tag zuteil.

    Die Ampel vor uns zeigt rot, der Zeitzünder der Fernsehbombe zählt nervenzerfetzend rückwärts. Rebecca dreht ihren Kopf nach rechts, während ich simultan nach links schau. Schnell, sagt sie und greift nach meiner Hand, lass uns rennen, es kommt gerade kein Auto. Orientierungslos, als hätte ich verbundene Augen, stolper ich hinter ihr her; ich vertrau ihr noch nicht ganz, dass bei Linksverkehr die Autos tatsächlich von rechts kommen. Aber lass dich auf keinen Fall von der Polizei erwischen, wenn du bei rot über die Straße gehst, mahnt sie, die versteht in solchen Situationen keinen Spaß, und viel Geld musst du auch noch bezahlen.

    In der George Street betreten wir eine Buchhandlung, die im Erdgeschoss Schreibwarenladen und im ersten Stock Buchladen ist. Auf der Rolltreppe mischt sich der Duft von Postkarten und Radiergummis mit dem Maschinenöl der Rolltreppe, bis es im ersten Stock nur noch nach frisch gedruckten Büchern und abgestandenem Kaffee riecht. Wo haben Sie hier bitte Wörterbücher?, wende ich mich an eine Verkäuferin. Für welche Sprache?, will sie wissen. Deutsch und Englisch. Sie führt mich zu einem Regal, hier. Zwei Wörterbücher kommen infrage. Schließlich entscheide ich mich für das Wörterbuch von Collins, weil es neben den englischen und deutschen Lemmata auf 255 gesonderten, hellblauen Seiten einen kurzen Abriss der deutschen Grammatik enthält. Das amüsiert mich. Außerdem riecht sein Papier besser. Ich bezahle und wir gehen. Jetzt steht deinem improved English ja wirklich nichts mehr im Wege, frotzelt Rebecca.

    Hinter dem Queen Victoria Building vorbei führt sie mich zu Woolworths, einem großen Kaufhaus. Die Rolltreppen sind so schmal, dass wir nicht nebeneinander, sondern nur hintereinander stehen können. Hier müssen wir hin, sagt sie im zweiten Stock. Wir stehen vor mehreren Regalen mit Australien-Devotionalien aller Art: Flaggen, T-Shirts, Schirmmützen, Silberlöffel, Aufkleber, Poster, Bildbände, Koalabären aus Plüsch, Koalabären mit magnetischen Pfoten, Kängurus aus Plüsch, Kugelschreiber, Bleistifte, Schreibtischunterlagen. Zielstrebig geht sie daran vorbei. Die Elektroabteilung befindet sich dahinter. In Plastik eingeschweißt hängen an den Haken des Regals an der Wand Taschenlampen, Batterien, Kabel, Mehrfachsteckdosen und Adapter. Schnell hab ich den richtigen gefunden. An der Kasse treffe ich Rebecca wieder, die gerade ein T-Shirt bezahlt.

    Lass uns allmählich wieder heimfahren, bittet sie, ich hab nachher noch einen Termin. Nach Clovelly zurück fahren die Busse nicht von der Elizabeth Street, sondern von der parallel liegenden Castlereagh Street. Wir haben Glück und brauchen keine zehn Minuten zu warten, bis ein Bus kommt. Ungefähr sieben Haltestellen vor Rebeccas Haus erklimmt der Bus einen Hügel, und wir bekommen einen Panoramablick auf das Meer. Ist das schön, sag ich seufzend, doch meine Freude währt nur kurz. Der Bus zieht um eine Kurve und fährt in eine Senke. Das ist die vorletzte Haltestelle, erklärt Rebecca, als wir aussteigen, danach wendet der Bus unten am Strand und fährt zurück in die Stadt. Ich muss gleich wieder weg, sagt sie, während sie beide Wohnungstüren aufschließt, aber wenn ich zurück bin, fahr ich mit dir und Zeynap zum Abendessen. Sie greift nach einem dicken Schlüsselbund, der auf der Kommode liegt und an dem ein Autoschlüssel hängt. Tschüss, ruft sie über die Schulter.

    In meinem Zimmer knie ich zwischen Bett und Regal auf dem Fußboden vor einer Steckdose und präparier den Adapter aus seiner Plastikverpackung. Neben mir steht mein Laptop. Ohne Probleme gleitet sein Schukostecker dieses Mal in den Adapter. Von dessen drei flachen Stiften steht einer senkrecht, über den die beiden anderen in Form eines umgedrehten Vs angeordnet sind. Die Pole der Steckdose sehen deshalb aus wie der Abdruck eines Möwenfüßchens im nassen Sand. Ich steck den Adapter hinein und schau erwartungsfroh, ob die Kontrolldiode des Netzteils grün aufleuchtet. Das tut sie nicht. Fast hätte ich laut geflucht. Doch dann sehe ich an der Steckdose einen Wippschalter. Auf den drücke ich, und meine Diode beginnt zu leuchten. Zufrieden lehne ich mich ans Bett, strecke meine schmerzenden Knie aus und überlege, was ich tun könnte. Zum Schreiben habe ich keine Lust, und zu etwas anderem auch nicht. Ich bin müde, es muss am Jetlag liegen. Obwohl ich mir vorgenommen hatte bis zum Abend durchzuhalten, lege ich mich für eine Stunde ins Bett und schlafe richtig tief.

    Vor der Tür hör ich einen Schlüsselbund klimpern und Stimmen. Rebecca ist zurückgekommen und hat Zeynap gleich mitgebracht. Hallo, begrüßen wir uns. Wie gehts?, frag ich Zeynap. Gut, sagt sie, ich hab bis vorhin geschlafen, weil ich die ganze Nacht ferngesehen hab. Hat Fabian dir die Fernbedienung freiwillig überlassen?, will ich wissen, während ich in meine Schuhe schlüpfe. Das war überhaupt kein Problem, versichert sie. Wir gehen in die Tiefgarage. Rebecca öffnet das Tor ihrer Garage und fährt ihr Auto raus, einen weißen Hyundai Xcel. In schwarzer Schrift stehen auf den gelben Kennzeichen zuerst drei Buchstaben und dann drei Zahlen; auf dem hinteren steht darunter noch New South Wales. An den Wänden der Garage hat Rebecca Möbel und Kartons aufgestapelt. Aus einem der Kartons ragen drei Bilder mit goldfarbenem Rahmen heraus. Zeynap zieht das Garagentor hinter sich zu und klettert auf den Rücksitz, ich nehm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Straße nach Coogee Beach führt steil nach unten. Ich bin überrascht, wie hügelig die Küste ist. In Coogee Beach fährt Rebecca auf einen Parkplatz direkt an der Strandpromenade. Dafür, dass es ein Sonntagabend in der Nebensaison ist, sind die Restaurants und Bars ziemlich gut besucht. Wir steuern auf einen McDonalds zu. Doch wir nehmen den Seiteneingang, steigen eine Treppe hinauf und betreten eine Bar, die Five O’s heißt. Ich geh hier gerne hin, weil das Essen gut, aber nicht so teuer ist, erklärt Rebecca, außerdem sitzt man hier ganz gemütlich. Neben dem Tresen hängt an der Wand die Speisekarte. Sucht euch etwas aus, ich lade euch ein, ermuntert uns Rebecca. In der Küche bestellt sie, was wir gewählt haben: Für Zeynap ein Steak, für mich einen vegetarischen Burger mit Pommes und für sich selbst Pasta. Unsere Getränke ordern wir am Tresen. Magst du auch ein Glas Rotwein?, fragt mich Rebecca. Ja gern, sag ich und muss grinsen, weil ich mir ja eine Gastmutter gewünscht hatte, die ab und zu ein Glas Rotwein mit mir trinkt. Ein einziger Tisch ist noch frei. Wir stellen unseren Wein und Zeynap ihre Cola auf den Tisch und rutschen auf die Bänke, die mit dunkelrotem Kunstleder bezogen sind. Rebecca stellt noch ein kleines rundes Gerät auf den Tisch. Wo bist du zu Hause?, will ich von Zeynap wissen. Ich komme aus Istanbul, sagt sie, da bin ich geboren und da wohne ich auch. Allein? Nein, entgegnet sie, mit Murat, meinem Freund. Wir haben uns vor acht Jahren beim Studium kennengelernt. Ich hab Architektur studiert und er Maschinenbau. Zeynaps dunkelbraune Augen leuchten so verliebt wie am ersten Tag. Du solltest mal ein Foto von ihm sehen, schaltet sich Rebecca ein, Murat sieht unglaublich gut aus. Das kleine runde Gerät auf unserem Tisch beginnt rot zu blinken und zu vibrieren und zu brummen. Auf einmal sieht es aus wie eine fliegende Untertasse kurz vor dem Start. Schade, dass ich nicht darauf geachtet habe, wie die kleinen grünen Männchen eingestiegen sind, denke ich. Unser Essen ist fertig, sagt Rebecca, rutscht von der Bank und greift nach dem Gerät, wer hilft mir tragen? Zeynap ist schon aufgesprungen, ich. Mit drei großen Tellern kommen die beiden zurück. Zeynaps Steak ist größer als sie selbst, es lappt fast über den Tellerrand. Meinen Burger muss ich mit beiden Händen fassen, damit nicht die Salatblätter, Zwiebelringe und Gurkenscheiben zwischen den beiden Brötchenhälften rausrutschen. Der Gemüsebratling in der Mitte schmeckt nicht schlecht, aber ich muss ihn nicht wieder haben. Ein wenig neidisch schiele ich auf Rebeccas Pasta. Vermisst du Murat?, wende ich mich nach einigen Minuten kauenden Schweigens wieder an Zeynap. Sie lässt ihr Besteck sinken und seufzt. Eigentlich wollten wir vor ein paar Monaten heiraten, es war alles schon vorbereitet. Aber dann hab ich entschieden, dass ich erst noch Englisch lernen muss. Haben Murat und eure Familien nicht ein bisschen komisch geguckt, als du so kurz vor der Hochzeit weg wolltest?, frag ich erstaunt. Nein, warum?, fragt sie noch erstaunter. Jetzt heiraten wir, wenn ich zurück bin, vielleicht im November oder Dezember. Mein Englisch ist noch zu schlecht, ich muss noch ein bisschen hier bleiben. Möchtest du von meiner Pasta probieren?, bietet Rebecca an und schiebt schon ihren Teller in meine Richtung. Nein danke, lehne ich ab, aber hast du Lust auf Pommes? Nein danke, sagt sie und schiebt ein paar Nudeln zusammen, ich bin satt.

    Inzwischen ist es dunkel geworden. Wir gehen kurz an den Strand und dann zurück zum Auto. Vielen Dank für das Abendessen, sag ich. Vielen Dank für das Abendessen, schließt Zeynap sich meiner Rede an. Gern geschehen, entgegnet Rebecca. Wenn du mal spät abends noch in der Innenstadt bist und keine Busse mehr nach Clovelly fahren, erklärt sie mir, kannst du einen Bus nach Coogee Beach nehmen und dann nach Clovelly hochlaufen, es ist nicht weit. Man läuft wirklich nicht so lang, bestätigt Zeynap. Bis wir die Garage erreichen, sind wir mit dem Auto immerhin zehn Minuten unterwegs.

    Zu dritt sitzen wir nebeneinander auf Rebeccas dunkelblauem Sofa und schauen Nachrichten. Wenn die Sprecherin Wörter verwendet, die ich kenne, verstehe ich sie sehr gut. Wenn sie Ausdrücke gebraucht, deren Aussprache ich verstehe, aber nicht deren Bedeutung, denke ich, dass sich so ein funktionaler Analphabet fühlen muss. Habt ihr in Australien grundsätzlich keine Namensschilder neben den Haustüren, so wie in Deutschland?, frag ich Rebecca. Nein, nie, erklärt sie, dafür haben wir ja die Nummern an den Wohnungen. Wir Australier schätzen unsere Privatsphäre. Nach den Nachrichten kommt eine Sportsendung. Im Fußball ist der erste FC Nürnberg deutscher Meister vor dem VfB Stuttgart geworden, vermeldet der Sprecher mit sachlicher Miene. Dass über so einen Scheiß in Australien berichtet wird, stammel ich fassungslos. Die Australier sind vom Sport besessen, erklärt Rebecca ungerührt, die interessieren sich für alles, was im weitesten Sinne damit zu tun hat. An welchem Ort auf dieser Erde das sportliche Ereignis stattgefunden hat, ist nebensächlich. Umso erstaunlicher ist diese Nachricht für mich, als die Australier keine Fußballnation sind, sondern sich lieber um einen Football auf dem Rasen wälzen und balgen. Sonst wird im australischen Fernsehen über Deutschland nur berichtet, wenn gewählt wurde, ein Politiker gestorben oder im Berliner Zoo ein Eisbär geboren und von seiner Mutter verstoßen worden ist.

    Um 21 Uhr liege ich im Bett. Wieder habe ich kalte Füße, aber das Bett ist mir schon deutlich vertrauter. Beim Einschlafen fühlen sich meine Gedanken an wie ein zusammengerechter Laubhaufen, den eine Bö wieder auseinandergewirbelt hat. In Deutschland ist es jetzt 13 Uhr, denke ich, möglicherweise sitzen meine Schwester Kerstin und ihr Mann Markus gerade beim Geburtstagsessen. Rebecca ist wirklich nett, wir verstehen uns sehr gut. Darüber bin ich sehr froh, sie wahrscheinlich auch. Wie wird das morgen in der Schule? In welchen Kurs werde ich eingestuft? Hoffentlich ist der Unterricht spannend. Was guck ich mir morgen in Sydney an? Ich döse ein und habe einen Traum: Ich soll in ein Flugzeug einsteigen. Ich bin die letzte aller Passagiere, finde jedoch immer wieder eine Ausrede, um noch nicht einzusteigen, alle anderen müssen auf mich warten. Irgendwann bin ich dann doch eingestiegen, jedoch fällt mir ein, dass ich meine Bordkarte vergessen habe. Wo auch immer sie ist, ich will sie holen. Strumpfsockig renne ich zurück, komme auf dem glatten Gang jedoch kaum vorwärts. Die Szene wechselt, ich sitze endlich im Flugzeug, es manövriert durch enge Straßen, unter Bögen hindurch, parkenden Autos ausweichend. Um endgültig zur Startbahn zu gelangen, muss es später noch eine enge Straße hinauf kurven. Das Ende der Straße sieht aus wie eine Rampe, von dort hebt es ab. Fast bin ich eingeschlafen, als mich das Gefühl, zur Toilette zu müssen, wieder aufschreckt. Ab diesem Zeitpunkt ist es mit der Ruhe vorbei. Jede Stunde stehe ich mindestens einmal auf und mache mir dabei Gedanken, dass ich an meinem ersten Schultag auf keinen Fall verschlafen und zu spät kommen darf.

    Die erste Woche: Sprachschule, Rotwein, Vollmond

    Montag, 28.5.7

    Um viertel nach sechs klingelt mein kleiner Reisewecker. Fast hätte ich ihn überhört, denn er ist sehr viel leiser als mein Alltagswecker zu Hause. In Deutschland ist im Zweiten vor wenigen Minuten das Heute Journal zu Ende gegangen, und der britische Fernsehkrimi hat begonnen, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt. Es war eine blöde Idee, einen Sprachkurs zu buchen, ich hab überhaupt keine Lust hinzugehen, lautet mein zweiter Gedanke. Auch nach dieser Nacht fühle ich mich gerädert. Ich quäl mich aus dem Bett, trinke vier Gläser Leitungswasser und stell mich unter die Dusche, zieh mich an. Im Kühlschrank finde ich Brot, das aussieht wie Dreikorntoast. Davon bestreiche ich vier Scheiben mit Diätmargarine und belege sie mit Käse. Meine Stimmung ist mittlerweile wesentlich optimistischer, vielleicht wird das alles gar nicht so schlecht mit dem Sprachkurs. Um viertel nach sieben muss ich gehen. Ich knie vor den Türen und zieh meine neuen Sneakers an. Sie sind aus beigefarbenem Leder und haben an den Seiten zwei V-förmige, rosafarbene Stoffstreifen. Rebecca schläft noch. So leise wie möglich versuche ich aus der Wohnung zu schleichen. Das ist mit den beiden Türen gar nicht so einfach. Die Wohnungstür geht nach innen auf und will gleich wieder zufallen, die Fliegengittertür muss ich nach außen aufdrücken, und auch sie will gleich wieder zufallen.

    Aus der sicheren Entfernung der 200 Meter entfernt liegenden nächsten Haltestelle zeigt mir der Expressbus seinen Auspuff und seine Bremslichter. Entweder hat sich Rebecca auf dem Busfahrplan verlesen, oder ich habe sie falsch verstanden, oder der Fahrer steuert seinen Bus nach dem Motto Wer schneller fährt, hat früher Feierabend. Zwei Minuten später kommt der reguläre Linienbus, doch ich bin schon völlig aus dem Konzept und mache mir Sorgen, zu spät zum Sprachtest zu kommen. Die Sitze dieses Busses sind mit Plastik überzogen, außerdem sind die Polster in der Mitte durchgesessen. Jedes Mal, wenn der Bus bremst, rutsche ich nach vorn, nach jeder Linkskurve kleben mein Sitznachbar und ich mit den Oberschenkeln aneinander. Verlegen lächeln wir uns an, und noch verlegener versuchen wir, diskret wieder auseinanderzurutschen. Nicht nur der starke Berufsverkehr macht mich nervös und lässt mich ständig auf die Uhr sehen, sondern auch die Angst, nichts wiederzuerkennen und meine Haltestelle in der Innenstadt zu verpassen.

    Durch die linke zweier Drehtüren betrete ich das Gebäude 31 Market Street. Der Boden in der Eingangshalle ist aus hellem Marmor, die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt. Mit einem der sechs Aufzüge fahre ich in den ersten Stock, wo meine Sprachschule, das Australian College of English (ACE), angesiedelt ist. Die Rezeption des ACE besteht aus einem braunweiß furnierten Tresen, verlängert durch eine Art Schreibtisch. Vor dem Tresen steht eine zierliche Frau in einem schwarz-grau karierten Trägerrock und mit einer kastanienbraunen Pagenfrisur. Hello, I am Sasha, stellt sie sich vor. Oh, Sasha ist eine Frau!, denke ich. In den von Svenja weitergeleiteten E-Mails hatte ich sie für einen Mann gehalten. Ich bin Ines, sag ich, ich hab heute meinen ersten Tag. Sie zeigt auf die Frau, die an dem verlängerten Tisch sitzt. Alles Weitere wird Jessica mit dir regeln. Jessica trägt über ihrer weißen Bluse einen roten Pulli mit V-Ausschnitt. Ihre langen, blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und hochgesteckt. Hi Jessica, begrüße ich sie. Sie drückt mir einen Stapel Papier in die Hand. Du kommst doch aus Deutschland?, vergewissert sie sich, da ist nämlich ein Formular dabei, das wir den Teilnehmern immer in deren Muttersprache aushändigen. Ja, bestätige ich. Du kannst dich

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