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Sei stark!: Roman
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eBook248 Seiten3 Stunden

Sei stark!: Roman

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Über dieses E-Book

Leo lebt in der Schweizer Stadt Biel ein einigermaßen störungsfreies Leben - bis er seinen Job verliert und ihm kurz darauf die geheimnisvolle Anja begegnet. Er will Anja dabei helfen, herauszufinden, von wem sie bedroht wird. Dabei gerät er selbst in große Schwierigkeiten und wird in der Folge von der Polizei wegen Mordverdachts gesucht. Zum ersten Mal in seinem Leben wird Leo nun auch mit seinem inneren Anspruch, immer stark sein zu müssen, konfrontiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum17. Aug. 2012
ISBN9783842391840
Sei stark!: Roman
Autor

Jürg Bolliger

Jürg Bolligers beruflicher Weg führte vom Bankkaufmann über verschiedene Tätigkeiten in einem Handelsunternehmen zum Erwachsenenbildner und Coach. Heute ist er als lehrender und supervidierender Transaktionsanalytiker (TSTA-E) in Erwachsenenbildung, Supervision und Coaching tätig - online und offline. Jürg Bolliger lebt mit seiner Familie in Biel/Bienne CH.

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    Buchvorschau

    Sei stark! - Jürg Bolliger

    29

    1

    Dienstag, 1. November. Der einzige Farbtupfer an diesem Morgen war das orange Gewand des Straßenkehrers. Gleichmäßig schwang er seinen Besen hin und her und hin und her.

    Leo saß am Fenster seiner Wohnung in der Bieler Altstadt. November. Er mochte diesen Monat nicht. Noch nicht Winter und zu grau für den Herbst. Vielleicht lag seine Abneigung auch daran, dass er im November geboren wurde. Sich am Geburtstag feiern zu lassen, war nicht sein Ding. Die Tatsache, dass man sein Älterwerden nicht bremsen kann, ist an diesem Tag jeweils omnipräsent. Überdies ist das Wiegenfest immer ein Anlass, an die Kindheit erinnert zu werden. Und das wollte er nicht.

    Sein Blick war auf den Platz gerichtet, der gerade von Schmutz und Laub befreit wurde. Die Bewegungen des Straßenwischers hatten eine hypnotisierende Wirkung. Hin und her und hin und her. Wie ein Traum erschienen Leo die Ereignisse der letzten Tage.

    Vor einer Woche hatte er es erfahren. Sein Chef erlitt einen Herzinfarkt. Mit 63 Jahren tot. Gerhard Wagner - zwölf Jahre hatte Leo als Architekt bei ihm gearbeitet.

    Als er am letzten Dienstag das Architekturbüro Wagner betrat, war ihm sofort klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Das Gesicht der tränenüberströmten Sekretärin machte einen furchteinflößenden Eindruck. Ohne Begrüßung teilte sie mit, was geschehen war. Ihre Worte wurden von tiefen Schluchzern begleitet. Leo erstarrte. In seinem Inneren öffnete sich eine grenzenlose Leere. Sein Körper fühlte sich taub an, unfähig, eine Regung zu zeigen.

    Wäre die Situation nicht so traurig gewesen, hätte ein heimlicher Beobachter die Szene mit dem ungleichen Paar durchaus belustigend empfinden können. Er - ein Meter neunzig, hagerer Körperbau, dunkle, kurze Haare und schmale Hornbrille - stand bewegungslos da wie ein Denkmal. Sie - beinahe einen halben Meter kleiner, drall, rundes, rosiges Gesicht - heulte wie ein Schlosshund, was die überflüssigen Kilos auf und ab schwabbeln ließ.

    Nach einigen Minuten ließ er die flennende Dora stehen und setzte sich an seinen Arbeitsplatz. Er arbeitete an diesem Tag wie immer. Nicht nur an diesem, auch an den folgenden Tagen. Was sollte er auch anderes tun.

    Am Freitag, Leo wollte gerade Feierabend machen, rief ihn Armin in sein Büro. Leo hatte Armin Münch, den Schwiegersohn seines verstorbenen Chefs, die ganze Woche nicht gesehen. Erst am Freitag gegen Mittag war er aufgetaucht.

    Armins Frau war die Alleinerbin von Wagners Vermögen. Ihre Mutter war schon vor einigen Jahren verstorben. Franziska Münch, Treuhänderin mit eidgenössischem Fachausweis, hatte ihren Job bei einem renommierten Treuhandunternehmen vor kurzem aufgegeben. Sie wollte sich ganz auf ihre politische Karriere konzentrieren. Optisch hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Lucy von den Peanuts, nur war sie grösser und mit einer Halbrandbrille von Giorgio Armani ausgestattet.

    Armin Münch würde das Architekturbüro, das jetzt seiner Frau gehörte, weiterführen. Vermutlich hätte er das Geschäft irgendwann sowieso übernehmen können. In ein paar Jahren, wenn Wagner sich zur Ruhe gesetzt hätte. Jetzt hatte das Schicksal die Geschichte beschleunigt.

    Leo betrat das Büro seines neuen Chefs. Dessen Arbeitsplatz war aufgeräumt - wie immer. Er war ganz anders als sein Schwiegervater. Wagner war ein Chaot. Ordentlichkeit gehörte ganz sicher nicht zu seinen Stärken. Münch war im Gegensatz dazu ein Pedant, wie er im Buche steht: alles an seinem Platz. Heute wirkte er ungewöhnlich nervös. Der Kugelschreiber, der von seinen unruhigen Fingern bearbeitet wurde, war Zeuge davon.

    „Leo, sicher weißt du schon, dass ich das Architekturbüro nach Gerhards Tod übernehmen werde."

    Leo nickte. Vermutlich war das nicht das einzige, das ihm Armin mitteilen wollte.

    „Und ich habe mich entschieden, in Zukunft auf deine Mitarbeit zu verzichten."

    Nein! Damit hatte Leo nicht gerechnet. Klar, er war davon ausgegangen, dass sich einiges ändern würde. Die Kündigung hatte er aber nicht erwartet.

    „Ich werde dich freistellen. Das bedeutet …"

    Leo wusste, was das bedeutet. Er konnte seine Sachen packen und gehen. Er würde zwar noch für drei Monate seinen Lohn erhalten. Doch er und seine Arbeit waren nicht mehr gefragt. Seine begonnenen Projekte würde ein Anderer weiterführen, vermutlich Armin selbst.

    Die große Enttäuschung war Leo nicht anzusehen. Er rückte seine Brille zurecht und unterzeichnete mit unbeweglichem Gesicht das vorbereitete Dokument. Er bestätigte mit seiner Unterschrift, dass er die Kündigung erhalten und die Bedingungen für die Freistellung zur Kenntnis genommen habe.

    Zurück an seinem Arbeitsplatz packte er seine persönlichen Sachen in einen Karton. Viel war es nicht. Es war nicht seine Art, seinen Wirkungsbereich mit Fotos oder Ähnlichem auszuschmücken. Die Pappschachtel unter den Arm geklemmt, machte er sich auf den Heimweg. Den Schlüssel hatte er auf seinen ehemaligen Schreibtisch gelegt. Er hatte Armin heute nicht noch einmal sehen wollen. Sonst war niemand mehr da. So verließ er den Ort, an dem er die letzten zwölf Jahre gewirkt hatte, ohne sich von jemandem zu verabschieden.

    Der Straßenwischer hatte die Arbeit auf dem Platz vor Leos Wohnung beendet. Mit kräftigen Schritten zog er mit Karre und Besen weiter. Leo saß immer noch auf seinem Stuhl am Fenster. Er verweilte oft hier. Heute war das erste Mal, dass er morgens diesen Platz einnahm. Um diese Zeit war er sonst an der Arbeit gewesen.

    Draußen waren überraschend wenig Leute unterwegs. Leo schätzte die meisten, die sich an diesem Morgen über die gepflasterten Gassen bewegten, über sechzig. Keine Mütter mit quengelnden Kindern, keine Jugendlichen, die sich lauthals in Szene setzten. Nur schweigende Menschen mit grauen Kleidern und grauen Haaren, die alle auf ihre Art bedrückt wirkten. Sogar die Tauben, die auf den Dachrinnen saßen, wirkten melancholisch. Die Stimmung in der Altstadt ähnelte derjenigen auf einer Beerdigung.

    Gestern wurde Gerhard Wagner beigesetzt. Leo nahm nur einzelne Fetzen davon auf, was der Pfarrer während der Trauerfeier erzählte. In Gedanken ging er die letzten zwölf Jahre durch. Unzählige Erinnerungen verbanden ihn mit dem Mann, dessen Körper bald in einem hölzernen Kasten in der Erde vergraben würde. War das Trauer, was Leo Stark empfand? Er wusste es nicht. Er wusste nicht, wie sich Trauer anfühlt. Er spürte nur wieder diese unglaubliche Leere.

    Nach dem Begräbnis stand er mit seinen Arbeitskollegen zusammen. Seinen ehemaligen Arbeitskollegen. Eine befremdende Situation. Er sprach nicht über seine Kündigung. Wussten die anderen überhaupt schon davon?

    Dora, Adam und Lukas. Sie alle arbeiteten schon mehrere Jahre bei Gerhard Wagner. Es war nicht Freundschaft, was Leo mit diesen drei Menschen verband, eher Gewohnheit. Er kannte ihre Macken und Eigenarten. Und er hatte ihre positiven Eigenschaften schätzen gelernt. Doch das alles gehörte jetzt der Vergangenheit an. Würde er Dora, Adam und Lukas jemals wieder sehen? Beim Verabschieden verhielt er sich so wie immer. Das „Bis morgen" der anderen überhörte er geflissentlich.

    Leo sah, wie die Briefträgerin von Haus zu Haus ging. Schwerfällig erhob er sich, um sich nach unten zu begeben und den Briefkasten zu leeren. Als er die Haustür öffnete und auf die Straße trat, blickte er in das hübsche Gesicht einer schönen Frau. Das meiste ihrer langen, braunen Haare war trotz dunkelgrüner Wollmütze sichtbar. Das Muttermal an ihrem Kinn verlieh dem Gesicht eine besondere Note. Erschrak sie, als sie ihn sah? Vielleicht bildete Leo sich das aber nur ein.

    Nach einem kurzen Moment des Verharrens verschwand sie um die Ecke. Wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Er schüttelte den Kopf, um damit seinen Überlegungen ein Ende zu setzen. Leo Stark ahnte in diesem Moment nicht, dass sich die Frau mit dem Muttermal nicht zufällig vor dem Haus befand, in dem er wohnte.

    Außer dem Bieler Tagblatt fand er nichts im Briefkasten. Wieder in seiner Wohnung angekommen, setzte er die Espressomaschine in Gang. Mit einer Tasse heißem Kaffee setzte er sich an den Küchentisch. Die Zeitung lag vor ihm. Biel erhielt ein neues Parkhaus, ein Politiker kritisierte seine Parteikollegen und Roger Federer überstand die erste Runde der Swiss Indoors. All das interessierte Leo derzeit wenig. Verächtlich schob er die Zeitung beiseite. Er ließ die leere Kaffeetasse auf dem Tisch stehen und legte sich aufs Bett. Nicht weil er müde war. Es fehlte ihm einfach an einer Idee, was er tun könnte.

    Was wohl sein Vater zur Kündigung sagen würde? Doktor Peter Stark, erfolgreicher und beliebter Arzt, der für seine Praxis und seine Patienten lebte. Leo hatte in seiner Kindheit nicht viel von ihm gehabt. Eigentlich kannte er seinen Vater gar nicht richtig.

    „Ein Stark ist stark." Dieser Satz hörte Leo immer wieder. Dabei verzog sein Vater jeweils den Mund zu einem Lächeln, das eher bedrohlich als freundlich aussah. Der alte Stark liebte das Wortspiel mit dem Familiennamen. Und der kleine Stark nahm es ungefiltert als gewichtige Lebensweisheit auf.

    Einmal als er gerade sechs Jahre alt geworden war, wurde Leo vor dem Haus von einem Hund gebissen. Es war nichts Arges, nicht mal ein richtiger Biss. Seine Wade war nur leicht gerötet. Der Schrecken, den Leo dabei erlebte, war für ihn aber schlimm genug. Er rannte in die Praxis seines Vaters, die sich im Erdgeschoss ihres Wohnhauses befand. Weinend versuchte er seinem Papa zu erzählen was passiert war. Dieser schaute kurz auf das Bein und meinte:

    „Nichts Schlimmes. Weine nicht, ein Stark ist stark."

    Mit einem Lächeln wandte er sich wieder seiner Patientin zu. Leo verließ die Praxis und versuchte sein Weinen zu unterdrücken. Seine Mutter war nicht zu Hause. Das war sie selten. Vormittags arbeitete sie in der Praxis am Empfang. Am Nachmittag war sie meist irgendwo unterwegs - Kleider kaufen, mit ihren Freundinnen Kaffee trinken, einmal in der Woche zum Friseur… Sie war Arztgehilfin, wie man früher sagte. So hatten sich seine Eltern auch kennengelernt. Zusammen in der Praxis gearbeitet, sich in der Praxis nähergekommen und so weiter. Es war als ob sich das ganze Leben der Familie Stark um die Praxis drehte. Leo war Einzelkind und oft alleine.

    Das Erlebnis mit dem Hundebiss war eines von vielen, welche dazu führten, dass Leo den Bezug zu seinen Gefühlen verlor. Er wollte von seinem Vater Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und er wusste, dass er das nur erhalten konnte, wenn er Stärke bewies.

    „Ein Stark ist stark."

    Die Melodie des Handys riss Leo aus seinen Gedanken. Ein Blick auf das Display: sein Vater. Gibt es doch so etwas wie Gedankenübertragung? Leo zögerte. Er wollte nicht mit seinem Vater reden. Nicht jetzt. Und trotzdem setzte er sich nach ein paar Sekunden auf und drückte die Rufannahmetaste.

    „Hallo, Leonhard, wie geht's?"

    Leo hasste es, wenn man ihn Leonhard nannte. Sein Vater war der einzige, der das tat.

    „Es geht gut, danke."

    Es gelang Leo, seiner Stimme einen ruhigen, unauffälligen Klang zu verleihen. Diese Fähigkeit war eines der Resultate, die er in seinem jahrelangen Bestreben, keine Schwäche zu zeigen, erzielt hatte.

    „Ich wollte dir nur sagen, dass ich gestern Jacqueline getroffen habe. Ihr neuer Freund und sie wollen bald heiraten. Und …"

    Es folgte eine künstliche Pause, die der alte Stark einsetzte, wenn er die Spannung erhöhen wollte. Das hatte er schon immer so gemacht. Leo wusste, dass er den eigentlichen Grund des Anrufs jetzt dann gleich erfahren würde.

    „… sie ist schwanger."

    Nach dem Telefongespräch grübelte Leo noch lange darüber nach. Jacqueline von Erlach war schwanger. Seine Ex-Freundin bald verheiratet und Mutter. Er konnte das kaum glauben. Seit sie sich getrennt hatten, war der Kontakt zu ihr recht gut. Sie hörten und sahen sich nicht allzu oft, aber immerhin. Und er wusste, dass sie einen anderen liebt. Damit konnte sich Leo auch gut abfinden. Mit der Schwangerschaft und der geplanten Hochzeit wurde aber alles definitiver und konkreter. War er eifersüchtig?

    Die Altstadtwohnung hatten sie gemeinsam ausgewählt und eingerichtet. Fast zwei Jahre lang lebten sie hier gemeinsam. Irgendwann vor ungefähr einem Jahr packte Jacqueline ihre Koffer und verschwand. Es ginge nicht mehr, teilte sie ihm mit. Leo verstand das nicht. Für ihn lief alles gut. Klar gab es gelegentlich Auseinandersetzungen. Jacqueline war ein sehr emotionaler Mensch. Leo pflegte jeweils ruhig zu bleiben und sich zurückzuziehen, bis sie sich beruhigt hatte. Dieses Verhalten sah er als einzige Möglichkeit, den Streit aufzulösen. Er war derjenige, der auch in turbulenten Situationen einen kühlen Kopf bewahren konnte. Und genau das warf ihm Jacqueline vor.

    „Du bist ein Eisklotz."

    Leo wusste nicht, was er mit diesem Vorwurf anfangen sollte. Und als ihm Jacqueline eines Abends nahelegte, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, verstand er die Welt nicht mehr. Er war nicht bereit, mit einem wildfremden Menschen über sein Seelenleben zu plaudern. Schon gar nicht mit so einem Psychoheini. Psychologen waren für ihn Menschen, die es sich zur Aufgabe machten, Probleme zu suchen, wo keine waren. Ok, psychisch Kranke sind vielleicht froh, wenn jemand da ist, der ihnen zuhört. Aber er, Leo Stark, war gesund.

    Jacqueline hatte kurz zuvor an einem Selbsterfahrungsseminar teilgenommen. Seither ritt sie auf dieser Psychowelle, wie Leo es nannte. Das Seminar hatte durchaus etwas bewirkt. Sie war weniger angriffig. Leo ging aber davon aus, dass diese Welle schon bald abflauen würde.

    „Ich glaube nicht, dass ich einen Psychologen benötige."

    Seine Stimme klang wie gewohnt sachlich.

    „Wenn du nicht willst, ziehe ich aus."

    Ihre Stimme klang ebenso sachlich, was eher überraschend war.

    Leo deklarierte das Ultimatum als leere Drohung. Zwei Tage später musste er feststellen, dass er sich geirrt hatte.

    Mit einem tiefen Seufzen erhob sich Leo, der immer noch auf seinem Bett saß. Er musste jetzt raus aus dieser Wohnung. Lange genug gegrübelt. Die frische Herbstluft würde ihn auf neue Gedanken bringen.

    Über die Burggasse verließ er die Altstadt, schritt durch die Nidaugasse und überquerte den Zentralplatz. Er setzte sich in ein Café an der Bahnhofstrasse. Gerade als ihm die vollschlanke Bedienung seinen Cappuccino hinstellte, sah er sie wieder. Die Frau mit dem Muttermal am Kinn. Sie stand draußen und starrte ihn durch die Glasscheibe an.

    ***

    „Das kann doch nicht so schwierig sein."

    Die weibliche Stimme am Telefon klang bestimmt. Sie deutete an, dass keine Entschuldigungen geduldet würden.

    „Ja, glauben Sie mir, ich werde tun, was ich kann", entgegnete der Mann, der sich nicht gewohnt war, dass Frauen so mit ihm sprachen. Er saß in seinem dunkelblauen Fiat Bravo. Sein Mobiltelefon hielt er in seiner verkrampften linken Hand.

    „Sie wissen, was ich von Ihnen erwarte. Ich vertraue Ihren Fähigkeiten."

    Ihre Stimme klang nun plötzlich zuckersüß.

    „Sie können sich auf mich verlassen."

    Sie hatte Recht. Es konnte tatsächlich nicht so schwierig sein. Er zog den Zündschlüssel aus dem Schloss, stieg aus seinem Wagen und überquerte die Straße. Er betrat das Gebäude durch die rot umrahmte Glastür.

    2

    Normalerweise wendete Leo seinen Blick unauffällig ab, wenn er merkte, dass ihn jemand anstarrte. Diesmal gelang ihm das nicht. Er schaute einen Moment zu lange in die großen, haselnussbraunen Augen, die unbeweglich auf ihn gerichtet waren. Die unbekannte Frau hielt den Blickkontakt, bis sie sich plötzlich mit einer raschen Bewegung zur Tür drehte und das Café betrat. Leo nahm mit Entsetzen wahr, wie sie energisch auf ihn zukam. An seinem Tisch angekommen, machte sie keine Anstalten, sich zu setzen. Sie baute sich vor ihm auf, indem sie sich grösser machte als sie war. Leo wurde es unbehaglich zumute. Wer war diese Frau? Was wollte sie von ihm? Sein Gesicht und die Ruhe, die er ausstrahlte, verrieten nichts von der gewaltigen Irritation, von der er in diesem Moment befallen war.

    „Weshalb tun Sie das?"

    Die Unbekannte schleuderte Leo diese Frage kraftvoll ins Gesicht. Ihre faszinierenden Augen waren nun zu Schlitzen verengt. Die Stimme zitterte genauso wie ihre schlanken Hände.

    Leo war nicht nur verunsichert, die Angelegenheit war ihm auch ausnehmend peinlich. Eine wildfremde Frau machte ihm in der Öffentlichkeit eine Szene. Und er hatte nicht die geringste Ahnung weshalb. Er blieb freundlich:

    „Bitte setzen Sie sich doch."

    Sie folgte seiner Aufforderung, hielt ihren grimmigen Blick unbeirrt auf ihn gerichtet und wiederholte die Frage:

    „Weshalb tun Sie das?"

    „Bitte entschuldigen Sie, ich weiß nicht, wovon …"

    Sie ließ ihn seinen Satz nicht beenden:

    „Was wollen Sie von mir?"

    Leo war nahe daran, seine Beherrschung zu verlieren. Das geschah sonst nie. Fast nie. Auf jeden Fall sehr selten. Das letzte Mal lag schon bald ein Jahr zurück.

    Dora, die Sekretärin, hatte damals Ärger mit ihrem Mann. Immer wieder kam sie an

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