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Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus
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eBook299 Seiten3 Stunden

Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus

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Über dieses E-Book

Mit der Konsumgesellschaft erschafft der Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung, in deren Zentrum nicht mehr die Produktionsstätte steht. Denn während die industriellen Produktionsstätten immer mehr in Billiglohnländer ausgelagert werden, arbeitet die moderne Ökonomie unter Hochdruck mit den Mitteln von Werbung, Produktdesigns und Konsumarchitekturen an der imaginativen Verklärung der Waren. Sie erzeugt eine transzendente Welt, die zur strukturellen und kulturellen Basis des sozialen Lebens wird.

Die Produkte in den westlichen Industrienationen treffen schon lange nicht mehr auf ein hinreichendes Maß natürlicher oder tradierter Bedürfnisse von Individuen, die deren Konsum motivierten. Die Wirtschaft muss daher, will sie nicht in Rezession und Krisen versinken, mit ihren eigenen Mitteln den Grundstein für die Erzeugung der Nachfrage legen: Vor unseren Augen verwandelt sich so der öffentliche Raum in eine Konsumwelt aus Shopping Malls, Brand Stores, Multiplex Kinos, Kaffeebars, Clubs, Restaurantketten und Freizeitparks, und zieht das Leben der Menschen in den Bann von Markenprodukten und Konsumpraktiken.
Die Wirtschaftssoziologie nimmt diese Veränderungen kaum zur Kenntnis, sie verharrt in ihrer Analyse des Kapitalismus aus der Perspektive der Produktionsfaktoren. Dabei hat sich die moderne Ökonomie längst von ihrem einstigen Epizentrum, der Produktionsstätte als »stahlhartem Gehäuse der Hörigkeit«, verabschiedet. Jochen Hirschle analysiert die Umrisse des neu entstandenen Systems und reintegriert es als soziale Tatsache im Sinne Émile Durkheims in die Soziologie.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Dez. 2014
ISBN9783864960185
Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus
Autor

Jochen Hirschle

Jochen Hirschle ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Er hat Soziologie in Köln studiert und am Lehrstuhl für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung promoviert. Zwischen 2001 und 2004 arbeitete er als Projektleiter in der Marktforschung in Frankfurt/M und Aachen.

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    Buchvorschau

    Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus - Jochen Hirschle

    [7] Einleitung: Die Zukunft einer Illusion

    Man braucht nur einen Blick in die Marketing-Literatur neueren Datums zu werfen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie prophetisch der Vergleich der Waren des Kapitalismus mit den Fetischen archaischer Völker war, den Karl Marx einst in Das Kapital anstellte. Zwar ist der Kapitalismus dem Stadium der Fetischisierung der Waren längst entwachsen; allerdings nicht deshalb, weil sich mit dem Fortschritt der Menschheit endgültig eine säkulare, rationale ›Vernunft‹ durchgesetzt hätte. Ganz im Gegenteil, wirken die Rituale der Fetischweihe angesichts der neueren Marketingmaßnahmen wie handzahme Versuche der Objektivierung des Transzendenten. An ihre Stelle sind Techniken getreten, die die Züge einer modernen, hocheffizienten Religion tragen. Sie sind dazu in der Lage, Waren systematisch aus der Welt der Gebrauchswerte in die Welt der Imaginationen zu heben und sie damit in ihrem transzendenten und zugleich säkularen (Verkaufs-)Wert zu steigern (Andree 2010: 9).

    In den neueren Marketing-Lehrbüchern wird jedenfalls kein Geheimnis mehr daraus gemacht, dass sich Produkte auf gesättigten Märkten nicht in erster Linie aufgrund ihres Gebrauchswerts verkaufen (Keller 2003: 2). Um auf dem Markt bestehen zu können, müssen sie darüber hinaus mit Zeichenwerten ausgestattet werden, die auf eine hinter ihnen stehende Bedeutungsebene verweisen. Mit Hilfe einer Kombination von Maßnahmen wie Werbung, Sponsoring und Design werden profane Waren mit bestimmten kulturellen Vorstellungen versehen, so dass schon ihr Anblick beim Kunden eine Kette positiver Assoziationen und Erinnerungen auslöst (Ullrich 2009: 49).

    Die zentrale Problemstellung des Marketings besteht daher vorwiegend darin, die Strategien zu ermitteln, deren sich Unternehmen verschiedener Branchen bedienen sollten, um diese Wirkung – die Umwandlung von Gebrauchswertprodukten in Markenprodukte – zu erzielen: »[W]ir sind wild entschlossen, in unserer Nische, in der es nicht allzu viele Marken gibt, eine solche zu werden, zunächst landesweit – und später weltweit« schreibt Tom Peters, einer der Apologeten eines radikalen Marketingansatzes und empfiehlt: »Das bedeutet, wie im Rausch Geld auszugeben, zum Beispiel für Mar[8] ketingmaterial. ›Wie wild‹ (wenn auch sehr gezielt), mit Geld für Werbung um sich zu werfen. Sicherzustellen, dass jedes Detail unserer Botschaft dem Design (einem durchgängigen Thema/einem bestimmten Look) entspricht. Jede Kleinigkeit ist auf die Etablierung unseres Images ausgerichtet« (Peters 1998: 339).

    Auch bei Martin Lindstrom, einem Vertreter des Neuromarketings hat sich die Praxis des Verkaufs von Waren längst von den Ansätzen der klassischen Wirtschaftstheorie emanzipiert, die noch von rational handelnden, Kosten und Nutzen abwägenden Akteuren ausgehen. In seinem Bestseller Buy-ology argumentiert er, dass »ganz offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Spiritualität und Branding [besteht]« (Lindstrom 2009: 115) und schließt aus Untersuchungen, bei denen die Hirnströme von Konsumenten während der Betrachtung von Produktabbildungen mittels Neuroscannern analysiert wurden, dass »diejenigen Produkte am erfolgreichsten sind, die am meisten einer Religion ähneln«. Er entdeckt nämlich, »dass sich in den Gehirnen der Probanden immer dann, wenn sie starke Marken wahrnahmen – einen iPod, eine Harley-Davidson, einen Ferrari und andere –, die gleichen Aktivitäten abspielten wie beim Anblick religiöser Bilder« (ebd.: 128).

    Dabei verdankt der Kapitalismus doch ursprünglich einer ganz anderen religiösen Tatsache seine Existenz. Max Webers Studie über die Entstehung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik thematisiert jedenfalls nicht die Frage der künstlichen Erzeugung von Warenwerten. Im Zentrum seiner Analyse stand vielmehr die Frage der Steigerung der Produktion. Nicht die Produkte mussten mit imaginären Werten ausgestattet werden, um auf dem Markt bestehen zu können. Der transzendente Wert der Arbeit selbst musste gesteigert werden, so dass die Menschen in der Produktion mehr als nur eine profane ökonomische Tätigkeit erblickten, die sie verrichteten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

    Es bedurfte der religiösen Kodierung des Erwerbslebens, der Herstellung einer Verbindung von Berufserfolg und göttlichem Gnadenstand, »den Gedanken der Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben« kulturell zu verankern (Weber 2000 [1904]: 81), um die Menschen dazu zu bewegen, sich im Beruf zu engagieren und damit die Produktion anzukurbeln. Schließlich hatten die Menschen über Jahrhunderte hinweg dem Erwerbsleben nicht viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als nötig war, um ihr traditionell geprägtes Leben aufrecht zu erhalten: »der Mensch will [9] ›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist« (ebd.: 20).

    Erst mit der religiösen Überhöhung des Berufslebens in Verbindung mit der Anwendung einer asketisch-rationalen Lebensführung, die sich in der Sphäre der Religion selbst ausgebildet hatte (Knoblauch 1999: 42), konnte sich ein Wirtschaftssystem entwickeln, das die Profitmaximierung und die Akkumulation von Kapital zum Leitprinzip erhob.

    Einmal ins Leben gerufen, setzte sich dieses System allerdings schnell über seine religiösen Wurzeln hinweg (Deutschmann 2008: 14). Der Kapitalismus brachte mit der Etablierung des Marktes und der Fabrik seine eigene institutionelle und motivationale Basis hervor, deren Wirksamkeit vorwiegend auf dem Prinzip der Unentrinnbarkeit und weniger auf dem der positiven Motivierung beruhte. Der Fabrikant, der sich den Normen des Wirtschaftssystems nicht beugt, wird »ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird« (Weber 2000 [1904]: 16). Aus der inspirierenden Quelle der Religion, die den Erwerbsprozess anregte, indem sie ihn als Zeichen des Gnadenstandes setzte, war ein »stahlhartes Gehäuse« der Hörigkeit erwachsen, das jegliche Form transzendenter Inspiration im Keim erstickte (ebd.: 153). Der Kapitalismus hatte ein systemisches Eigenleben entwickelt; er breitete sich innerhalb der Gesellschaft aus und unterwarf überall wo er auftrat das Leben seinen eigenen bürokratisch-mechanischen Prinzipien, die keinen Raum für die mystischen Elemente der Religion ließen (Schumpeter 1972: 208).

    Doch war dieses System selbst nur eine vorübergehende Erscheinung. Mit zunehmender Rationalisierung der Produktionsverfahren, ihrer technischen Reife und der Institutionalisierung der Instanzen, die die Individuen zum strebsamen Arbeiten motivierten, trat ein anderes Problem in den Vordergrund. Dies lag allerdings nicht im Bereich der Produktion begründet. Allen Unkenrufen zum Trotz blieben die Dynamik und die Innovationsfähigkeit des Kapitalismus ungebrochen. Die Waren strömten in immer größerer Vielfalt und Menge aus den Fabriken.

    Stattdessen drängte ein Problem an die Oberfläche, welches seiner Natur nach konsumatorischer Art war und sich bereits in den wirtschaftlichen Krisen der Jahrhundertwende angedeutet hatte (Galbraith 1969: 63ff.). Natürlich [10] führte der Produktionsprozess, indem er die meisten Menschen zu abhängig Beschäftigten machte und Geld zum zentralen Tauschmedium erhob, das Problem der Steigerung des Konsums zum Teil von allein einer Lösung zu. Von nun an mussten die Menschen ja die Waren, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse brauchten, über den Markt beziehen. Die bäurische Lebensweise, die Selbstversorgung und der Tauschhandel waren durch die Industrialisierung selbst weggefegt worden (Fulcher 2007: 26). Allerdings waren dem Konsum dennoch klare Grenzen gesetzt. Zunächst durch die geringen Löhne; aber davon abgesehen vor allem durch die Bedürfnisse selbst. Wie sollte es angesichts gesättigter Grundbedürfnisse der Bevölkerungen der westlichen Industrienationen gelingen, den Absatz der Waren im gleichen Tempo zu steigern wie die Produktion? Welche Motivation sollten die Individuen haben, immer mehr Geld für Waren und Dienstleistungen auszugeben, deren Relevanz für den Bestand ihrer Existenz im Grunde unerheblich war? Dem Kapitalismus drohte auf ganz andere Weise als seine schärfsten Kritiker voraussahen, der Exitus. Wenn sich die Individuen für die Waren, die das kapitalistische Wirtschaftssystem produzierte, nicht mehr interessierten, würde die Wirtschaft dauerhaft stagnieren (Galbraith 1975: 120f., 1972: 224).

    Der frühe Kapitalismus, der gegenüber dem Menschen ein kaltes, stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit ausgebildet hatte, musste sich wandeln, um nicht in Rezession und Krisen zu versinken. Von nun an war er nämlich wieder auf die Menschen angewiesen: Diesmal nicht mehr in erster Linie als Produktions-, sondern als Konsumtionskräfte. Das Wirtschaftssystem war plötzlich dazu gezwungen, die Menschen zu verführen, ihre Phantasie zu beflügeln und sie für seine Produkte zu gewinnen, statt sie nur als Arbeitskräfte im Prozess der Produktion auszubeuten.

    Aber auch diese Aufgabe erfüllte der Kapitalismus als »lernendes System« mit Bravour (Willke 2006: 8). Nachdem er sich von seiner religiösen Wurzel befreit hatte, begann er jene Organe selbst auszubilden, die dazu in der Lage waren, den religiösen Effekt der imaginativen Überhöhung zu produzieren. Ähnlich wie die protestantischen Sekten den beruflichen Erfolg mit der Idee des Gnadenstandes verbanden und dadurch das Berufsleben religiös aufwerteten, begann der Kapitalismus profane Waren durch Assoziationsverfahren mit imaginativen Werten auszustatten, um ihre Attraktivität zu erhöhen.

    [11] Im Vergleich zur traditionellen Religion tat er dies allerdings, wie es seine Art ist, auf systematisch rational-effiziente Weise und bildete dazu die »Institution des Marketings« aus (Sheehan 2010: 32). Ihre Aufgabe war es fortan, Waren von ihrem profanen Gebrauchswertdasein zu befreien und sie in die Welt kultureller Imaginationen zu befördern.

    Nicht umsonst lehrt die Marketing-Literatur deshalb, dass eine erfolgreiche Werbekampagne den Wert eines Produkts auf dem Markt steigert, indem sie es mit bestimmten positiv kodierten kulturellen Ideen, Bildern, Personen oder Geschichten assoziiert (O'Shaughnessy & O'Shaughnessy 2002: 533). Die Marke wird in dem Moment Realität, in dem der Konsument nicht in erster Linie einen Gebrauchsgegenstand, sondern ein »Fiktionswertversprechen« kauft (Ullrich 2009: 47). Wer im Supermarkt eine Flasche Jack Daniel’s in den Einkaufswagen packt, erwirbt nicht nur eine beliebige Spirituose. Er kauft den daran geketteten Mythos des amerikanischen Westernhelden, der seine Individualität, Freiheit und Männlichkeit in einer von Verordnungen, Bürokratien und Gleichstellungsbeauftragten beherrschten Welt verteidigt (Holt 2006: 371). Die Marke macht die Ware zum Zeichenträger, der die auf sie – durch Werbung – projizierten Bedeutungen widerspiegelt (Baudrillard 1988a: 13). Auch wenn diese Wertebene bloß mental, als Assoziationskette in den Gedächtnissen der Konsumenten existiert (Keller 2001: 14), so stellt sie doch ein zentrales Motiv für das anhaltende Verlangen nach Konsumprodukten im modernen Kapitalismus dar. Die ökonomische Moderne verdankt, mit anderen Worten, ihre Existenz der mythologischen Kodierung der Warenwerte.

    Auf der anderen Seite lässt sich die Wirkungsweise des modernen Kapitalismus nicht auf diese Form der abstrakt, imaginativen Überhöhung von Waren mit Hilfe von Marketingmaßnahmen reduzieren. Auch die Imaginationen bedürfen einer praktisch-aktiven Komponente, mit deren Hilfe sie in die alltägliche Lebenswelt der Individuen vordringen. Ähnlich wie die Vorstellung von den Göttern ohne die religiösen Riten, in denen sie gefeiert werden, verblassen würde (Durkheim 1994 [1912]: 467), so sind auch die werbeinduzierten Imaginationen auf ihre Belebung innerhalb der sozialen Praxis angewiesen (Arvidsson 2005: 244). Der Konsum beruht nicht nur auf einer gegenstandslosen Illusion. Er verfügt über eine Vielzahl praktisch-sozialer Mechanismen, mit deren Hilfe er sich in die gesellschaftliche Praxis der Individuen einschreibt.

    [12] 1) Zum einen dienen die Produkte aufgrund ihrer Zeichenwerte als soziale Marker. Mit Hilfe ihres symbolischen Werts bringen Individuen ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder kulturellen Strömungen zum Ausdruck. Für Pierre Bourdieu, der den Marxschen Klassenkampf in modernen Industriegesellschaften von der ökonomischen auf die kulturelle Ebene verlagert sieht (Bourdieu 1996: 17f.), erfüllen sie in erster Linie distinktive Funktion: »Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum« (Bourdieu 1996: 107). Die Angehörigen der herrschenden Klassenfraktionen setzen die symbolischen Werte von Waren und Konsumstilen ein, um ihre gehobene Stellung im sozialstrukturellen Gefüge zu signalisieren. Die ständige Variation der Konsummuster geht dabei auf die Tatsache zurück, dass die sozialen Aufsteiger den Stil der herrschenden Klassen zu imitieren trachten, so dass jene gezwungen sind, auf neue symbolische Ausdrucksformen zurückgreifen, um sich weiterhin von den unteren Klassen abgrenzen zu können (McCracken 1990: 93f.). Auf diese Weise entsteht eine Dynamik, die im Bereich des Konsums zu einem permanenten Austausch von Produkten führt und im Bereich der Produktion entsprechend zu einer Ankurbelung der Nachfrage nach neuen bzw. kulturell neu kodierten Waren und Dienstleistungen.

    Ob die Verwendung der symbolischen Werte von Produkten sich lediglich auf den Aspekt der impliziten oder expliziten Distinktion zur Statusregulierung, wie Bourdieu vermutet, beschränkt, sei dahingestellt. Der Gebrauch von Waren zu sozialen Zwecken (Bourdieu 1996: 173), der bereits in archaischen Gesellschaften praktiziert wurde (Polanyi 1978; Levi-Strauss 1981; Douglas & Isherwood 1996), ist jedenfalls durch die Möglichkeiten der industriellen Produktion aber auch durch die Einflussnahme des Marketings auf die kulturelle Wertladung der Waren, intensiviert und verfeinert worden. Mit Hilfe von Werbung und Sponsoring werden schließlich nicht nur arbiträre kulturelle Inhalte an Produkte gebunden. Vielmehr werden Waren systematisch für die Verwendung im sozialen Prozess zugeschnitten. Ob als explizite Statussymbole oder als Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Strömung: Die Attraktivität vieler Marken (ob Bekleidungsartikel, Automobile oder Uhren) lässt sich nur im Kontext ihres Werts für den sozialen Tausch verstehen (Holt & Cameron 2010: 84ff.; du Gay [13] 1996: 82; Hellmann 2011: 218f.). Eine Ware, deren kultureller Wert gesellschaftlich nicht anerkannt wird, ist im sozialen Tausch und damit auch auf dem ökonomischen Markt, meist wertlos.

    2) Über diesen reinen Zeichenwert der Waren hinaus sind viele Produkte für den sozialen Prozess aber auch von strukturell-praktischer Bedeutung. Der Markt stellt nicht nur Zeichenträger und Zeichen für den symbolischen Tausch zur Verfügung. Er dringt in die Kernmatrix des sozialen Lebens auch deswegen ein, weil er die basalen Gelegenheiten für die Durchführung sozialer Tauschhandlungen restrukturiert und vereinnahmt. Er stellt Infrastrukturen zur Verfügung, die soziales Handeln erst ermöglichen, indem sie die Menschen räumlich zusammenführen und Anreize für soziale Interaktionen schaffen. Die Attraktivität von Clubs, Discos, Kinos, Restaurants, Museen, Urlaubsressorts, Freizeitparks oder Fitnesscenter, selbst von Shopping Malls und Einkaufsbezirken lässt sich nur vor dem Hintergrund ihrer sozialen Funktion erklären. Sie führen Menschen zusammen und regen soziale Interaktionen an. Gleichzeitig verschmelzen sie den ökonomischen Akt des Kaufs mit dem sozialen Akt der Herstellung und Reproduktion sozialer Beziehungen. Ihre räumliche Ausbreitung sorgt deshalb dafür, dass die sozialen und kulturellen Praktiken der Individuen zunehmend mit der Tätigung von Kaufakten einhergehen.

    Darüber hinaus verbinden sie die kulturellen Imaginationen mit konkreten Anlässen zum sozialen Handeln und machen sie dadurch auf der Ebene der Praxis erst erfahrbar. Die aufwendige architektonische und dekorative Ausgestaltung der Kaufstätten verfolgt in erster Linie den Zweck, den imaginativen Wert der Waren für den Kunden schon beim Kauf erlebbar zu machen (Klein 2005: 159). Produkte werden nicht mehr auf nüchternen Regalen zum Kauf angeboten. Sie werden in eine anregende Erlebniswelt eingebettet. Aufwendige Treppenkonstruktionen, Emporen, Springbrunnen, Lichtspiele, Cafés, Restaurants, Galerien, Laufstege und Bühnen rahmen und verbinden die Kaufstätten. Solche Maßnahmen verstärken nicht nur abermals die Dimension des Zeichenwerts der Waren und rücken den Gebrauchswert in den Hintergrund. Darüber hinaus werten sie den profanen ökonomische Akt des Kaufs von Waren imaginativ auf: Shopping wird zur Freizeitaktivität (Kotler et al. 2011: 46).

    3) Gleichzeitig werden aber auch die traditionellen Freizeitaktivitäten konsumatorisch überformt. Der Markt stellt den Konsumenten eine Bandbreite [14] kommodifizierter Aktivitätsschemata und Infrastrukturen zur Verfügung, innerhalb derer sie ihr soziales Leben ausgestalten können. Dazu gehören die Urlaubsressorts, Freizeitparks und Erlebnisbäder, in denen die Familien ihre freie Zeit verbringen, genauso wie die Diskotheken, Clubs und Bars, in denen die Jugendlichen sich treffen, flirten und verlieben. Wenn Eva Illouz in ihrer Studie über den Konsum der Romantik (2007) feststellt, dass Liebespaare romantisches Erleben zunehmend mit den Waren und Dienstleistungsangeboten des Marktes in Verbindung bringen – d.h. mit Urlaubsreisen, Restaurantbesuchen und dem Konsum teurer Produkte – dann ist dies nicht nur ein Zeichen dafür, dass der Markt die kulturellen Imaginationen prägt; sondern vor allem dafür, dass er die materiellen Vermittler zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe die Individuen ihr soziales Leben ausgestalten.

    Der Kapitalismus hat mit dem Konsum ein komplexes System ins Leben gerufen, das nicht nur auf der Beflügelung der Phantasie durch die Werbung beruht. Darüber hinaus ist es in der Lage, die konsumatorischen Praktiken systematisch in die soziale Lebenswelt einzuschreiben (Cova 1997: 310). Der Erfolg des Systems basiert auf seiner Fähigkeit, übergreifende positive Imaginationen zu erzeugen und sie punktuell, auf der Ebene der lokallebensweltlichen Praxis der Individuen, zu inszenieren.

    Diese ökonomische Wendung sozialer Praktiken erweist sich dabei aber nicht nur für die Wirtschaft als lukrativer Glücksgriff, insofern sich von nun an praktisch mit jedem sozialen Tauschakt potentiell Profit erzielen lässt. Indem der soziale Tausch über das System des Konsums vermittelt wird, entsteht auch eine neue Form der Gesellschaft. Diese verdankt ihre Integration, wenn man darunter die praktische Fähigkeit zur dauerhaften Reproduktion sozialer Beziehungen und Interaktionen versteht, den durch das System des Konsums zur Verfügung gestellten Katalysatoren. In der Konsumgesellschaft werden ein Großteil der sozialen Beziehungen über ökonomisch kodierte Interaktionsschemata reproduziert und damit der tiefenstrukturelle Zusammenhalt der Gesellschaft von der Versorgung mit Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturen abhängig.

    [15] Ziel und Anlage der Untersuchung

    Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, den Prozess der Entstehung der Konsumgesellschaft aus wirtschaftssoziologischer Perspektive nachzuzeichnen und in einen breiteren soziologischen Theoriekontext zu integrieren. Es geht also nicht vorwiegend darum, eine Untersuchung über die spezifische Entwicklung des Konsumverhaltens der Individuen in den westlichen Industrienationen vorzulegen. Vielmehr soll erstens analytisch geprüft werden, inwiefern die Entstehung der Konsumgesellschaft als logische Fortschreibung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verstehen ist. Und zweitens gilt es, die sozialen und kulturellen Konsequenzen aufzuspüren, die diese Entwicklung nach sich zieht.

    Der Konsum wird dabei nicht nur als Artefakt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern auch als soziale, gesellschaftskonstituierende Größe untersucht. Diese Untersuchung knüpft einerseits an Karl Polanyi (1978 [1944]) an, insofern sie im Kern davon ausgeht, dass jede Wirtschaftsordnung nicht außerhalb der Gesellschaft existieren kann. Die Anlage der Ökonomie prägt notwendigerweise das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Auf der anderen Seite steht jedoch Emile Durkheims religionssoziologischer Ansatz Pate. Der durchdringende Erfolg des Konsums, so die Argumentation, ist als soziales Phänomen zu verstehen. Er geht nicht auf eine blinde, hedonistische Veranlagung der Individuen zurück, sondern basiert in erster Linie auf der Tatsache, dass er soziale Funktionen erfüllt; das heißt, ähnlich wie die Religion, als Vermittler und Katalysator des sozialen Prozesses fungiert.

    Um dieses Ziel zu verfolgen, ist die Untersuchung in drei Kapitel unterteilt. Die ersten beiden erfüllen die Aufgabe, klassische und neuere Ansätze sozialen und ökonomischen Wandels zu skizzieren und sie für den analytischen Teil fruchtbar zu machen. Das dritte Kapitel stellt den Hauptteil der Untersuchung dar. Hier wird das Konzept des ›transzendenten Kapitalismus‹ abgeleitet und ausgeführt.

    Im ersten Teil sollen die klassischen Ansätze zur Entwicklung der Gesellschaft zu Wort kommen, die als Modernisierungstheorien gelten können: Dazu zählen die Ansätze von Auguste Comte, Herbert Spencer, Emile Durkheim, Max Weber und Talcott Parsons. Auch wenn diese Ansätze teils verschiedene Anliegen verfolgen und unterschiedle Methoden zum Einsatz bringen, so stellen sie doch das klassische Repertoire der Soziologie im Hin[16] blick auf die Analyse sozialen Wandels zur Verfügung. Ihre Skizzierung verfolgt deshalb zwei Ziele: Zum einen sollen die in vielen neueren Ansätzen latent vorhandenen Annahmen über Wandlungserscheinungen expliziert werden. Auf diese Weise lässt sich, zweitens, der Ansatz, der in der vorliegenden Arbeit skizziert werden soll, präziser in die klassische Literatur einordnen aber auch von ihr abgrenzen.

    Das zweite Kapitel

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