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Der dritte Weg der Päpste: Die Wirtschaftsideen des Vatikans
Der dritte Weg der Päpste: Die Wirtschaftsideen des Vatikans
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eBook378 Seiten6 Stunden

Der dritte Weg der Päpste: Die Wirtschaftsideen des Vatikans

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Über dieses E-Book

Ökonomie und Kirche das ist kein Widerspruch. Klöster häuften früher durch geschicktes Handeln ein gewaltiges Vermögen an. Heute finden religiöse Werte durch den Corporate-Governance-Kodex Eingang in die Geschäftswelt und christliche Parteien prägen die Wirtschaftspolitik.

Auf das Spannungsfeld zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gehen Päpste durch Sozialenzykliken seit dem 19. Jahrhundert ein: Leo XIII. forderte 1891 Lohngerechtigkeit sowie Arbeitnehmerrechte und gab damit der Sozialpolitik in Europa Aufwind. Weitere Sozialenzykliken folgten, wenn das freie Spiel der Marktkräfte zu sozialen Problemen führte. 2009 verwies Benedikt XVI. nach der Finanzkrise darauf, dass Globalisierung von einer Kultur der Liebe beseelt sein müsse. Damit brachte er die Globalisierung mit Verteilungsgerechtigkeit und Gemeinwohl in Zusammenhang.

Auf die Sozialenzykliken der Päpste gehen die Autoren im Detail ein: Sie beleuchten den geschichtlichen Kontext ebenso wie deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik. So skizzieren sie einen dritten Weg der Päpste ein alternatives Wirtschaftskonzept zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
SpracheDeutsch
HerausgeberUVK Verlag
Erscheinungsdatum9. Dez. 2015
ISBN9783864969263
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    Buchvorschau

    Der dritte Weg der Päpste - Hans Frambach

    Die Autoren

    Dr. Hans Frambach ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomische Theorie an der Universität Wuppertal. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des ökonomischen Denkens. Dr. Daniel Eissrich hat seine Forschungsschwerpunkte im Bereich Wirtschaftssysteme und deren Institutionen. Er ist Bundesbankdirektor im Zentralbereich IT der Deutschen Bundesbank in Frankfurt am Main.

    Inhalt

    Prolog – Kirche und Wirtschaft

    I. Die Arbeiterfrage – zwischen Kapitalismus und Sozialismus

    Die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

    Die Entstehung von Rerum novarum

    Rerum novarum – Papst Leo XIII. 1891

    II. Chaos und der Wunsch nach Ordnung

    Die Folgen des Ersten Weltkriegs

    Die Folgen des Ersten Weltkriegs in Deutschland

    Die Entstehung des Sozialstaats

    Volkswirtschaftslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts

    Die Entstehung von Quadragesimo anno

    Zur Wirkung von Rerum novarum

    Quadragesimo anno – Papst Pius XI. 1931

    III. Wohlfahrtsstaat, Marktwirtschaft, globale Herausforderungen

    Die Zeit nach Quadragesimo anno

    Wohlfahrtsstaat und soziale Sicherheit

    Volkswirtschaftslehre nach dem Zweiten Weltkrieg

    Die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft

    Wirtschaftswunder, soziale Marktwirtschaft und katholische Soziallehre

    Rückblick auf die Pfingstbotschaft – Papst Pius XII. 1941

    Mater et magistra – Papst Johannes XXIII. 1961

    Pacem in terris – Papst Johannes XXIII. 1963

    Populorum progressio – Papst Paul VI. 1967

    IV. Wirtschaftssysteme in der Krise

    Die Stagnation der 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts

    Die Sozialpolitik der BRD seit den 1970er-Jahren

    Labo-rem exercens – Papst Johannes Paul II. 1981

    Sollicitudo rei socialis – Papst Johannes Paul II. 1987

    Centesimus annus – Papst Johannes Paul II. 1991

    V. Soziale Ungerechtigkeit und ökologische Verantwortung

    Die globale Finanzkrise

    Caritas in veritate – Papst Benedikt XVI. 2009 202

    Laudato si’ – Papst Franziskus 2015

    Epilog – Der dritte Weg der Päpste

    Anmerkungen

    Literatur

    Personenverzeichnis

    Sachverzeichnis

    Prolog – Kirche und Wirtschaft

    Seit ihrem Bestehen steht die Kirche mit der Ökonomie in enger Beziehung. Kirche, verstanden als Glaubensgemeinschaft und soziale Organisationsform von Religionen, ist in höchst unterschiedlicher Weise mit wirtschaftlichem Handeln und seinen Wirkungen verwoben. Ein einfacher Grund hierfür liegt in der Bereitstellung der materiellen Lebensgrundlagen der Menschen durch die Ökonomie. In der Ökonomie wird organisiert, welche Güter und Dienstleistungen wann und wo in welchen Mengen produziert werden, unter welchen Umständen Menschen arbeiten. Sie bestimmt maßgeblich die Verteilung der erwirtschafteten Einkommen und Vermögen und ist ausschlaggebend dafür, ob Menschen ausreichend versorgt sind, Mangelzustände erleiden oder sich gar in sozialen Missständen befinden. Sind Löhne fair, Arbeitsplätze sicher, oder werden Arbeitnehmer ausgebeutet, Rohstoffe ohne Rücksichtnahme auf die Interessen zukünftiger Generationen abgebaut, wird ergo die Umwelt übermäßig belastet? Diese und andere Fragen betreffen die Kirche unmittelbar. Es sind Fragen zu den Grundlagen des ökonomischen Handelns, die das Gemeinsame und Gemeinschaftliche, das Aufeinanderangewiesensein der Menschen in ihrem Tun und die dem Handeln zugrunde liegenden Werte und Werthaltungen berühren. Ebenso sind Fragen nach dem Sinn des Handelns angesprochen.

    Auch über die direkte Teilnahme war und ist die Kirche unmittelbar mit dem Wirtschaftsprozess verbunden. Die mittelalterlichen Klöster hatten zentrale wirtschaftliche Bedeutung für viele Regionen Europas, und auch heute noch ist die Kirche selbst ein mächtiges Unternehmen – man denke etwa an die Institution Kirche als „mächtigsten Konzern Deutschlands".¹ Aber spätestens seit dem Armutsstreit im Franziskanerorden, der die Kirche ab dem 13. Jahrhundert beschäftigte, betrachtete sie ihre wirtschaftliche Rolle selbstkritisch. 800 Jahre später wünscht sich der neue Papst Franziskus in der Begründung seiner Namenswahl „eine arme Kirche für die Armen.² Sein neuer Finanzchef (und damit auch Chef der Vatikanbank „Istituto per le Opere di Religione, IOR), Kardinal George Pell, erinnerte in einem Interview dagegen an ein Zitat Margaret Thatchers: „Wenn der barmherzige Samariter nicht auch ein bisschen Kapitalist gewesen wäre, hätte er auch nicht helfen können."³ Und seit dem 31. Oktober 1517, an dem Martin Luther seine Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (Propositiones wider das Ablas) – die 95 Thesen – an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg gesandt hat (dass Luther persönlich die 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll, wurde von Philipp Melanchthon überliefert, ist aber historisch nicht eindeutig bewiesen), ist das Thema Geld und Kirche aus der Diskussion um das Verhältnis von Kirche und Ökonomie nicht mehr wegzudenken.

    Heutzutage sind überzeichnende, bis ins Extreme gesteigerte Darstellungen über das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit anzutreffen. Da stehen auf der einen Seite die großen Themen der Kirche, das Elend in dieser Welt anbetreffend, präsentiert in Form von Szenarien des Massensterbens als Folge von Hungersnöten, Krankheit und Kriegen, die Schreckensbilder sterbender Kinder, die täglich durch die Medien geistern und für viele Zuschauer aufgrund der Gewöhnung den Schrecken verloren haben. Im Hintergrund steht der latente Vorwurf, was die Kirche, aber auch Politiker und Ökonomen leisten, um Abhilfe zu schaffen, sei zu wenig. Auf der anderen Seite entsteht ein Eindruck von den Themen, mit denen sich die Kirche anscheinend tatsächlich beschäftigt. Beispiele sind Debatten um die Integration christlicher Werte in die Corporate-Governance-Struktur von Unternehmen, die Forderung, dass Politiker ehrlicher und an christlichen Maßstäben orientiert agieren sollten, die Frage, ob politische Parteien, die das Wort christlich im Namen tragen oder sich in ihren Programmen auf christliche Werte berufen, diesem Anspruch tatsächlich gerecht werden. Auch die durch Kirchenaustritte verstärkten Finanzierungsprobleme hiesiger Kirchenverwaltungen, weil Veränderungen des Erhebungsverfahrens der Kirchensteuer die subjektive Zumutbarkeitsschwelle einzelner Mitglieder überschritten haben, geben Anlass genug, die Titelseiten mancher Tageszeitungen zu schmücken und das Programm mancher Talkshows zu füllen. Ebenso lassen Diskussionen um die Vatikanbank, die Prachtbauten oder die Verschwendungssucht einzelner Würdenträger das eigentliche Anliegen der Kirche fast nebensächlich erscheinen. An Problemen, unbeantworteten Fragen und Vorwürfen, die sich aus dem Verhältnis von Ökonomie und Kirche ergeben, mangelt es jedenfalls nicht, ebenso wenig an Empfehlungen, guten Ratschlägen, Mahnungen und Meinungen, wie die Dinge besser zu gestalten seien.

    In der breiten öffentlichen Diskussion scheint die Auseinandersetzung mit den das Verhältnis von Ökonomie und Kirche berührenden Grundfragen in den Hintergrund getreten zu sein. Gemeinsamer Ausgangspunkt des Engagements jener, die sich zu solchen Grundfragen äußern, war und ist in der Regel die Kritik an bestehenden, vielfach als ungleich und ungerecht empfundenen sozialen und ökonomischen Zuständen. Diese Zustände werden häufig auf die egoistische und rücksichtslose Verfolgung privater Interessen, die Bildung und Ausnutzung von Machtpotenzialen sowie die mangelnde Fähigkeit der politischen Systeme, diesen Bestrebungen Einhalt zu gebieten, zurückgeführt. Mit anderen Worten, die Philosophie vom freien Spiel der Kräfte, vom Laufenlassen der Dinge, vom laissez-faire, laissez-passer, trägt Mitschuld.

    Mit dem Zeitalter der Industrialisierung, das von England ausgehend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt, nimmt die seitdem das ökonomische Denken prägende klassische Nationalökonomie ihren Anfang. Mit dem Plädoyer für das Laissez-faire-System und dem Abbau all der unzähligen Vorschriften, Einschränkungen und Hindernisse, die in den Wirtschaftssystemen vor dem Industrialisierungszeitalter bestanden, geht eine bis dahin nicht vorstellbare Entfaltung wirtschaftlicher Leistungskraft einher. Die Staaten Westeuropas verzeichnen als Folge der Entfesselung der physischen und geistigen Arbeitskraft der Individuen ungeheure Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung. Freie Berufswahl und -ausübung, Befreiung des Grund und Bodens von vormals bestehenden Lasten, Gewinnung von Anbau- und Weideflächen, neue Erfindungen in der Industrie, Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, Ausweitung des Handels und der Gewerbe etc. Führen zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und des materiellen Wohlstands. Voraussetzung dafür sind technischer Fortschritt, voranschreitende systematische Ausnutzung der Arbeitsteilung und eine vermehrte Ansammlung von Produktionskapital. Theoretisch scheint dies durch die klassische ökonomische Lehre gerechtfertigt zu sein, die, so manche teilweise auch übersteigerte Kritik, einen ungezügelten Egoismus geradezu propagiert.

    Die Kehrseite dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklung besteht in einem gesteigerten Konkurrenzkampf zwischen und innerhalb aller am ökonomischen Prozess beteiligten Gruppen mit der Folge von Monopolisierungsprozessen, die oftmals zur Zerstörung von Kleinbetrieben führen. Der Wettbewerb macht auch vor den Arbeitnehmern nicht halt. Im Kampf um die zum Lebenserwerb notwendigen Arbeitsplätze treten diese, rechtlich frei, unabhängig und unorganisiert, gegeneinander an. Vielfach zwingt die Situation am Arbeitsmarkt die Arbeitnehmer dazu, jede gebotene Arbeitsgelegenheit, selbst unter kaum zumutbaren Bedingungen, einzugehen. Tritt Arbeitslosigkeit ein, so sind Verarmung und Verelendung die meist unmittelbare Folge. Übermäßige, unregelmäßige, gesundheitsgefährdende Tätigkeiten, Nacht- und Kinderarbeit sind an der Tagesordnung, die Repressalien und Willkür, denen sich die Arbeitskräfte ausgesetzt sehen, enorm. Beispiele sind Erpressung durch die Aufseher, Auszahlung in Erzeugnissen des Unternehmens, Lohnabzüge, unregelmäßige Auszahlung oder Vorenthaltung der Löhne, Geldstrafen, Beschlagnahmung der Löhne, übermäßige Abzüge für Miete und Arbeitsgerät, Kündigung der Wohnung etc. Die Kritik an der Situation der Arbeiterschaft ist jedenfalls umfangreich und breit gefächert.

    Die Diskussion der positiven und negativen Seiten des freien Spiels der Kräfte wird über die klassische Nationalökonomik hinausgehend weitergeführt und oftmals auf die sich diametral entgegenstehenden Entwürfe von liberalistischem Kapitalismus einerseits und marxistischem Sozialismus andererseits hin zugespitzt, eine Polarisierung von ökonomischer Theoriebildung der Extreme, die bis zum heutigen Tag Gültigkeit beanspruchen kann. Karl Marx jedenfalls entwickelt mit seiner Theorie des Sozialismus einen der schärfsten und scharfsinnigsten Gegenentwürfe zur kapitalistischen Wirtschaftstheorie, der zudem durch seine theoretische Fundierung späterer Formen des real existierenden Sozialismus nachhaltige Wirkung entfaltet. Selbst im Brockhaus des 19. Jahrhunderts wird gegenüber den Selbstheilungskräften des Marktes kritisch angemerkt, dass die schrankenlose Freiheit, unbeschränkte und organisatorische Freiheit der Arbeit zur modernen Gefahr der Zentralisation von Kapital, Geist und Arbeit mit den negativen sozialen Strukturproblemen geführt habe. Infolgedessen sei das freie System grundsätzlich beizubehalten, jedoch bedürfe es erheblicher eingreifender Unterstützungsmaßnahmen.

    Die Suche nach dritten Wegen, Vermittlungsversuchen zwischen den beiden Extremen von Kapitalismus und Sozialismus, lässt nicht lange auf sich warten. Viel später, im 20. Jahrhundert, stehen in Deutschland an der Spitze dieses Suchprozesses solch gewichtige Konzeptionen wie der Ordoliberalismus und die soziale Marktwirtschaft. Deren Vertreter setzen sich ausnahmslos und intensiv mit den positiven und negativen Seiten des Kapitalismus und des Sozialismus auseinander und gelangen zu unterschiedlichen Lösungen. Diesen Lösungen ist das Primat eines grundsätzlich auf die Vorteile der Marktkräfte bauenden kapitalistischen Systems gemein, wobei dem Sozialismus unterliegende Grundprinzipien der Eingrenzung der schädlichen Wirkungen des Kapitalismus dienen.

    Auf den Punkt gebracht: Dem Kapitalismus wird einerseits, aufgrund des freien Spiels der Kräfte, das Potenzial ungeheurer wirtschaftlicher Leistungsentfaltung zugetraut, andererseits werden jedoch die großen Gefahren zur Kenntnis genommen, die wegen mangelnder kollektiver Kontrolle entstehen können (für beide Seiten liegt große empirische Evidenz vor). Beim Sozialismus verhält es sich umgekehrt: Auf der einen Seite können durch zentrale staatliche Planung soziale Härten und Ungleichheiten besser gesteuert und ausgeglichen werden, auf der anderen Seite aber ist der Sozialismus faktisch nicht in der Lage, eine adäquate wirtschaftliche Versorgung der Gesellschaften zu sichern, von der Einschränkung der individuellen Freiheiten ganz zu schweigen.

    Das Sichkümmern um die von den Schattenseiten der Ökonomie Betroffenen, die in Not und Elend leben, zählt seit jeher zu den vordersten Aufgaben kirchlichen Engagements. So wenden sich bereits früh prominente Kirchenväter sozialen Fragestellungen zu, wie Augustinus im 5. Jahrhundert n. C.,⁶ die Scholastiker der Dominikaner-und Franziskanerorden im 13. Jahrhundert mit herausragenden Vertretern wie Thomas von Aquin oder in Form der sich gegen überhöhte Zinsen und Wucher richtenden, 1745 von Papst Benedikt XIV. erlassenen Enzyklika Vix pervenit (Über die Erhebung von Zinsen).

    * Wissen: Enzykliken

    Der Begriff Enzyklika stammt aus dem Griechischen, εvкύкλιoς (sprich: enkyklios), und bedeutet im Kreis laufend. Eine Enzyklika ist ein päpstliches Rundschreiben in Form eines Lehrschreibens, das sich ursprünglich nur an die Bischöfe des Erdkreises, später teilweise an die ganze Kirche, alle Geistlichen, Gläubigen und schließlich sogar an alle Menschen guten Willens richtet und in grundsätzlicher und verbindlicher Weise Stellung zu theologischen, pastoralen oder auch gesellschaftlich relevanten Fragen bezieht. Eine Enzyklika kann aus wenigen Zeilen bestehen, aber auch den Umfang eines ganzen Buchs umfassen. Enzykliken sind Ausdruck der obersten Lehrgewalt des Papstes. Sie versuchen Antworten auf Fragen der Zeit zu geben.

    Der Beginn einer spezifischen und systematischen Form der Stellungnahme zu sozialen Problemen vonseiten der katholischen Kirche erfolgt mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und fällt damit in eine für die Kirche bzw. den Vatikan schwierige Zeit des Umbruchs und der Veränderung, denn die Schattenseiten der Industrialisierung betreffen ganz Europa und nehmen auch Italien nicht aus. Nahezu über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg, spätestens aber seit der Zeit des Risorgimentos, der nationalen Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung, die 1815 nach der Aufteilung Europas im Anschluss an den Wiener Kongress einsetzt und mit der militärischen Einnahme des Kirchenstaats 1870 endet, bildet die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage ein zentrales gesellschaftliches Anliegen in Italien. Auch die Gründung des Königreichs Italien 1861 ändert nichts an der teilweise desolaten Versorgungslage der Bevölkerung und dem bestehenden Nord-Süd-Konflikt, der den reicheren industrialisierten Norden Italiens von dem stärker landwirtschaftlich strukturierten ärmeren Süden distanziert.

    Italien und der Kirchenstaat

    Der Kirchenstaat, jeglicher weltlicher Machtinstrumente beraubt und im Garantiegesetz (Gesetz des Italienischen Staates über die Vorrechte des Papstes und des Heiligen Stuhls und über das Verhältnis des Staates zur Kirche) von 1871 auf das Gebiet Vatikan, Lateran und päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo reduziert, steht in harter Auseinandersetzung mit der Regierung. Papst Pius IX. und seine direkten Nachfolger, Papst Leo XIII. und Papst Pius X., erkennen weder die gesetzlichen Regelungen für den Vatikan an noch das neue Italien und lehnen jede offizielle diplomatische Zusammenarbeit mit den Regierenden ab. Papst Pius IX. geht 1874 qua päpstlicher Bulle Non expedit sogar so weit, italienischen Katholiken die Teilnahme an demokratischen Wahlen in Italien zu verbieten. Angesichts der wachsenden Verarmung, insbesondere von Bauern und Landarbeitern aus dem Süden, aber auch der katastrophalen Arbeitsbedingungen in den industrialisierten Gebieten erhalten sozialrevolutionäre, anarchistische und sozialistische Bewegungen großen Zulauf.

    Die Kirche selbst beharrt vor allem in der Zeit Pius IX. auf antimodernen Positionen, mit denen Machtanspruch und Traditionen der Kirche bewahrt werden sollen. Höhepunkte dieser Entwicklung sind die Veröffentlichung des Syllabus errorum 1864, eine Sammlung von 80 Thesen, die vom Papst als falsch verworfen werden (u. a. werden der Sozialismus und Liberalismus abgelehnt), und das I. Vatikanische Konzil 1870. Mit politischem Kalkül und Gespür versucht im Anschluss Papst Leo XIII., die Kirche für Themen der modernen Gesellschaft zu öffnen, ohne dabei einen großen Konflikt mit den starken konservativen Kräften in der Kirche riskieren zu müssen.

    Im Jahr 1891 erscheint eine eigens die missliche Situation der Arbeiterschaft dieser Zeit thematisierende Enzyklika, Rerum novarum (Über die neuen Dinge), die u. a. dazu führt, dass Papst Leo XIII. fortan als der Arbeiterpapst bezeichnet wird. Rerum novarum steht am Anfang einer Reihe von Sozialenzykliken und Apostolischen Rundschreiben, deren Inhalte sich auf soziale und ökonomische Probleme beziehen.

    Der ersten Sozialenzyklika geht eine lang anhaltende Diskussion um die Vorzüge und Nachteile kapitalistisch und sozialistisch organisierter Wirtschaftssysteme voraus, was sich übrigens auch in späteren Enzykliken wiederholt, sodass die Positionierung der Kirche – zumindest aus der Sicht der ökonomischen Theorie – als ein Mittelweg aufgefasst werden kann. Die Kirche legt bei der Bewertung sozialer und ökonomischer Zustände Kriterien zugrunde, die über den Katalog rein politisch und ökonomisch motivierter Maßstäbe, wie sie in der ökonomischen Theorie verwendet werden, hinausreichen. Auf diese Weise erhalten die Sozialenzykliken einen eigenständigen Charakter, auf dessen Betonung die Kirche großen Wert legt.

    * Wissen: Sozialenzykliken

    Rerum novarum (1891), Papst Leo XIII. Im Vordergrund steht die Arbeiterfrage als Kern der sozialen Frage, der Frage des 19. Jahrhunderts schlechthin.

    In Singulari quadam (1912) entscheidet Papst Pius X., dass die Mitgliedschaft katholischer Arbeiter in interkonfessionellen Gewerkschaften geduldet werden kann.

    Quadragesimo anno (1931), Papst Pius XI. Wie der Name bereits ausdrückt, wird sie „im 40. Jahr" nach Erscheinen von Rerum novarum im Lichte der damaligen Weltwirtschaftskrise veröffentlicht.

    Nur einige Monate später erscheint unter Pius XI. die kurze Enzyklika Nova impendet (1931), in der er das durch die Finanzkrise hervorgerufene Elend anspricht. Gleichzeitig ruft er zur karitativen Hilfe auf und verurteilt die Aufrüstung, die Finanzmittel verschwende, die dringend für soziale Hilfen notwendig wären.

    Mit Non abbiamo bisogno, 1931 in italienischer Sprache verfasst, Mit brennender Sorge, 1937 in deutscher Sprache verfasst, und Divini redemptoris von 1937 erlässt Papst Pius XI. drei Enzykliken, in denen das Wirken der katholischen Kirche unter Maßgabe grundlegender sozialpolitischer Vorstellungen eines christlich geprägten Staatsund Sozialwesens thematisiert wird. Man bedenke, dass dies vor dem Hintergrund des Faschismus in Italien, des Nationalsozialismus in Deutschland und großer Furcht vor einer zunehmenden Einflussnahme einer europaweit vitalen kommunistischen Bewegung geschah.

    Pfingstbotschaft (1941). Papst Pius XII. hat selbst keine explizite Sozialenzyklika veröffentlicht. Der Gesamtheit seiner Beiträge zu sozialen Themen, der sozialen Summe, wird jedoch ein ähnlicher Stellenwert wie dem einer Sozialenzyklika beigemessen. Die Bedeutung der Pfingstbotschaft findet sich vielfach herausgehoben.

    Mater et magistra (1961). Papst Johannes XXIII. Mutter und Lehrmeisterin entsteht zum 70-jährigen Jubiläum von Rerum novarum und ist der Arbeitersituation, dieses Mal jedoch unter Berücksichtigung globaler Zusammenhänge, gewidmet. Grundlegende Leitlinien der Soziallehre wie die Achtung und Wahrung der Menschen- und Freiheitsrechte finden sich in der ebenfalls von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1963 veröffentlichten Enzyklika Pacem in terris (Über den Frieden auf Erden).

    In Populorum progressio (1967), Papst Paul VI., wird die Entwicklung der Völker unter dem Aspekt der Einhaltung einer durch christliche Werte zu gestaltenden Sozialordnung analysiert.

    In seinem Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens von 1971, das nach Form und Inhalt oftmals einer Enzyklika gleichgestellt wird und 80 Jahre nach Rerum novarum erscheint, nimmt Papst Paul VI. zu verschiedens ten politischen und sozialen Herausforderungen Stellung. Ein weiteres Apostolisches Schreiben, Evangelii nuntiandi von 1975, thematisiert vor allem die soziale Verantwortung im Rahmen des Evangelisierungsauftrags.

    Laborem exercens (1981), Papst Johannes Paul II. 90 Jahre nach Rerum novarum wird wieder die Arbeit als Daseinsmerkmal des Menschen und als zentrale Ausdrucksform einer neuen Dimension der sozialen Frage in den Mittelpunkt einer Enzyklika gestellt. In Sollicitudo rei socialis (Besorgnis über gesellschaftliche Angelegenheiten), von 1987, wird die katholische Soziallehre unter besonderer Beachtung der dramatischen Verteilungsunterschiede zwischen den Gesellschaften der nördlichen und südlichen Hemisphäre weiterentwickelt, und es wird über Missverständnisse und Fehlinterpretationen selbstkritisch nachgedacht. Nach 100 Jahren Rerum novarum erscheint Papst Johannes Pauls II. dritte Sozialenzyklika, Centesimus annus (1991), die vor allem den Umbruch in den ehemals kommunistischen Staaten Europas thematisiert.

    Inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrise veröffentlicht Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 die Sozialenzyklika, Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit). Hier wird angesichts der Krise nicht nur auf die dringende Bedeutung eines Umdenkens im ökonomischen Handeln eingegangen, sondern darüber hinaus dazu aufgefordert, die Chancen der Globalisierung richtig zu nutzen.

    Papst Franziskus hat 2015 die Enzyklika Laudato si’ veröffentlicht, in deren Mittelpunkt erstmalig das Thema Umwelt in all seinen Facetten steht, weshalb vielfach auch von einer Umweltenzyklika die Rede ist. Gleich den Sozialenzykliken zuvor werden Problemfelder wie der Weltfriede, die weltweit existierende soziale Ungerechtigkeit, die Besinnung der Menschen auf wahre Werte und die Schwachpunkte des vorherrschenden Wirtschaftssystems angesprochen. Bereits in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (2013) finden sich viele kritische Anmerkungen zur ökonomischen und sozialen Situation in der Welt.

    Die Sozialenzykliken nehmen für sich keine Unfehlbarkeit in Anspruch, es wird sogar betont, dass die Kirche keinerlei technische Lösungen anzubieten habe und weit vom Anspruch entfernt sei, sich in staatliche Belange einzumischen.⁹ Die Kirche „legt ja keine wirtschaftlichen und politischen Systeme oder Programme vor, noch zieht sie die einen den anderen vor, wenn nur die Würde des Menschen richtig geachtet und gefördert wird".¹⁰ Das Ziel der Sozialenzykliken wird in der Verkündigung sozialer Wahrheiten gesehen, deren Missachtung zum freien Spiel privater Interessen und Logiken der Macht mit den bekannten zersetzenden Folgen für die Gesellschaft führe.¹¹ Der Zusammenhang mit ökonomischen Kernfeldern erschließt sich hieraus unmittelbar.

    I. Die Arbeiterfrage – zwischen Kapitalismus und Sozialismus

    Die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

    Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch den Prozess der Industrialisierung mit den Merkmalen der systematischen Arbeitsteilung, Technisierung und Mechanisierung, Rationalisierung und steigenden Kapitalintensität. Hinzu kommen die Ausweitung der Infrastruktur durch die Erschließung neuer Verkehrswege, Verbesserungen in der Übermittlung von Nachrichten sowie die Ausweitung des Finanzwesens, begleitet von Entwicklungen der Verstädterung und einem hohen Anstieg der Bevölkerungszahlen, der vor allem auf eine verbesserte Ernährungssituation, Fortschritte in der Medizin und eine Reduktion der Sterblichkeit von Kindern und Säuglingen zurückgeführt werden kann. So steigt in Deutschland die Bevölkerung von etwa 22,4 Millionen im Jahr 1816 auf über 49,4 Millionen Menschen im Jahr 1890, in Frankreich von über 29,1 Millionen im Jahr 1811 auf über 38,1 Millionen im Jahr 1891 und in Großbritannien einschließlich Wales und Schottland, im gleichen Zeitraum wie Frankreich, von fast 12 Millionen auf über 33 Millionen.¹² In Deutschland ist ein Anstieg des Volkseinkommens von 13 Milliarden Mark im Jahr 1867 auf 48 Milliarden Mark im Jahr 1913 zu verzeichnen, der einer Steigerung des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens von 380 auf 780 Mark entspricht.¹³ Mit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt eine Periode der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Deutschland England deutlich überholt – in England hat sich die industrielle Produktion zwischen 1870 und 1913 verdoppelt, in Deutschland versechsfacht „aus einem Nachfolgerland wird ein Pionierland".¹⁴

    Mit dem Ausbau der wirtschaftlichen Leistungskraft in den Industrieländern vollzieht sich eine weitere Verschärfung in der Einkommensverteilung. Weit über 90 Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland gehören im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den untersten Einkommensstufen, während die Bezieher höherer Einkommen (über 6.000 Mark pro Jahr) bei etwa einem Prozent liegen.¹⁵ Die Struktur der Arbeiterschaft wandelt sich stark. Aus den arbeitenden Klassen der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem aus Landarbeitern, Tagelöhnern, Gesinde, Dienstboten, Heimarbeitern, Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern zusammensetzen, bildet sich die Arbeiterschaft oder das Proletariat als Klasse, in der die Industrie-und Fabrikarbeiter, jedoch neu binnendifferenziert, die prägende Gruppe darstellen.¹⁶ Arbeiter sind vor allem die Kinder von Eltern aus den handarbeitenden Klassen, namentlich der Landarbeiter, städtischen Tagelöhner, Heimarbeiter und Fabrikarbeiter, womit Geburt und Erbe zum zentralen Moment dessen werden, was einen Arbeiter zum Arbeiter bestimmt.¹⁷ Die Arbeit bildet den Mittelpunkt des Lebens eines Arbeiters und ist zunehmend den Mechanismen des Marktes, den Kräften von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ausgesetzt, die die Lebenssituation beherrschen. Dort, wo Arbeit verloren geht, Arbeitslosigkeit eintritt, ist dies oft gleichbedeutend mit dem Erleiden von materieller Not – jede wirtschaftliche Krise kann sich schnell in eine Existenzkrise wandeln.

    Die Arbeit in jener Zeit ist, im Gegensatz zu heute,

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