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Kein dickes Fell: Autobiografie
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eBook669 Seiten9 Stunden

Kein dickes Fell: Autobiografie

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Über dieses E-Book

autobiografischer Roman, der das Leben einer deutschen Frau von 1963 bis 2023 beschreibt
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Juni 2024
ISBN9783759781055
Kein dickes Fell: Autobiografie
Autor

Maria Alamri

Die Autorin wird in Hildesheim als fünftes von sechs Kindern geboren. Sie lebt seit 1984 in Hamburg, wo sie Literaturwissenschaften studiert, geheiratet und Mutter von drei Kindern geworden ist. Sie arbeitet als Familienhelferin für Menschen mit Migrationsgeschichte.

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    Buchvorschau

    Kein dickes Fell - Maria Alamri

    Die Autorin:

    MARIA ALAMRI, geboren 1963 in Hildesheim als fünftes von sechs Kindern, lebt seit 1984 in Hamburg, wo sie Literaturwissenschaften studierte. Sie spricht vier Fremdsprachen fließend und arbeitet als ambulante Familienhelferin für Menschen mit Migrationsgeschichte.

    Für meine herzallerliebste Mutter, die mich schon zu einem Zeitpunkt, als ich selbst noch nicht an mich glaubte, als Schriftstellerin (und ihre schreibende Nachfolgerin) sah.

    INHALTSVERZEICHNIS

    Vorwort

    Teil I

    Glückskind & hässliches Entlein

    Pöttchen-kämpfe

    Brillenschlange

    Römisch Roulette

    Die Scham ist vorbei

    Geburtstags- und andere Freuden

    Strafmassnahmen

    Simon

    Schnopfen Husten Und Vieber

    Die schönen Künste

    Mein Pappi – mein Held

    Schiebewurst & Schweineschwänzchen

    Die grosse Schwester

    Dickie

    Der schöne Jo

    Gutenachtgeschichten

    Musik, Musik, Musik

    Klavierstunden

    Die beste Puppenmutti der Welt

    Der Affenfelsen

    Wie und wo alles Begann

    Der beste Hamsterer aller Zeiten

    Bäumchen, Bäumchen wechsel dich

    Besuch aus England

    Verlockende Banane

    Zurück nach Mesenheim

    Gogo

    Das hässliche Entlein mausert sich

    Jugendfreuden in der Provinz

    Traumberuf

    Willi

    Fish Fingers & Mashed Potatoes

    Toby

    Teil II

    Der Rhythmus, wo jeder mit muss

    Ousmane

    Ernüchterung

    Lustig ist das Studentenleben

    Die WG des Grauens

    Portugal

    Marokko

    Alles neu macht der Mai

    Sendepause

    Lockruf des Westens

    Neustart

    Der Laden

    Im Hafen der Ehe

    Am Rande des Vulkans

    A Star is Born

    Kinderwunsch

    Khartum

    Sanaa

    Wachset und mehret euch!

    Aller guten Dinge sind drei

    Zahngeschichten

    Samy

    Kinder fordern uns heraus

    Konkurrierende Erziehungskonzepte

    Umzug nach Ottensen

    Sonja

    Der Traum vom grossen Geld

    Die Baustellen mehren sich

    Hure oder Heilige

    Ich wollte nie eine graue Maus sein

    Lächeln gegen die Verzweiflung

    Heilende Hände

    Verbindendes & Trennendes

    Der schreckliche Sonntag

    Meine Haut rebelliert

    An die Arbeit

    Neues Projekt

    2007

    Enthüllungen am Osterfeuer

    Master of Desaster

    Laurentia, liebe Laurentia mein

    Die Macht des Geldes

    Diagnose & zwei Reisen

    Das Ende

    Die Trauerfeier

    Teil III

    Das Leben danach

    Lustige Witwe

    Herr Wellmann

    Aus dem Nest geschubst

    Schreiben

    Leben als Single

    Halbwaise

    Neue Liebe – neue Wohnung

    Ehevertrag ohne Ehe

    Versöhnung

    Abschied von meiner Mutter

    Aufbruchstimmung

    Und was ist mit der Liebe?

    Danksagung

    Hamburg, September 2023

    VORWORT

    Im Gegensatz zu den meisten Menschen meiner Generation bin ich mit vielen Geschwistern aufgewachsen. Wir waren nicht rekordverdächtig viele ‒ nur sechs ‒ aber immerhin. Es macht einen großen Unterschied, ob man als Teil einer größeren Gruppe von Kindern aufwächst, oder ob man sich die Aufmerksamkeit der Eltern mit nur wenigen Geschwistern oder niemandem teilen muss. In meinem Leben habe ich sowohl die Freuden als auch die Schattenseiten dieser verdichteten Familienkonstellation erfahren. Ich tat mich lange schwer damit, meinen Platz in der Familie und im Leben zu finden, vor allem einen Platz, der meinen Fähigkeiten entsprach. Heutzutage pflegen die jungen Leute einander mit den Worten Was ist bei dir schiefgelaufen? anzupflaumen, eine flapsige Redensart, mit der sie eigentlich nur ihre Irritation zum Ausdruck bringen wollen, ohne eine Antwort auf die Frage zu erwarten. Nun beschäftige ich mich als reifere Frau, die auf ihr Leben zurückblickt, genau mit dieser Frage: Was ist eigentlich bei mir schiefgelaufen? Gab es ein bestimmtes Ereignis, das alles veränderte, eine bestimmte genetische Besonderheit oder eine folgenschwere Fehlentscheidung, die dazu führte, dass mein Weg anstatt geradewegs an sonnenbeschienenen Blumenwiesen entlang viel zu lange durch ziemlich unwegsames, unüberschaubares Gelände führte? Eine Nachbarin sagte mal über mich, dass ich ein Mensch sei, dem es gelänge, durch Schlamm zu waten, ohne dabei schmutzig zu werden. Was es damit auf sich hat, wird im Laufe der Lektüre dieses Buches hoffentlich deutlich werden. Ich bin davon überzeugt, dass ich den Schutzfilm, der verhinderte, dass sich der Schlamm dauerhaft an mir festsetzen konnte, zum großen Teil meiner Familie verdanke.

    Als ich vor über zwei Jahren begann, dieses Buch zu schreiben, befanden wir uns mitten in der Corona-Pandemie und ich steckte zusätzlich in einer persönlichen Krise. Das Schreiben hat mir geholfen, diese zu überwinden. Die Geschichte, die ich erzähle, beruht auf meinen Erfahrungen und ist nur an wenigen Stellen ‒ meist Ortsbezeichnungen- und Beschreibungen oder Eigennamen ‒ verfremdet worden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind keineswegs zufällig. Was das Thema Gendern angeht, entschied ich mich dazu, es nach Lust und Laune zu betreiben ‒ nur dann, wenn es mir vom Bauchgefühl her richtig vorkam und die Lesbarkeit gewahrt blieb.

    TEIL I

    GLÜCKSKIND & HÄSSLICHES ENTLEIN

    Meine Mutter hatte die Angewohnheit, jede Woche einen Brief an ihre Mutter, genannt Ami, auf ihrer Schreibmaschine zu tippen, immer mit Durchschlag, damit sie eine Kopie davon für sich behalten konnte. Langes Telefonieren war damals noch viel zu teuer. So sammelte sich ‒ den hohen Fernsprechgebühren sei Dank ‒ mit den Jahren viel schriftliches Material an. Um ihren Kindern eine Freude zu bereiten, markierte sie alle Stellen, in denen über ein bestimmtes Kind berichtet wurde, mit einer bestimmten Farbe und fügte sie wieder zu einer eigenen Sammlung zusammen. Zeitweise haben ich oder mein kleiner Bruder ihr dabei geholfen. Die überreichte sie uns dann zu einem besonderen Anlass und las dann meistens auch etwas daraus vor. Ich empfand dies immer ‒ auch in meinem Fall ‒ als Zeichen ihrer Liebe und besonderen Zuwendung. Immerhin hatte sie sich viel Arbeit damit gemacht, und das meiste war amüsant und interessant, weil sich schon erstaunlich früh zeigte, wo unsere individuellen Stärken und Schwächen lagen. Doch als ich später einmal die für mich erstellte Sammlung von Briefauszügen in meiner Therapie-Gruppe vorstellte, hagelte es Kritik von den anderen Teilnehmern für die Tatsache, dass meine Mutter die Briefauszüge nicht diskret behandelt hatte. Es tat mir weh, dass ihre gut gemeinte Geste so kritisch gesehen wurde. Aber inzwischen kann ich besser verstehen, warum nicht alle die auch manchmal peinlichen und schmerzlichen Beschreibungen in ihren Briefen als etwas ansahen, was man in einer Gruppe vorlesen sollte. Dieses Beispiel zeigt, wie wenig ausgeprägt in meiner Familie das Feingefühl für intime und private Themen war. Auch ich musste erst mühsam lernen, was ich weitererzählen darf und was nicht, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise. Früher verplapperte ich mich regelmäßig und hüpfte fröhlich von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen. Ich bilde mir ein, Geheimnisse inzwischen besser hüten zu können und nicht mehr in jedes glitschige Gefäß hineinzuspringen, das auf meinem Weg herumsteht.

    An Ami: November 1963

    Nach langer Voranmeldung (Donnerstagabend) ist heute (Samstag) um 4 1/2 Uhr nach kurzem Endspurt unsere kleine Maria angekommen (am 25.04. sollte sie noch Elisabeth heißen). Ihr Name ist heute ungleich seltener als Corinna oder Carmen.

    Maria wog 6 ½ Pfund. Sie hat also ein ganz normales Gewicht. Daß sie zu früh kam, sah man nur daran, daß sie ganz weiß von Fett verklebt war. Aber das ist nun auch weg, und ihre Farbe wechselt von dunklem ziegelrot bis gelbrosa. Sie ist ein ganzer Blanckart: niedrige Stirn, kleine Augen, zurückfliehendes Kinn, Geheimratsecken und energische, mehr nach unten tendierende Nase mit kleinem Höcker, also nichts diesmal von Ami. Das einzig Hollmannsche ist ein lästiger Wirbel auf der Stirn. Diese Beschreibung hört sich an, als ob sie ganz häßlich wäre, aber nein, wir finden sie sogar süß und niedlich. Aber das finden wohl alle Eltern. Wir beide haben noch nie so viel Spaß an einem Baby gehabt wie an diesem. Es weint nie, nur nachts, und da stellen wir es in die Küche. Wenn Maria, selten genug, die Augen aufmacht, dann schaut A. (mein Vater) sorgenvoll hinein, da sie nicht so recht gerade sehen will. Aber er soll man zufrieden sein, da sonst alles da und gerade ist.

    So unansehnlich, wie ich dort beschrieben werde, bin ich zum Glück nicht geworden. Die Sorge meines Vaters, was die Augen betraf, war allerdings berechtigt. Mein leichter Silberblick wurde später operativ beseitigt. Von der niedrigen Stirn ist nichts geblieben, aber im Vergleich zu dem sehr hohen Haaransatz der mütterlichen Linie ist sie weniger raumgreifend ausgefallen. Meine Nase gehörte später zu den wenigen Aspekten meines Äußeren, die regelmäßig in der Familie gelobt wurden. Der für mich schönste Satz dieses Briefes ‒ Wir beide haben noch nie so viel Spaß an einem Baby gehabt ‒ ließ mich damals, als ich die Briefauszüge überreicht bekam, alles andere übersehen oder vergessen. Ich fühlte mich als Glückskind, zumindest was meine Startbedingungen betraf. Ich bin das fünfte von sechs Kindern (drei Mädchen, drei Jungen, immer abwechselnd). Und bis zwölf Monate später mein kleiner Bruder – das letzte Kind ‒ geboren wurde, badete ich in der Zuneigung der ganzen Familie, wie dieser Ausschnitt aus einem späteren Brief meiner Mutter zeigt:

    Heute ist Maria 5 Monate alt. Sie ist die Freude und leider auch das Spielzeug der ganzen Familie, so daß die berechtigte Befürchtung besteht, daß sie ein maßlos verwöhntes Frauenzimmer wird. Um das nun baldmöglichst abzubiegen, bekommt sie im November einen Rivalen (oder eine Rivalin), der dafür sorgt, daß sich die Familienbegeisterung für kleine Babys etwas verteilt.

    Es weint nie, nur nachts, und da stellen wir es in die Küche. Meine Mutter erzählte mir später, als sie schuldbewusst auf die schwarze Pädagogik jener Zeit zurückblickte, dass sie von irgendjemandem aus der Familie einen Erziehungsratgeber aus der Nazi-Zeit geschenkt bekommen habe, den sie in Ermangelung vernünftiger Alternativen regelmäßig zur Hand genommen habe. Das Werk trug den furchterregenden Titel: DIE DEUTSCHE MUTTER UND IHR ERSTES KIND. Die Folgen dieser Lektüre sollten wir noch öfter zu spüren bekommen.

    Trotz der besonders glücklichen Umstände meiner Geburt, fühlte ich mich lange nicht nur als hässliches kleines Entlein, sondern auch als Versagerin der Familie. Diese schmerzhafte Phase scheint noch gar nicht so lange zurückzuliegen. Ich gehe langsam auf die Sechzig zu und nähere mich bedrohlich schnell der freizeitreichen, einkommensschwachen Rentenzeit. Meine Eltern waren erfreulich lange körperlich und geistig fit. Sie sind beide sehr alt geworden. Ich habe mich bisher gut gehalten, werde immer viel jünger geschätzt und bin bisher – soweit ich weiß – unverschämt gesund. Aber auch bei mir werden die Tränensäcke schwerer, das lockige braune Haar allmählich grauer, und unter meinem Kinn entsteht langsam, aber sicher eine fein gekräuselte weiche Hautschicht, die jedem aufmerksamen Beobachter verrät, wie alt ich wirklich bin. Ganz abgesehen von den Händen, die niemals lügen. Jeden Abend, wenn ich beim Zähneputzen vor dem Spiegel im Bad stehe, sinniere ich: Wieder ein Tag vorbei. Nicht mehr lange, dann kommt die Zeit, in der ich keine neuen Pläne mehr haben, inkontinent und vielleicht dement herumsitzen und mich nach Besuch, vielleicht auch nach dem Tod sehnen werde, weil ich vor Einsamkeit vergehe. Ich versuche nicht allzu sehr in Panik zu verfallen und verdränge diese Bilder wieder, verheddere mich stattdessen in irgendeinem anderen Gedankenkarussell, das mich in nächtliche Unruhe versetzt.

    Die Zeiten, als die Tage noch in einem schwer erträglichen Schnecken-Tempo zu vergehen schienen, sind lange vorbei. Im Gegenteil. Selbst jetzt noch, in der scheinbar nicht enden wollenden Pandemie, schreitet das Jahr erschreckend rasch voran. Gerade noch haben wir, Corona sei Dank, den weitgehend feinstaubfreien Jahreswechsel in ungewohnt trostloser Ruhe und Beschaulichkeit begangen, schon ist das Jahr wieder halb herum. Wenn ich mit anderen Menschen über dieses Thema spreche, wird mir klar, dass mein Fokus auf solch morbide Gedanken nicht normal ist. Die meisten scheinen viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, als sich ständig um die Vergänglichkeit des Lebens, die rasende Zeit Sorgen zu machen. Bei mir fing es an, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Ich hatte bereits einige zerfetzte Felltiere im Straßengraben gesehen, Singvögel, die regelmäßig mit Kawumm gegen unsere große Wohnzimmer-Scheibe knallten und noch fast nackte Küken, die aus ihrem Nest gefallen waren und nicht mehr Piep sagen konnten. Besonders eindrucksvoll für mich war das traurige Ende von Ernest, dem Kaninchen, das meiner Schwester Dickie gehört hatte. Es wurde von einem extra für diesen Zweck herbestellten Mann diskret geschlachtet, weil es eine dicke Beule an der Backe hatte – eine typische Kaninchenkrankheit, hatte es geheißen – und anschließend von meiner Mutter in einen schmackhaften Braten verwandelt, den wir noch am selben Tag gemeinsam verspeisten. Als das Tier in dem schweren Bräter im Backofen lag, kam ich mit meiner Freundin in die Küche und sagte: Petra möchte Ernest noch einmal sehen. (Dieses Ansinnen sorgte noch Jahrzehnte später in der Familie für Heiterkeit.) Der Blick auf den appetitlich brutzelnden Braten wurde ihr gnädig gewährt. Meine Schwester weigerte sich, bei dem Leichenschmaus mitzumachen und verbrachte die Mittagessenszeit konsequent auf ihrem Zimmer. Das Fell ihres Haustiers behielt sie aber, gerbte es liebevoll mit viel Alaun im Keller und nähte anschließend daraus ein Behältnis in Häschen-Form, in dem man Brillen aufbewahren konnte. Dieses schenkte sie später meinem Vater. Schon damals zeigte sich ihr Talent zum Schneidern. Ich hatte das Glück, dass meine Barbie-Puppen von ihr mit besonders eleganten Stücken, z.B. einem langen, taillierten Mantel mit Pelzbesatz, eingekleidet wurden.

    Ich erinnere mich, dass ich eines Abends vor dem Schlafengehen mit meiner Mutter über den Tod und meine Angst davor sprach. Sie tröstete mich, dass ich ja noch klein sei und daher noch sehr viel Zeit vor mir hätte, dass die meisten Leute hierzulande mindestens siebzig Jahre alt würden und ich mir deshalb keine Sorgen machen müsse. Damals beruhigten mich ihre Worte und es gelang mir, schnell einzuschlafen, wenn auch mit einem leicht mulmigen Gefühl. Das Ende schien noch so weit weg zu sein. Inzwischen habe ich die Mitte meines Lebens bereits deutlich überschritten. Meine Zeit läuft gnadenlos ab. Es ist ungemein tröstlich, dass es allen anderen genauso geht. Das Wort Zeitgenosse weckt inzwischen zärtliche Gefühle in mir. Wir haben alle ähnliches erlebt ‒ zumindest, was die gesellschaftspolitischen Entwicklungen angeht: Kalter Krieg, RAF-Fahndungsplakate in jeder Post-Filiale, Mogadischu, DDR und Mauerfall, Auf- und Abrüstung, Anti-AKW-Bewegung, die Diskussion um § 218, Angst vor AIDS, BSE oder EHEC, Digitalisierung, Jahrtausendwende usw. Das verbindet. Ich bin nicht allein. Wir sitzen alle in einem Boot und dieses treibt immer mehr in eine bestimmte Richtung…

    Früher bestand mein Leben zum größten Teil aus Warten. Wann würde ich endlich erwachsen sein und selbst über mein Leben bestimmen können? Ich wollte damals das unwürdige Larven-Stadium meines menschlichen Daseins so schnell wie möglich überwinden. Kind zu sein nervte. Besonders, wenn man wie ich am jüngeren Ende einer langen Reihe von Geschwistern stand und nicht viel zu melden hatte. Mein kleiner Bruder Jo sah das ganz anders. Ihm gefiel die Rolle als Benjamin der Familie. Er wäre gerne so lange wie möglich Kind geblieben.

    Im Vergleich zu den meisten Leuten, die ich kenne, bei denen die ersten Erinnerungen mit der Einschulung beginnen, trage ich noch heute viele Gedanken, Träume und Ängste – von denen es reichlich gab – sowie ausgeprägte andere Gefühle mit mir aus der Zeit herum, als ich drei Jahre alt war, teilweise noch jünger. Natürlich sind meine frühesten Erinnerungen nur punktuell und teilweise schemenhaft, ab vier jedoch schon sehr dicht und zusammenhängend vorhanden. Ich betrachte sie als ein Geschenk, einen Schatz, den nicht alle Menschen besitzen. Man sagt mir nach, dass ich mir viel Mädchenhaftes bewahrt hätte. Vielleicht liegt es daran, dass mir meine frühe Kindheit noch immer so nahe ist, als wäre sie erst ein paar Jahre und nicht mehr als fünf Jahrzehnte her. Ich glaube, mein Vater hatte kaum Erinnerungen an sein kindliches Ich und wollte vielleicht auch nicht daran erinnert werden. Er hat wenig von dieser Zeit erzählt. Ich weiß eigentlich nur, dass er sich als Baby einen Bruch geschrien hat, weil seine Mutter aus Gründen, die ich nicht mehr weiß, mit ihren milchschweren Brüsten weit entfernt im Krankenhaus lag; dass er sich gerne Flitzebögen aus Fahrradspeichen gebastelt hat und gut klettern konnte. Außerdem soll er schon früh erschreckend fromm und brav gewesen sein. Keiner von uns konnte sich vorstellen, dass er auch einmal ein hilfloses kleines Kind gewesen war, das von der Machtfülle, die es eines Tages erlangen würde, nur träumen konnte.

    Meine wahrscheinlich früheste Erinnerung ist die, wie ich zusammen mit meinem kleinen Bruder in eine Sportkarre gepfercht und von meiner gestressten Mutter eilig eine Anhöhe in einem Park oder Grünstreifen hinaufgeschoben werde. Ich sitze unten und Jo auf meinem Schoß. Wir sind dick eingepackt und ich ersticke fast, weil er mir ohne Rücksicht auf mein Befinden dicht vor meinem Gesicht aufgepfropft wurde. Ich erinnere mich an ein Gefühl tiefster Empörung gegenüber meiner Mutter, die mir diese ungemütliche Stapelaktion einfach so zumutete und an Neid auf mein Brüderchen, weil mir seine Position wegen der besseren Aussicht viel vorteilhafter zu sein schien. Später gab es ‒ vielleicht, weil meine Mutter ein Einsehen gehabt hat ‒ ein Rollbrett, auf das ich gestellt wurde. Das war ein würdevolleres Transportmittel und erfüllte mich mit Genugtuung. Ein paar Jahre später, als ich vielleicht fünf war, hatte ich ein Déjà-vu, das zu einer heftigen Reaktion führte: Jo und ich rutschten immer wieder am Treppengeländer herunter. Einer nach dem anderen. Wir kreischten vor Vergnügen und rasten immer schneller die Treppe wieder hinauf, um uns erneut aufzuschwingen und mit Gejohle auf dem Handlauf hinabzusausen. So geschah es, dass ich unten angekommen und noch nicht wieder abgestiegen war, als Jos schmaler Popo plötzlich auf mich zu gerauscht kam und mit voller Wucht auf mir landete. Ich verspürte sogleich eine fürchterliche Wut. Obwohl ich im Allgemeinen ein verträgliches Kind war, gab ich dem Impuls nach und biss kräftig in sein Gesäß hinein. Mein Bruder jaulte schrill auf. Das muss schrecklich weh getan haben und tut mir heute noch leid. Späte Rache…

    Ich erinnere mich auch noch daran, wie ich meiner Mutter mal beim Wickeln meines Bruders helfen durfte, indem ich ihr die damals noch gebräuchliche Puder-Flasche reichte. Wenn ich daran denke, habe ich sofort den typischen Wollfett-Geruch von Penaten-Creme in der Nase, der zusätzlich Jos nackten Po umwehte. In dieser Situation kämpfte ich besonders stark mit meiner Eifersucht, war gleichzeitig stolz darauf, meiner Mutti helfen zu können. Ich beneidete Jo, weil er noch ein Baby war, das Mittagsschlaf machen durfte oder musste und wollte genauso klein sein wie er. Um diesem Ziel näher zu kommen, beschloss ich mich an jenem Tag ebenfalls ins Bett zu legen. Aber ich konnte nicht schlafen und gab den Versuch schnell wieder auf. Die Tatsache, dass mein Brüderchen, der fast genau zwölf Monate jünger als ich ist, noch gewickelt wurde, lässt Rückschlüsse auf mein Alter zu ‒ vermutlich war ich noch keine drei Jahre alt ‒ denn in meiner Familie und allgemein in den lästigen Zeiten von Stoffwindeln war man sehr darauf erpicht, die Kinder so schnell wie möglich trocken zu kriegen. Und Jo war ein Musterkind (nicht nur) in dieser Hinsicht.

    Meine Mutter berichtete wiederholt mit Schaudern davon, wie sie regelmäßig zum Wiegen der lieben Kleinen mit ihrem altmodischen, geflochtenen Kinderwagen bei der Müttersprechstunde vorfuhr, dessen Räder zu allem Übel auch noch schrecklich quietschten. Einmal hätten ein paar Straßenarbeiter auf dem Weg Mitleid mit ihr und vermutlich auch ihren eigenen Ohren gehabt und sie zum Anhalten bewegt. Einer von ihnen habe, ohne ein Wort zu sagen, seine kleine Ölkanne gezückt und den quälenden Misstönen im Nu ein Ende bereitet. Sie beklagte sich darüber, dass die Mütter dort einander immer argwöhnisch beäugt und Vergleiche angestellt hätten, welches Kind schon trocken war und welches nicht. Was! Ihr Kind macht mit zwölf Monaten noch nichts ins Töpfchen! Es kann mit X Monaten noch nicht sitzen, laufen, sprechen oder selbstständig essen…!! Sie habe sich wegen ihrer schlechten Ausrüstung geschämt und auch im Hinblick auf die Entwicklungsleistungen ihrer Kinder, da sie die völlig unrealistischen Vorgaben allzu oft nicht erfüllen konnten. Wir waren nach heutigen Maßstäben überwiegend keine auffällig spät entwickelten Kinder, der Leistungsdruck war damals einfach enorm hoch. So gab auch sie sich größte Mühe den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden, vor allem in puncto Sauberkeitserziehung.

    PÖTTCHEN-KÄMPFE

    Im Großen und Ganzen war ich für meine Eltern ein erfreuliches Baby und Kleinkind, aber in einem Punkt bereitete ich ihnen, vor allem meiner Mutter, Kummer: Ich sorgte viel zu lange für stinkende, dreckige Windeln. In Zeiten ohne Waschmaschine war dieses zusätzliche Quantum an Wäsche ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Hausarbeit. Deshalb wurde beschlossen, mich fortan daran zu hindern, dass ich mich meinen Verdauungs-Pflichten auf dem Töpfchen entzog, indem ich immer wieder einfach davonlief. Sie kauften mir, als ich knapp anderthalb Jahre alt war, einen Spezial-Apparat zum Festschnallen, und auf dem musste ich so lange sitzen bleiben, bis ich ein anständiges Häufchen hineingesetzt hatte. Ein Bächlein reichte nicht aus. Wenn ich endlich den Ort des Schreckens verlassen durfte, zeichnete sich immer eine deutliche Druckstelle am Po ab, wie mir glaubwürdige Zeugen später berichteten. In ihren Briefen finden sich viele Zeilen, in denen meine Mutter über die Pöttchen-Kämpfe mit mir klagt und mich mit meinem kleinen Bruder vergleicht, der so viel braver gewesen sei und – obwohl ein Jahr jünger – zeitgleich mit mir sein erstes Würstchen in dem von ihr dafür vorgesehenen Behälter ablieferte. Es gab auch Zeiten, wo ich mich mit meiner Leistungsverweigerung durchsetzen konnte und meine Mutter den Druck etwas nachließ. Aber sie blieb am Ball, und ich musste mich schließlich fügen. Mit 25 Monaten war ich trocken, wurde ein halbes Jahr später aber wieder für eine Weile beim kleinen Geschäft rückfällig. Danach liest man nichts mehr über das Thema.

    Ich habe eine verschwommene, leicht traumatische Erinnerung an ein Bügelbrett und viele Hände, die mich auf dem Boden liegend festhalten und abmühen, etwas gegen meinen Willen in meinen Körper zu befördern. Heute denke ich, dass es sich um einen Einlauf gehalten haben muss und dass der Behälter mit der Flüssigkeit, die in meinen Darm hineingepumpt werden sollte, wegen der Schwerkraft auf dem Bügelbrett stand und über einen Schlauch zu mir nach unten gelangen sollte. Ich habe damals oft nur Knicker hervorgebracht – kleine harte Kugeln. Vielleicht hatte ich einen angeborenen natürlichen Widerwillen gegen den ganzen Prozess des Verdauens, der erst dazu geführt hat, dass ich nicht so funktionierte wie z.B. mein kleiner Bruder Jo. Vielleicht war es aber auch mein rebellisches Ich, das sich gegen das Kacken auf Befehl zur Wehr setzte. Jedenfalls scheine ich von all diesen Zwangs-Maßnahmen ein Klo-Trauma davongetragen zu haben. Auch wenn ich irgendwann zuverlässig aufs Töpfchen ging und artig mein Geschäft verrichtete, hatte ich noch jahrelang eine große Abneigung dagegen, mich von den festeren Bestandteilen meiner verdauten Nahrung zu trennen. Ich ekelte mich vor dem Gestank und gewöhnte mir an, das große Geschäft immer länger und öfter zu verschieben. Bis es, als ich fünfzehn Jahre alt war, zum Super-GAU kam. Ich hatte etwas zu lange gewartet (insgesamt brachte ich es auf vierzehn Tage Stuhlgang-Abstinenz), und als ich den Ballast loswerden wollte, ging tagelang nichts mehr. Meine Verzweiflung und die Bauchschmerzen wuchsen mit jeder Minute an. Schließlich besorgte ich mir ein Einmal-Klistier in der Apotheke und erst dadurch, verbunden mit tatkräftiger, mechanischer Unterstützung meiner Mutter (die unappetitlichen Einzelheiten lasse ich weg), gaben die Eingeweide ihren Schatz endlich frei. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so erleichtert gewesen wie nach dieser schweren Geburt! Ich werde meiner unerschrockenen Mutter ewig dankbar für ihre Hilfe sein.

    Aber auch das kleine Geschäft ging mir nicht so leicht von der Hand. Als ich in die Schule kam, fürchtete ich mich vor den Toiletten dort und vermied es, sie aufzusuchen, weil ich mich schämte zu pinkeln, wenn andere mit im Raum waren und eventuell etwas rauschen hören könnten. So gewöhnte ich mir an, immer nur während der Unterrichtszeit aufs Klo zu gehen, in der Hoffnung dort niemanden anzutreffen, der genauso neurotisch wie ich war und den gleichen Wunsch verspürte. Das funktionierte oft, aber leider nicht immer. Manchmal musste ich unverrichteter Dinge wieder in die Klasse zurück trotten. Es kam des Öfteren vor, dass ich mit gefährlich voller Blase den Heimweg antrat. Ich musste dabei auch immer ein kleines Wäldchen durchqueren, einen Ort voll schauriger Geheimnisse oder zumindest Gerüchten über dergleichen. (Angeblich soll in jenem Grünstreifen mal eine Kinderleiche gefunden worden sein.) Mir war nicht gerade wohl bei dem Gedanken daran. Aber alle Alternativen waren keine Alternative, da viel zu lang. Und außerdem gab es ganz in der Nähe noch das gefürchtete Ebertal. Dort stand eine Hochhaussiedlung, in der böse Kinder oder Jugendliche wohnten, die ‒ so wurde gemunkelt – fremde Kinder, die sich dorthin verirrten, einfingen, an den Marterpfahl banden und schlimme Sachen mit ihnen anstellten. Daher wartete ich morgens auf dem Hinweg sicherheitshalber auf andere Schüler an der Straße, bevor ich mich während der dunklen Jahreszeit in dieses Gebiet hineinwagte. Wenn ich mittags bei Tageslicht nach Hause ging, leistete mir das Wäldchen oft gute Dienste, weil ich mich zur Not in die Büsche schlagen und erleichtern konnte, aber nur, wenn ich mir sicher war, dass keiner mich dabei beobachtete, wie ich den Weg verließ und nach einem guten Pinkelplätzchen suchte. Denn auch das erfüllte mich mit tiefer Scham. Da diese Strecke eine allseits beliebte Abkürzung war, gelang es mir oft nicht, unbemerkt Rettung abseits des Weges zu finden. Häufig pinkelte ich mir kurz vorm Ziel in die Hose, gerade wenn ich an unserer Gartenpforte angelangt war. Die restlichen fünfzehn Meter durch den Garten die schmale Steintreppe hinauf, dann noch eine Treppe über die Veranda durch die Küche bis zum Klo waren zu weit für mich. Ich rief in meiner Not schon unten am Tor nach Mutti, die meist schon von weitem sah, in welchem Zustand ich war und mir schnell und ohne Vorwürfe zu trockenen Sachen verhalf.

    Die lästige Pinkel-Scham hörte erst auf, als meine Freundin Monika, bei der ich als Teenagerin häufig übernachtete, mich einmal zwang sie in ihr Bad zu lassen, als ich gerade auf dem Klo saß. Sie war – im Gegensatz zu mir – sehr selbstbewusst und meinte einfach zu mir, dass ich mich nicht so haben solle, sie gucke mir schon nichts weg. Diese Aussage überzeugte mich, und mein ohnehin schwacher Widerstand brach sofort wie ein Kartenhaus in sich zusammen. (Gegen meine dominante Freundin hätte ich sowieso keine Chance gehabt.) Ich öffnete ihr die Tür und warf meine Anstellerei von einem Moment auf den anderen über Bord. In diesem Moment begriff ich, dass man sich ganz schön in vermeintliche Probleme hineinsteigern und dass eine gewisse Resolutheit manchmal heilsam sein kann. Dennoch begleitete mich dieses Thema noch eine Weile – nur anders. Ich entwickelte allmählich eine Sozial-Phobie, die dazu führte, dass ich in den unpassendsten Momenten den Drang verspürte aufs Klo zu gehen. Ich verspürte Blasendruck und Blähungen, wurde unruhig, sobald ich z.B. das Klassenzimmer oder später an der Uni den Seminarraum betrat. Drinnen kämpfte ich meist vergeblich gegen das Gefühl an, gleich wieder auf die Toilette flüchten zu müssen. Erst wenn ich dieses Ritual absolviert hatte, ließ der Druck etwas nach, konnte ich mich für eine Weile zusammenreißen und dem Unterricht folgen. Ich nervte meine Lehrer damit, dass ich häufig erst in letzter Minute im Klassenraum erschien und dann auch bald wieder verschwand. Als ich eine junge Studentin war, verschlimmerte sich diese Phobie immer mehr, so dass ich auch in anderen Situationen Angst verspürte, z.B. im Fahrstuhl, Kino oder auch schon, wenn ich mit weniger vertrauten Menschen in einer kleinen Runde zusammensaß.

    Nach einem gescheiterten, nicht ganz billigen Theaterbesuch, bei dem ich wegen einer Panik-Attacke schon kurz nach dem Beginn der Aufführung nicht mehr im Zuschauerraum sitzen bleiben konnte, beschloss ich, etwas zu unternehmen. Eine Freundin empfahl mir eine Gruppen-Therapie (Transaktionsanalyse), die nicht allzu teuer und gut erreichbar war. Dies erwies sich als eine gute Entscheidung, denn ich konnte schon nach wenigen Monaten wieder damit aufhören – schneller als die anderen in der Gruppe, die mich angesichts meiner raschen Heilung mit einer Mischung aus Neid und Argwohn betrachteten. Ich weiß noch, dass die Intervention, die am wirkungsvollsten war, weil sie etwas Wichtiges in mir angestoßen hatte, eine Familienaufstellung war. Dabei musste ich meine Familienmitglieder, dargestellt durch die anderen Gruppenteilnehmer, um mich herum positionieren. Ich konnte auch Stühle benutzen, um unterschiedliche Niveaus herzustellen. Ich weiß noch, dass ich meinen Vater höher als mich und meine Geschwister positioniert hatte und etwas weiter abseits, während ich meine Mutter irgendwo zwischen uns Kindern und ihn gequetscht hatte. Sie wirkte beinahe so, als wäre sie Teil der Kinderschar. Kurz danach konnte ich die Therapie beenden. Ich habe dieses frühe Ende nie bereut, wurde seitdem nie wieder rückfällig. Die Angst vor der Angst hatte ihren Schrecken für mich verloren.

    Ich erinnere mich noch an sehr viele Träume aus meiner Kindheit. Nachts schien ich ein zweites Leben zu haben, das in Fortsetzungen verlief oder in vielen Wiederholungen. Sehr häufig und viele Jahre lang hatten meine nächtlichen Abenteuer etwas mit Toiletten zu tun. Immer wenn ich Druck auf meiner Blase verspürte, machte ich mich im Traum auf die Suche nach einem Ort, wo ich unbeobachtet mein kleines Geschäft verrichten könnte. Doch richtete sich das Programm meiner Traumwelt offenbar nach einem unverrückbaren Gesetz, welches da lautete: Niemals, niemals wird Maria einen solchen Ort finden. So wurde ich dazu verdammt, mich an den unmöglichsten Orten zu erleichtern: Im Klassenraum, wo die Stühle gleichzeitig Klos waren, deren Deckel man nur hochklappen musste; häufig hatten die stillen Örtchen keine richtigen Türen, ließen sich nicht abschließen, waren irgendwo in Sicht, aber durch unzählige Hindernisse für mich fast unerreichbar oder sie ließen oben und unten so viel Platz frei, dass sie keinen Schutz vor neugierigen Blicken boten. Wenn ich mich dann schließlich doch ‒ trotz aller Widrigkeiten ‒ irgendwo pinkelnd niederließ, musste ich erkennen, dass die Erleichterung nur kurz anhielt, denn der Blasendruck war natürlich noch da. Zum Glück, muss man sagen, denn sonst hätte es bedeutet, dass ich ins Bett gemacht hatte. An diesem Punkt wachte ich dann meistens auf.

    BRILLENSCHLANGE

    Jahrelang habe ich abends mit Schuldgefühlen im Bett gelegen und mir über folgende Frage den Kopf zerbrochen: Ist es wahr, dass ich einmal beim EDEKA-Laden in unserem Viertel eine Orange, die vor dem Laden in einer Obstkiste lag, habe mitgehen lassen oder habe ich das nur geträumt? Bis heute weiß ich die Antwort auf diese weltbewegende Frage nicht. Vermutlich habe ich es getan, denn ich war damals so gierig auf frisches und wohlschmeckendes Obst, von dem es bei uns immer zu wenig gab, dass es mir durchaus zuzutrauen wäre. Andererseits kann sich meine ungestillte Sehnsucht nach solchen Genüssen auch in meinen Träumen widergespiegelt haben.

    Neben diesem gab es noch ein weiteres schambesetztes Ereignis aus der Schule, das mich lange quälte. Den Anlass hatte ich schon längst vergessen oder verdrängt (vielleicht war es ein laut hörbarer Furz, der mir während des Unterrichts entfahren war? Vielleicht hatte ich etwas Dummes gesagt und alle hatten gelacht?), als mich noch immer das Gefühl der Scham, das damit verbunden war, beschäftigte. Es war über Jahre fester Bestandteil meiner abendlichen Grübel-Rituale gewesen. Zu den Standardfragen meiner Kindheit gehörte: Möchte ich noch einmal geboren werden und wieder von vorne anfangen? Die Antwort lautete – nur wegen dieser einen, längst verdrängten Schmach: NEIN, AUF GAR KEINEN FALL! Komischerweise ging ich davon aus, dass ich bei einem Neustart dieses peinliche Erlebnis noch einmal würde durchleben müssen, zumindest schien mir das Risiko zu groß, dass es so kommen könnte. Deshalb war es viel besser, einfach weiterzuleben und möglichst viel zeitlichen Abstand zu dem peinlichen Erlebnis herzustellen.

    Es gehört für mich zum Erwachsenwerden dazu, eine gute Balance zwischen Angepasstheit und Unbekümmertheit gegenüber gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu entwickeln. Mir scheint, je besser man sich zwischen diesen beiden Polen hin und her zu bewegen versteht, desto leichter hat man es. Manche entscheiden sich aus der Not heraus irgendwann für das Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert, weil ihre sexuelle Orientierung gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, weil sie anders aussehen als die Mehrheit oder weil sie sich ‒ z.B. aufgrund einer psychischen Störung ‒ merkwürdig verhalten. Menschen, die auf alle Konventionen pfeifen, bezahlen meist einen hohen Preis für die Freiheit ihrer Andersartigkeit. Ich wollte nur zu gern Teil einer Gruppe sein, sehnte mich nach Zugehörigkeit. Doch zu meinem großen Kummer gelang es mir lange Zeit nicht, den Erwartungen meiner Peergroup zu entsprechen. Ich erfuhr jahrelang eine schmerzhafte Sonderbehandlung, wurde weggejagt, wenn ich mitspielen wollte – vor allem in der Schule ‒ ohne zu verstehen, warum.

    Eine Ursache für meine Außenseiterposition hatte vermutlich damit zu tun, dass ich durch verschiedene äußere Merkmale ungewollt die Aufmerksamkeit auf mich zog: Damals thronte auf meiner anerkannt hübschen Nase eine weniger hübsche Brille, ein zuzahlungsfreies Kassenmodell, was leider nicht so modisch war wie die heutzutage feilgebotenen Gestelle. Daher erschallte regelmäßig ein hämisches Brillenschlange! hinter meinem Rücken, wenn ich an ein paar Jungs vorbeiging, denen gerade der Sinn nach Kleine-Mädchen-Ärgern stand. Dazu kam, dass ich viele Jahre überwiegend einen Kurzhaarschnitt trug, der immer wieder dazu führte, dass ich für einen Jungen gehalten wurde. Als ich noch nicht zur Schule ging (ich wurde, genau wie Jo, bereits mit fünf Jahren als sogenanntes Kann-Kind eingeschult), machte mir das nichts aus. Ich glaubte meinen Eltern, die behaupteten, dass dies ein idealer Haarschnitt für mich sei und ich noch dazu älter damit wirkte. Doch je größer ich wurde, desto mehr wünschte ich mir eine richtige Mädchenfrisur. Vor der Pubertät waren meine Haare noch glatt und fein, so dass ich mit den strähnigen Rattenschwänzchen, die man mir in den wenigen Langhaarphasen erlaubte, auch niemanden vom Hocker reißen konnte. Dummerweise hatte ich mir auch noch angewöhnt, ständig an meinen Haaren zu nuckeln – vorausgesetzt, sie waren dafür lang genug. Ich ließ diese Unsitte zwar bald wieder bleiben, dennoch wurde immer wieder zur Schere gegriffen. Auch Nägelkauen gewöhnte ich mir kurzzeitig an und wieder ab. Stattdessen verlegte ich mich im Teenager-Alter darauf, in ruhigen Momenten die zahlreichen Schuppen auf meiner juckenden Kopfhaut abzuknibbeln und wegzuschnipsen, eine auch für mich selbst unappetitliche, aber ungemein beruhigende Marotte, die ich viel zu lange beibehalten sollte. Allerdings achtete ich immer peinlich darauf, den Schnee auf meinen Schultern rasch zu entfernen. Besonders mein Vater tadelte mich immer wieder deswegen: Kind, nun lass das doch mal sein! Das ist ja fürchterlich! Der Kampf gegen die Schuppen und die Sucht nach dem Knibbeln standen lange ganz oben auf meiner Agenda. Ich schämte mich wegen dieser Angewohnheit und probierte alle möglichen Shampoos aus, lange ohne durchgreifenden Erfolg. Erst nach vielen Jahren fand ich ein wirksames Mittel, das den Juckreiz verschwinden ließ und die Kopfhaut glättete. Als etwas später auch noch die inneren und äußeren Spannungen deutlich nachließen, gelang es mir diese Angewohnheit dauerhaft zu unterlassen.

    Aus Sparsamkeitsgründen war es völlig undenkbar, dass ich oder irgendein anderes Familienmitglied zum Friseur ging. Nein! Mein Vater, der sich einbildete, alles zu können, übernahm diese Aufgabe höchstpersönlich und verpasste mir, bis ich mit ungefähr zwölf Jahren durch den Einspruch meiner Schwester gerettet wurde, regelmäßig einen praktischen Bundeswehrhaarschnitt. Dafür musste ich in unserer weiträumigen Küche, die mit einem spinatgrünen Linoleumboden ausgelegt war, antreten, in deren Mitte auf einen Hocker steigen und den von meiner Mutter genähten grün-gelb-karierten Polyester-Haarschneide-Umhang anlegen. Und dann ging’s los. Ein wenig genoss ich diese Prozedur sogar noch in den ersten, einstelligen Lebensjahren, da ich ansonsten nicht viel Einzelzuwendung von meinem Pappi bekam, aber nur, wenn er nicht zu unwirsch mit mir umging. Das kam regelmäßig vor, denn er verlor schnell die Geduld.

    Mein größtes Problem war jedoch, dass ich meist die abgelegten Sachen meiner viel älteren Schwestern sowie andere Erbstücke auftragen musste. Wenn ich Glück hatte, erhielt ich eine milde Gabe von meinen nur wenig älteren englischen Cousinen, die hübsche Samtkleider mit Blümchen und Rüschen besaßen, aber das kam selten vor. Meine Mutter war – in diesem Fall muss man sagen leider ‒ höchst kreativ und nähte viel, meistens für sich selbst, manchmal auch für mich. Die Kleider wurden dann oft noch mit Kartoffeldruck bearbeitet, aufwändig bemalt oder mit selbst emaillierten Knöpfen versehen. Darunter war auch das ein oder andere Prachtstück für mich, zwar ohne besondere Knöpfe, dafür mit Kunststichen versehen, die ihre schicke, damals noch neue elektrische Nähmaschine so wunderbar hervorzubringen vermochte. Diese Kleidchen waren für sich genommen gut gemacht und entsprachen gewissen ästhetischen Ansprüchen. Leider waren sie aber nicht das, was Mädchen in meinem Alter damals trugen, und modische, neue Textilien gab es für mich äußerst selten. Dazu kamen die verhassten alten Synthetik-Strumpfhosen, deren Zwickel mir häufig zwischen Knie und Schritt rutschten, weil sie schon zu klein geworden waren oder das Gummi ausgeleiert war. Wenn dieser Zwickel für alle sichtbar unter meinem kurzen Trägerkleidchen hervortrat, trieb mich das zur Verzweiflung. Meine Träume von damals ‒ Lackschühchen und modische Patchwork-Lederröcke ‒ wurden niemals wahr. Ich hatte – was das Schuhwerk betraf ‒ teilweise selbst schuld daran, denn ich ließ mich von meinen Eltern immer wieder zu praktischeren Tretern überreden, die nicht so schick, aber bequem waren. Vielleicht wurde ich auch von Lurchi, dem Feuersalamander mit den gemütlichen Salamander-Schuhen, korrumpiert. Das kleine Heft mit den bunt illustrierten Abenteuern von Lurchi und seinen Freunden war damals die Freude aller Kinder, die mit ihren Eltern Schuhe kaufen gehen durften oder mussten. Meine Mutter klagte in ihren Briefen schon sehr früh, dass sie ständig Kleiderdifferenzen mit mir habe. Das Thema war erst vorbei, als ich mit ca. vierzehn Jahren endlich Kleidergeld bekam und selbst über meinen Kleiderstil bestimmen konnte. Den Flohmärkten und Secondhandshops sei Dank begann für mich endlich eine neue Ära der modischen Selbstbestimmung.

    Die Figur von Kindern spielt bei der Bewertung ihres Äußeren meistens noch keine große Rolle, außer wenn sie sehr stark von der Norm abweicht. Das war bei mir zumindest anfangs nicht der Fall. Erst in der Pubertät empfand ich mich eine Weile als viel zu dünn und beneidete sogar meine übergewichtige Freundin Monika um ihre überflüssigen Pfunde. Doch in der Kleinmädchenzeit war es vor allem mein Gesicht, das ich nicht mochte: Meine Backen waren mir zu rot. Deshalb stand ich einige Male vor unserem großen goldgerahmten Spiegel im Flur und rieb eifrig mit einem Schwamm an ihnen herum, weil ich hoffte, sie auf diese Weise wieder loszuwerden. Ich lernte bald, dass diese Methode kontraproduktiv war und ich mich wohl mit dem Problem abfinden musste. Womit ich mich jedoch schwer abfinden konnte, waren meine äußerst spärlichen Augenbrauen, die zudem noch mit einer rötlichen Hautfärbung untermalt waren. Dadurch fiel die mangelhafte Behaarung erst recht jedem auf, vor allem bei kaltem Wetter. Dann leuchteten meine nicht vorhandenen Brauen manchmal schon von weitem wie rote Balken und schienen zu rufen: Hallo, hier sind wir! so dass ich mehrmals von anderen Kindern gefragt wurde, ob ich mich dort vielleicht verbrannt hätte. Das fand ich besonders demütigend. Ich konnte es nicht abwarten, etwas gegen dieses Missgeschick der Natur zu unternehmen. Schon mit drei oder vier Jahren versuchte ich mir deshalb mit abgebrannten Streichhölzern als Augenbrauenstift zu behelfen. Das Ergebnis überzeugte mich aber nicht wirklich, so dass ich es bald wieder aufgab. Ich war schon früh sehr eitel und von meinem, wie ich fand, abstoßenden Äußeren besessen. Zum Ausgleich sammelte ich Kämme, die ich meist auf der Straße fand, reinigte und mit denen ich dann unentwegt durch meine hellbraunen, glatten Haare fuhr. Meistens stand ich dabei vor besagtem großen barocken Spiegel, meinem besten Freund damals, und schaute mir mürrisch und rotwangig dabei zu. Währenddessen versuchte ich mir immer wieder vorzustellen, wie ich wohl mit sechzehn aussehen würde. Ich hoffte und vertraute auch ein wenig darauf, dass ich dann quasi erwachsen und endlich – wenn schon nicht richtig schön, so doch viel hübscher als jetzt wäre. Es gab nämlich noch weitere Makel, die mich quälten. Diese pflegte ich lange auf einer inneren Liste mit mir herumzutragen und regelmäßig lautlos herunterzubeten. Es war schön zu erleben, wie im Laufe meines Lebens immer mehr von diesen echten oder vermeintlichen Schönheitsfehlern von der Liste gestrichen werden konnten, weil sich herausstellte, dass es einen – meist männlichen – Fan für gerade diesen, nicht so perfekten Teil von mir gab. Doch lange glaubte ich, dass nur meine klassische Nase und mein wohlgeformter Hinterkopf den Ansprüchen entsprachen, die mein Vater und anscheinend die ganze Welt an Schönheit erhoben.

    Nicht nur mein ungewöhnliches Aussehen machte es mir schwer, von anderen Kindern akzeptiert zu werden. Ein weiteres Manko war, dass ich mich überhaupt nicht gegen Gemeinheiten wehren konnte. Ich war äußerst gutmütig und noch dazu gutgläubig. Dem Haifischbecken des Schullebens war ich mit meiner von christlicher Nächstenliebe geprägten Erziehung nicht gewachsen. Mein Vater zitierte gerne Jesus, der gesagt haben soll: Wenn jemand dich auf eine Wange schlägt, dann halte ihm auch noch die andere hin! Meine Mutter sagte immer nur: Du armes Kind! Schaff’ dir ein dickes Fell an!, wenn ich weinend von meinen Erlebnissen mit Mitschülern berichtete. Wie ich das tun sollte, erfuhr ich nicht. Auch meine Geschwister waren da keine Hilfe. Ich erntete immer viel Mitgefühl und Seufzer von meinen Eltern, aber keinen Rat, mit dem ich irgendwas hätte anfangen können. Meine erste Lektüre war Die Kinderbibel. Dieses Buch habe ich damals geliebt und immer wieder von vorne bis hinten durchgelesen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und die Geschichte von St. Martin, der seinen halben Mantel an einen Bettler verschenkt, beeindruckten mich damals besonders. Zum Leidwesen meiner Mutter war ich sehr freigiebig und verschenkte einmal aus Gutherzigkeit einen Großteil meiner von ihr selbst oder von Dickie genähten, besonders schönen Puppenkleider an ein bedauernswertes pausbäckiges Mädchen mit fettigen blonden Haaren, das ich irgendwo aufgelesen hatte. Meine Mutter und auch ich hofften, zumindest noch einige von diesen Sachen zurückzubekommen, aber das Kind war fortan unauffindbar.

    RÖMISCH ROULETTE

    Kinderreichen Familien haftet stets der Verdacht an asozial zu sein. Denn wer sonst bekam in Zeiten der Antibabypille, die 1960 auf den Markt gekommen war, noch so viele Kinder, wo es sich doch so leicht vermeiden ließ? Spätestens bei der Zahl 4 war damals meistens Schluss mit dem Kindersegen. Mein Bruder Jo und ich waren also die ungehörigen Zwei zu viel. Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet: Streng gläubige Katholiken. Mein Vater bestand schon immer darauf, dass in seiner Ehe auf Verhütung weitgehend verzichtet wurde, denn in der Bibel steht dieser folgenschwere Satz: Wachset und mehret euch! Papst Paul VI. verfasste 1968 als Reaktion auf den Siegeszug der Pille die Enzyklika Humanae vitae und zerschlug damit die Hoffnungen meiner Mutter und unzähliger katholischer Frauen weltweit. Er stellte klar: Sie würden nicht von dem neuen Verhütungsmittel profitieren, sondern weiter in ständiger Angst vor ungewollten Schwangerschaften leben müssen. Bis heute ist Katholikinnen nur ein Vorgehen zur Empfängnisvermeidung erlaubt: Knaus-Ogino oder auch Kalendermethode genannt. Diese Methode funktionierte nach dem Prinzip der fruchtbaren Tage im Zyklus, die man berechnen und an denen man sich enthalten musste, allerdings, ohne die Basal-Temperatur zu messen oder den Zervix-Schleim zu beobachten, was viel umständlicher, aber bedeutend sicherer gewesen wäre. Meine Mutter hatte einen äußerst verlässlichen Monats-Rhythmus – genau 28 Tage, aber dennoch geriet sie auf diese Weise mit erschreckender Regelmäßigkeit in den Zustand guter Hoffnung. Sie hatte die sicheren Tage stets zu großzügig bemessen und jahrelang aus ihren Fehlern nichts gelernt. Sonst gäbe es mich jetzt nicht. Eigentlich sei keines ihrer Kinder geplant gewesen, erzählte sie uns und jedem, ob er es hören wollte oder nicht. Da Knaus-Ogino bekanntermaßen unzuverlässig war, wurde die Methode in eingeweihten Kreisen auch Römisch Roulette genannt. Coitus Interruptus war zwar ebenfalls nicht erlaubt und auch sehr unsicher, wurde aber dennoch häufig praktiziert. Auch von meinen Eltern. In katholischen Kreisen nannte sich die Methode vor dem Amen aus der Kirche… Eine Freundin erzählte mir, wie der Satz in ihrer rheinischen Heimat verlängert wird …und dann mit dem Handkarren weiter bis Köln-Deutz.

    Als meine Mutter mit dem vierten Kind schwanger war, erlitt sie eine lebensgefährliche Komplikation (Prä-Eklampsie), die sie dazu zwang ins Krankenhaus zu gehen und über anderthalb Monate im Bett zu liegen, bis das Baby mit sieben Monaten per Kaiserschnitt geholt wurde. Mein winziger großer Bruder kam im tiefsten Winter zur Welt und wurde in einem ungeheizten Taxi, eingepackt in lauter Decken und umhüllt von Wärmflaschen in das fünfzig Kilometer entfernte Kinderkrankenhaus verfrachtet, während mein Vater bei den restlichen Kindern blieb und meine Mutter sich auf der Wöchnerinnenstation des Hospitals von der Entbindung erholte. Der Taxifahrer hatte während der Fahrt die alleinige Verantwortung für das zarte neue Lebewesen, denn es fuhr sonst niemand mit. Was war eigentlich mit meiner Großmutter und anderen Verwandten im Haus? Warum habe ich meinen Eltern diese Frage nie gestellt? Gogo landete jedenfalls fernab der Familie einsam und allein in einem Brutkasten. Er blieb in seinem sterilen Exil bis er ca. zwei Monate später für reif genug befunden wurde, mit mehr Gewicht, aber immer noch recht ausgemergelter Gestalt in den Schoß der Familie zurückzukehren. Mein Vater holte ihn ab und schilderte seinen ersten Eindruck in einem später häufig zitierten Brief. Gogo habe ausgesehen, wie von der indischen Beulenpest befallen… Wir Kinder pflegten uns immer köstlich über die drastischen Formulierungen, mit denen unser von Schönheit besessener Vater sein Entsetzen zum Ausdruck brachte, zu amüsieren. Von der heutzutage gängigen Känguru-Methode wusste man damals noch nichts. Meine Eltern gingen anscheinend davon aus, dass der Brutkasten ein würdiger Ersatz für den Mutterleib war und dass sie ohnehin nichts für ihr Kind tun konnten. Wenn wir sie fassungslos darüber ausfragten, hieß es, dass die Reise-Verbindungen damals sehr schlecht gewesen seien. Sie hätten wenig Geld und kein Auto gehabt, so dass die Strecke zum Kinderkrankenhaus für sie damals eine beinahe unüberwindliche Entfernung darstellte. Außerdem hätten sie viel zu tun gehabt. Inzwischen weiß ich, dass Eltern damals auf den Frühgeborenen-Stationen ohnehin keinen Zutritt hatten. Drei weitere kleine Kinder mussten versorgt werden, und mein Vater benötigte viel Zeit, um die Familie mit seiner Malerei und einigen Nebenjobs notdürftig über Wasser zu halten. Man kann die Geschichte drehen und wenden, wie man will: Am Ende bleibt es dabei, dass mein Bruder wochenlang verschwand, während meine Eltern ihr Leben weiterlebten, als gäbe es ihn nicht. Im Vergleich zu Gogos fulminantem Fehlstart ins Leben empfand ich die Tatsache, dass meine Geburt laut Aussage meiner Mutter die leichteste von allen gewesen war, als weiteren Beweis meiner besonderen Glücksposition in der Familie.

    Nach dieser gefährlichen und beschwerlichen Schwangerschaft fand bei meinen Eltern aus verschiedenen Gründen ein Umdenken statt, was den Umgang mit ihrer Sexualität und die damit einhergehende rasante Vermehrung der Kinder anging. Mein Vater hatte religiöse Bedenken, die mit seiner damals noch nicht vom Papst annullierten ersten Ehe zu tun hatten. Er entschied sich dafür, eine Beziehung ohne Sex ‒ eine Josephs-Ehe – wie er das nannte, zu führen, weil er als Katholik eigentlich nur einmal kirchlich heiraten und sich nicht scheiden lassen durfte. Ihn plagten Gewissensbisse, die er damit für sich abwenden konnte. Möglicherweise war die Gefährdung meiner Mutter und des Kindes während ihrer vierten Schwangerschaft für ihn erst der Anlass gewesen, sich über die religiösen Probleme, die durch seine zweite Eheschließung (ohne den Segen der katholischen Kirche) entstanden waren, Gedanken zu machen. Meine Mutter sollte vorerst aus medizinischen Gründen nicht mehr schwanger werden und wollte es auch nicht. Sie hätte damit ihr Leben riskiert, und eine Abtreibung wäre niemals in Frage gekommen. Da die bis dato angewandte Verhütungsmethode sich als wenig zuverlässig erwiesen hatte und Rom auch nichts anderes erlaubte, legten meine Eltern eine Phase der Enthaltsamkeit ein. Sie schoben ihre beiden Einzelbetten artig auseinander und entschwanden abends nach einem sittsamen Gutenachtkuss in ihre jeweilige Bettstatt. Diesem Umstand habe ich wohl zu verdanken, dass die Freude, als ich mich ankündigte, größer war als bei allen anderen Kindern zuvor und danach. Der durch viele Schwangerschaften innerhalb weniger Jahre geschundene Körper meiner Mutter hatte sich sieben Jahre lang erholen können, die finanzielle Lage sich inzwischen deutlich verbessert, weil mein Vater endlich ein sicheres Einkommen bei der Bundeswehr hatte, und meine Geschwister waren schon so alt, dass sie nicht mehr so viel Arbeit machten. Im Gegenteil, sie halfen meiner Mutter dabei mich zu wickeln (Dickie), in der Karre durch die Gegend zu fahren (Simon) oder organisierten den Geburtstag von mir und meinem Bruder (Gogo). Wir beiden Kleinen hatten immer den Eindruck, dass wir weniger von unseren Eltern als von den großen Schwestern und Brüdern aufgezogen worden sind.

    DIE SCHAM IST VORBEI

    Während meine älteren Geschwister noch sehr unter der schuldbeladenen Sexualmoral des Katholizismus zu leiden hatten, z.B. den Horror-Stories über die schlimmen gesundheitlichen Folgen der Masturbation (Erblindung oder Knochenmarkschwund), die sie in den damals in Kirchenkreisen gängigen Heftchen für Kinder vorfanden, wehte in meiner Kindheit bereits ein frischerer Wind durchs Haus: Der Wind der 68-iger und der damit einhergehenden sexuellen Revolution. Meine älteste Schwester Geka, die mit Anfang zwanzig heiratete, brachte einen liberal gesinnten Soziologie-Studenten in die Familie, der mit seinen modernen Theorien für reichlich Gesprächsstoff sorgte – nicht nur die Sexualität betreffend. Diese Diskussionen haben vermutlich abends vorm offenen Kamin stattgefunden, als ich schon schlief, denn ich habe keine eigene Erinnerung daran. Aber meine Mutter sprach immer wieder begeistert über diese geistig anregende Zeit, betrachtete die Endsechziger als die schönsten Jahre ihres Lebens. Mein Schwager hatte für eine kurze Zeit als Mönch gelebt, war dann aber bei Nacht und Nebel über die Klostermauer geflohen. Er war in theologischen Dingen bewandert und sehr eloquent. Mein Vater hatte damals – anscheinend auch wegen seines Einflusses ‒ eine kurze, erfrischende Glaubenskrise, die meine älteren Brüder und Schwestern geschickt dafür nutzten, einer nach dem anderen

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