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Goin' Home: Oder: Ein Aufbruch
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Goin' Home: Oder: Ein Aufbruch
eBook494 Seiten5 Stunden

Goin' Home: Oder: Ein Aufbruch

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Über dieses E-Book

Auf Forschungsreise zu den Wurzeln der US-amerikanischen Musik taucht die Musikstudentin Petra unversehens in vergangene Zeiten ein. In der New Yorker Ottendorfer Library erlebt sie, wie wegweisende Figuren der Musikgeschichte hitzige Debatten um das Verbindende und das Partikulare von Musik führen, um Identität und Aneignung. Sie beginnt zu ahnen, welch aktuelle Brisanz diese vermeintlich alten Diskurse bergen. Die Protagonisten sind keine geringeren als Antonín Dvořák, Amy Beach und Bud Powell, dazu die mysteriöse Navajo-Bibliothekarin López und Bukar, Petras nigerianischer Freund, dessen Glaube an verbindende Ideale im Kampf um Gerechtigkeit ebenfalls auf die Probe gestellt wird. Zwischen europäischer Romantik, afroamerikanischen Spirituals, Native American Music und Bebop, zwischen Bostoner High Society, den Verheißungen der New Frontier Kaliforniens, verrauchten Jazzclubs in Harlem und der New Yorker NGO-Szene, zwischen Rassismus und Schmelztiegel, kultureller Selbstbehauptung und Aneignung, Austausch und Dissens verflüssigen sich die Identitäten in diesem vielschichtig komponierten Roman. Fesselnde Lektüre, nicht nur für Musikexperten. Ein schillernder Spiegel gegenwärtiger Identitätsdebatten, in dem einfache Antworten verschwimmen und jedes Goin' Home auch ein neuer Aufbruch ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberWolke Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2024
ISBN9783955936006
Goin' Home: Oder: Ein Aufbruch

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    Buchvorschau

    Goin' Home - Christian Much

    Vorwort

    Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die sich so nicht zugetragen haben kann.

    Die Hauptfiguren führen miteinander lange, intensive Gespräche, obwohl sie nicht gleichzeitig lebten. Die Südtiroler Musikstudentin Petra und ihr nigerianischer Freund Bukar entstammen den Jahrgängen zwischen 1990 und 1995. Amy Beach lebte 1867–1944, Antonín Dvořák 1841–1904, Bud Powell 1924–1966, und Calliope, alias López, die alte Bibliothekarin, ist irgendwie zeitlos, was bedeuten kann, dass sie schon immer oder noch nie gelebt hat. All das deutet darauf hin, dass es sich beim vorliegenden Buch um einen (fantastischen) Roman handelt.

    Ein Roman, dem freilich auch Züge eines Sachbuchs anhaften, nämlich zu einem faszinierenden, außerhalb der USA (und selbst innerhalb derselben) jedoch weitgehend unbekannten Kapitel der Musikgeschichte: zum Zusammenspiel von weißer, Schwarzer und Native American Musik ab 1890. Die musikalische und geschichtliche Einführung am Anfang des Buches möchte in groben Zügen das nötige Hintergrundwissen vermitteln. Die Ausführungen in den nachfolgenden Kapiteln hingegen sind weder so umfassend noch methodisch so sauber, als dass sie den Ansprüchen eines Sachbuches gerecht würden. Musikgeschichte findet im Buch in dem Maße statt, wie sie für den Fortgang der Handlung relevant ist.

    Wer sich näher mit der erwähnten Musik und den jeweiligen US-amerikanischen Musikepochen beschäftigen will, sollte sich die quer durch das Buch verstreuten QR-Codes sowie die Informationen und Musikempfehlungen im Glossar am Ende des Buches zu Gemüte führen. Die QR-Codes beziehen sich auf das mit einer Raute () gekennzeichnete Werk und verweisen auf Fundstellen in Idagio und Youtube. Eine zusammenfassende Playlist der Stücke findet sich zudem auf Spotify ◊ und Idagio ◊. Die Auswahl der vorgeschlagenen Einspielungen ist meine eigene und zugegebenermaßen willkürlich. Andere ­mögen ebenso gut oder sogar besser sein. Farwell, Chadwick, Dawson, Price, Still, Griffes, Ballard, Cacioppo und die anderen sind ungehobene Schätze – graben lohnt sich!

    Neben Musikgeschichte bietet das Buch auch Lesestoff zu Boko ­Haram, zum Internationalen Strafgerichtshof und transitional ­justice (also zu Gerechtigkeitsfragen, die sich typischerweise in der Übergangsphase nach dem Ende eines Konflikts stellen) und in begrenztem Umfang zur Mythologie der alten Griechen und der Diné (­Navajo).

    Angesichts der Thematik des Romans ist es unausweichlich, aber auch gewollt, dass in den Gesprächen der Protagonisten Argumente aus den heutigen Debatten über Identität und kulturelle Aneignung mitschwingen. Den Roman kann (ja: sollte) man auch als identitätspolitische Moritat lesen, solange man berücksichtigt, dass eine Moritat immer nur eine (freilich exemplarisch gemeinte) Geschichte erzählt. Dieses Buch ist also keine als Roman getarnte Abhandlung über Identitätspolitik. Dazu hätte es einer differenzierteren Darstellung von Positionen und Gegenpositionen bedurft.

    Das bisher Gesagte klingt nach viel Ballast. In der Tat. Es wäre unredlich, das zu leugnen. Ich hoffe auf eine wissbegierige Leserschaft, die durch die Menge des angesprochenen Stoffes nicht überfordert, sondern, ganz im Gegenteil, in der Ansicht bestätigt wird, dass die Welt bunt, vielfältig und voller unbekannter Schätze ist; dass Identitäten sich aus einer schier unendlichen, unser Erfahrungsarsenal überschreitenden Fülle von Variablen zusammensetzen, die sich untereinander immer neu kombinieren; dass Identitäten nur selten ein Endpunkt sind, sondern meistens der Ausgangspunkt von etwas Neuem. Nur diese Art von Offenheit führt uns weg von engen, statischen, im Extremfall ›rassisch‹ determinierten Definitionen. Eine Identität an einer einzelnen Eigenschaft festzumachen, insbesondere an einem Gen oder an einem Geschlecht, und die Identität damit in ein Korsett zu zwingen, das die vielen anderen Eigenschaften und Potenziale eines Menschen aussperrt, ist etwas, das meines Erachtens jedem emanzipationsgläubigen Menschen suspekt sein sollte.

    Offenheit, in der eine Identität weit über ihren Tellerrand hinausblicken und sich deswegen in neue Gefilde hinein entfalten kann, wird nirgends so deutlich und nirgends so breitenwirksam akzeptiert wie in der Musik. In ihr pflegte man Interkulturalität schon lange bevor es Begriffe wie world music, crossover und fusion gab. Die eigentliche Frage ist meines Erachtens nicht, ob die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Anderen stattfinden soll, sondern wie. Die im Roman erwähnten Vier Gebote, die Amy Beach hierzu aufstellt, sind leider nur erfunden.

    Eines ihrer zentralen Elemente ist der Respekt. Dieser veranlasst mich zu einer wichtigen Klarstellung: Soweit im Roman Wörter verwendet werden, die nach heutigem Sprachgebrauch verletzend wirken können, hoffe ich, dass der jeweilige Dialog-Kontext diese Wörter als situativ bedingtes rhetorisches Ausdrucksmittel erklärt, sie problematisiert oder sich von ihnen distanziert. Es täte mir aufrichtig leid, wenn sich jemand respektlos angesprochen fühlte.

    Musikwissenschaftliche, biografische und sonstige Informationen habe ich nach besten Kräften recherchiert, teilweise bis ins Detail. Die Köchin im historischen Minton’s Playhouse in Harlem hieß tatsächlich Adelle; Dvořák las im Café Boulevard tatsächlich die Národní listy. Charlotte Hubach war die heute vergessene Bibliothekarin, die in der Ottendorfer Bibliothek die im Roman erwähnten Exilkunst-Veranstaltungen organisierte. Auch das Massaker, das Boko Haram Anfang Januar 2015 in Baga und Umgebung anrichtete, hat sich so zugetragen, wie Bukar es schildert.

    Ich verzichte jedoch auf präzise Quellenangaben, um den Anschein zu vermeiden, dass das Sachbuchhafte gegenüber den Romanelementen überwiegt. Das Gegenteil ist der Fall. Einzelne Episoden und Dialoge des Romans sind – so sehr sie sich bemühen, die Gedankenwelten der Hauptfiguren plausibel zu spiegeln – rein romanhaft und nur der Dramatisierung oder Verdichtung eines Arguments geschuldet.

    Das gilt zum Beispiel für die Kontakte zwischen Amy Beach und Béla Bartók. Letzterer verdient näher beleuchtet zu werden, nicht zuletzt wegen der Parallelen, vor allem der Unterschiede zwischen seiner und Arthur Farwells Biografie. In der Realität trafen sich Amy Beach und Béla Bartók nur ein einziges Mal, nämlich im Februar 1928 im New Yorker Salon der Komponistin Ethel Hier. Obwohl Beach eine emsige Briefeschreiberin war, gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine Korrespondenz mit Bartók. Im Buch erwähnte Zitate aus Bartók-Briefen stammen aus seinen Briefen an andere Adressaten.

    Begegnungen zwischen Beach und Farwell gab es hingegen. Da beide gerne schrieben, ist es gut möglich, dass sie auch einen ­schriftlichen Meinungsaustausch pflegten. Belegt ist das jedoch nicht. In Farwells umfangreichem Nachlass-Archiv ist kein Brief von Amy Beach ent­halten.

    Erfunden ist auch, dass Bud Powells Großvater 1893 die Weltausstellung in Chicago besuchte und das dort Erlebte ihn so intensiv schockierte, dass er glaubte, es am eigenen Leib erlebt zu haben. Dadurch wird die Episode jedoch nicht zur reinen Fantasie. Die im Roman erwähnten Umstände der Zurschaustellung von Angehörigen des Volkes der Fon (aus Dahomey, dem heutigen Benin) sind authentisch; das Entsetzen des Großvaters steht stellvertretend für die Reaktion anderer Schwarzer, die die Chicagoer Ausstellung tatsächlich besucht haben.

    Um dem Gebot der Transparenz halbwegs gerecht zu werden, vor allem aber aus dem Bedürfnis heraus, meinen aufrichtigen Dank gegenüber denjenigen zu bekunden, die mir ihren Sachverstand und ihre Inspiration geschenkt haben, ist es mir eine angenehme Pflicht, ein paar Namen zu nennen: Joseph Horowitz, der drei enorm kenntnisreiche, dazu klug und geschmackvoll urteilende Bücher über Klassische Musik in Amerika, über Dvořáks Prophezeiung und über das Moral fire einiger von Dvořáks US-amerikanischen Zeitgenossen geschrieben hat; der eminente Dvořák-Kenner Prof. Michael Beckerman, der mir neben vielen interessanten Detailinformationen auch ein Briefchen von Amy Beach schenkte, das im Roman eine nicht unwichtige Nebenrolle spielt; die trotz fortgeschrittenen Alters immer noch quirlige, auf Beach und andere US-amerikanische Komponistinnen spezialisierte Pianistin Virginia Eskin, die ein sehr inspirierendes, aber leider nie veröffentlichtes Kinderbuch über Amy Beach geschrieben hat; der US-amerikanische Komponist Curt Cacioppo, der auf der Grundlage seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Indianists und seiner großen kulturellen Aufgeschlossenheit vorführt, wie die historisch ambivalente Begegnung zwischen weißen und Native American Musikern auf respektvolle und musikalisch betörende Art und Weise in die Gegenwart hinein fortgeschrieben werden kann.

    Hilfreich waren mir auch die Amy Beach-Biografie von Adrienne Fried Block, die Bud Powell-Biografie von Guthrie P. Ramsey, die Dvořák-Biografie von Klaus Döge und die eher uninspirierten, aber buchhalterisch genauen und deswegen für die Wahrnehmung von Alltags-Details sehr aufschlussreichen Chroniken des Dvořák-Assistenten Josef Kovaˇrík und von Walter S. Jenkins, einem Bekannten von Amy Beach. Beeindruckend fand ich Beth Levys kenntnisreiche und meinungsstarke Zusammenschau von Musik- und Gesellschaftsgeschichte im US-amerikanischen Westen (Frontier Figures). Für das bessere Verständnis von Béla Bartók half mir Tibor Talliáns Biografie. Das monumentale, ebenfalls im wolke verlag erschienene Werk Musik der USA von Wolfgang Rathert und Berndt Ostendorf holt musik- und ideengeschichtlich sehr viel weiter aus als dieser Roman, gerade auch hinsichtlich der nationalen Findungsphase der US-amerikanischen Musik, des Indianism, der musikalischen Expansion des Pioniergeistes in den US-amerikanischen Westen und der Ursprünge, Bedeutung und Identität von Blues und Jazz. Als Folge dieser Enzyklopädik verwundert es nicht, dass es hinsichtlich der in diesem Roman vorkommenden Künstlerpersönlichkeiten oft weniger biografische Details enthält.

    Ich danke all denen, die mich in der Entstehungsphase des Romans als aufmerksame und stilkritische Erstleser unterstützt haben, vor allem meine Tochter Valerie, Jacqueline Passon und Achim Lange. Den endgültigen Schliff erhielt das Buch inhaltlich und gestalterisch durch Peter Mischung, den Chef des wolke verlags, und Karl Ludwig, den ebenso stilsicheren wie geduldigen Lektor des Verlags. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

    Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich meiner Lebensgefährtin Hanni. Ohne ihr Zutun wäre die Reise, die wir im April 2022 zum Zwecke von Recherchen nach New York unternahmen, nicht so ergiebig und so angenehm verlaufen. Sie hat mir mehr als ein Jahr lang verziehen, dass sich mein Kopf häufig an einem anderen Ort in einer anderen Zeit befand. Aber warum sollte es meinem Kopf besser gehen als dem von Amelie, Tony oder López?

    ***

    »Wie soll ich anfangen?«

    Petra trinkt einen Schluck Espresso. Sie starrt auf ihren Computerbildschirm, als ob sie erwarte, dass ihr die Antwort entgegenspringt.

    Bukar hat sich direkt hinter sie gestellt. Er stützt seine Hände auf ihre Schultern, neigt sich vor, drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

    »Du schreibst doch nicht zum ersten Mal.

    Okay, Dein erster Roman. Keine Seminararbeit.

    Aber, mein Gott, die Grundregeln sind dieselben. Sei ehrlich und verständlich. Vergiss den Hype um den ersten Satz. Er ist gar nichts. Ich entscheide nie nach dem ersten Satz, ob ich weiterlese oder nicht.«

    »Wirklich? Das sagst ausgerechnet Du? Hat man Dir damals beim Lagos Herald nicht eingebläut: Was zählt, ist der erste Satz?«

    »Ja, schon. Aber was ein guter erster Satz ist, dafür gibt es nur eine Regel: er darf nicht abstoßend schlecht sein. ›Konzentriere Dich auf den ersten Satz‹ sagt man denen, die am Anfang gewaltig auf die Pauke hauen müssen, weil man annimmt, dass danach nicht mehr viel kommt. Die sonst nichts draufhaben. Zu denen zählst Du doch nicht.«

    »Lass die Schmeicheleien … Bukar, bitte, hilf mir. Wie soll ich anfangen?«

    Bukar geht in die Küche. Dort gedenkt er wohl auch eine Weile zu bleiben. Sonst hätte er nicht die Schürze angelegt. Sein Schweigen sagt alles: erwarte von mir keine Antwort. Du wirst schon selbst darauf ­kommen.

    Petra versteht und schaut zum Fenster hinaus. Es regnet. Feuchtkalte Luft dringt durch die Ritze zwischen den verquollenen Holzfenster­flügeln. Sie lassen sich nur noch widerwillig schließen. Die Wetter-App bestätigt: Ein Tief, soweit die Vorhersage reicht. Dauerregen. Schiebt sich von der Nordsee ungehindert nach Brüssel, krallt sich dort fest. So hartnäckig wie die Brüsseler, die sich im nächsten Restaurant an ein Bier und eine Schüssel Moules frites klammern, oder ans Flipper-Gerät in der Eckkneipe, um von der Herbst-Tristesse nicht weggespült zu werden.

    »Soll ich mit Tony und Amelie anfangen? Erklären, wer sie sind, was sie uns zu sagen hatten? Mit López? Nein, nicht mit López. Aus ihr werde ich immer noch nicht schlau. Also mit Bob? Soll ich chronologisch vorgehen, ganz sachlich erklären, warum wir nach New York gereist sind, wegen meiner Ladehemmung mit der Doktorarbeit und Deiner Frustration mit dem Boko Haram-Verfahren? Oder soll ich die Geschichte von hinten aufrollen – unsere Hoffnung erklären, dass die Heimkehr auch ein neuer Aufbruch ist?«

    In diesem Moment kommt Bukar, immer noch beschürzt, mit zwei Gläsern zurück ins Wohnzimmer. Sein Gang stockt. Er schaut Petra ­prüfend an.

    »Sag das nochmal.«

    »Was denn? Ich quatsche am laufenden Meter. Was soll ich wiederholen?«

    »Deinen letzten Satz.«

    »Warum?«

    »Ein guter erster Satz.«

    Petra besinnt sich. Was habe ich zuletzt gesagt? »Jede Heimkehr ist ein neuer Aufbruch. – Meinst Du den?«

    »Ja, den meine ich. Fast. So hast Du ihn aber nicht gesagt. ›Heimkehr ist Aufbruch, A gleich B‹. Das wäre zu kategorisch. Du hast im Konjunktiv gesprochen. Von einer Hoffnung. Heimkehr bedeutet doch zunächst einmal, dass Du zuhause bist und da bleiben willst, statt gleich wieder aufzubrechen. Du schläfst wieder im eigenen Bett, kommst zu Dir, bist zufrieden, weil ein Leben im gewohnten heimischen Gleichgewicht wirklich guttut. Du fühlst Dich wie in einem schönen Garten. Seine Kräuter regen Dich an mit ihrem Duft, sie heilen Deine Wunden und stärken Dich.

    Aber dann …«

    Bukars Augen schießen ein paar Blitze zwischen Petras ebenfalls weit geöffnete Augen.

    »… dann kommt der Tag, an dem Du in Dich hineinhorchst.«

    Bukar tippelt wie eine sprungbereite Katze.

    »Da ist dieser kleine Unruhegeist. Er flüstert Dir zu: ›Sei nicht so behäbig, es gibt noch bessere Gleichgewichte als Dein jetziges! Dein ›Ich‹ könnte ein vollkommeneres, ein glücklicheres sein!‹ Und Du schaust in die Ferne und sagst: Ich breche jetzt wieder auf. Wohin? Zur nächsten Heimkehr.«

    Seit ihrem Kennenlernen vor zwei Jahren hat Petra immer wieder bewundert, mit welcher Eloquenz, mit welch treffsicherer Gestik und, nicht zuletzt, mit wie viel Scharfsinn Bukar aus dem Stehgreif feurige Plädoyers halten kann. Ein Journalist durch und durch.

    »Du meinst, ich sollte sagen: ›Jede Heimkehr birgt die Chance zu einem neuen Aufbruch‹?«

    »Ja, genau so. – Passt das nicht zu unserer Reise nach New York?«

    »Ja, irgendwie schon. Tony, der Musik-Nomade, sowieso. Amelie … und Bob …«

    Bukar nimmt die Schürze ab, setzt sich neben Petra auf das Sofa und reicht ihr eines der beiden Gläser. Er stellt seines auf den Couchtisch, legt den Arm um sie und drückt sie an sich.

    Kurz danach löst er plötzlich die Umarmung, springt auf und schleicht mit federnden Schritten zum Bücherregal.

    »Du weißt, was ich jetzt auflege.«

    Er tippt mit dem Zeigefinger auf den Mund, schließt die Augen und wartet konzentriert auf den Beginn der Musik. Als die ersten schüchternen Klaviertöne erklingen, sagt er, Bobs raue, abgehackte Stimme imitierend und den Körper nervös in kurzen, eckigen Bewegungen vor und zurück wippend, so wie Bob es immer tat:

    »Leute, hört mal zu. Goin’ home. Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen Welt, eine amerikanische Sinfonie voll böhmischem Heimweh. Zweiter Satz. Prächtige Melodie! Klingt fast wie ein Spiritual. Ist aber keins. Bis William Arms Fisher kam, ein Schüler von Dvořák. Sein Text und sein Chorsatz verwandeln das Stück in einen Gospel Song. Und dann Art Tatum! Da wird aus Fishers böhmischem Gospel Song eine waschecht amerikanische Jazz-Nummer. Rechte Hand: Schmachtet ganz romantisch. Und rast dann plötzlich in den irrwitzigsten Tongirlanden die Tastatur rauf und runter. Linke Hand: Hüpft wie bestes Stride Piano, aber in den schrägsten Harmonien. Wahnsinn! Dvořák, Scott Joplin, Liszt, Tatum! Alles in einem Stück! Hey, Leute, seid Ihr mitgekommen? Wie oft ist das Stück von einer Schublade in die nächste gerutscht, angekommen und wieder aufgebrochen? Ja – das ist wahre Kunst. Geben und Nehmen. In der Kunst gibt’s keine jungfräu­liche Empfängnis. Merkt Euch das, bevor Ihr über andere richtet.«

    Bukar bricht ab, schaut Petra mit funkelnden Augen an. Sie schüttelt ungläubig den Kopf, denkt an den Abschied von López und wischt eine Träne weg. »Das hast Du Dir alles gemerkt? Wort für Wort?«

    »Oh ja! Wie sollte ich das jemals vergessen? Von Deinen Fachsimpeleien mit Tony und Amelie habe ich bestenfalls die Hälfte verstanden. Aber was Bob sagte, das bleibt. Das nährt mich, wenn ich mal wieder hungrig und neugierig bin.«

    »Jetzt tiefstaple mal nicht so!« erwidert Petra. »Du hast enorm viel verstanden. Hungriger, neugieriger Journalist, der Du bist! Du lernst mit solcher Leichtigkeit … ich bin immer wieder ganz baff!«

    »Glaubst Du?«

    »Vor der Reise wusstest Du jedenfalls nicht, was ›Stride Piano‹ bedeutet.«

    »Stimmt«, sagt Bukar. Er setzt sich auf einen Stuhl und vollführt auf dem Oberschenkel mit der linken Hand die typische, von einer Bass­note zu einem höher gelegenen Akkord schreitende Bewegung. Typisch für den Ragtime, dann von Duke Ellington und Art Tatum zu virtuoser Perfektion getrieben. »Um-ta, um-ta …«

    Petra winkt Bukar zu sich aufs Sofa.

    »Komm her. ›Hungrig und neugierig‹ wären auch schöne Eröffnungsworte, oder?«

    »Definitiv! Nachher, wenn wir das Licht ausmachen. Aber für das Buch finde ich das mit der Heimkehr und dem Aufbruch besser.«

    So ein Charmeur, denkt Petra. Auch nach zwei Jahren macht er mir Gänsehaut.

    »Und auf dem Cover, was steht da?«

    »Warte, … ich hab’s!«

    So ergibt es sich, dass Petra als erstes diese Worte in den Computer tippt:

    Goin’ Home

    Jede Heimkehr birgt die Chance zu einem neuen Aufbruch. Seit unserer Rückkehr aus New York vor ziemlich genau einer Woche wird uns das immer klarer, obwohl wir beide bestenfalls ahnen, wohin der Aufbruch uns führt.

    Vorgestern habe ich ausführlich meinem Doktorvater in Innsbruck geschrieben. ›Tut mir leid, bat ich ihn um Verständnis, aber ich schaffe es nicht, über das vereinbarte Thema etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen. Antonín Dvořák und Amy Beach als Gegenpole in der Debatte über eine nationale Musik der Vereinigten Staaten von Amerika – ein Vorbote heutiger identitätspolitischer Kontroversen? Das Thema halte ich aus mehreren Gründen für schief.‹

    Den nächsten Absatz bricht Petra nach ein paar Wörtern ab. Gerade als sie loslegen will, in musikwissenschaftlich trainierter Diktion zu erklären, was sie erstens, zweitens, drittens am Thema der Doktorarbeit für ›schief‹ hält, fragt sie sich: Für wen schreibe ich eigentlich? Für den engen Kreis meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Musikwissenschaft? Oder für ein neues, breiteres Publikum? Für Menschen, denen ich mit meinem Tatsachenbericht dabei helfen will, ein faszinierendes Kapitel der Musikgeschichte kennenzulernen? Für Menschen, die ich auch für das geschichtliche Drumrum interessieren möchte? Ja, für die. Na gut. Dann muss ich wohl oder übel in einem Vorwort erklären, was der historische und musikwissenschaftliche Hintergrund meines Berichts ist.

    Petra fängt also nochmal an:

    Musikalische und geschichtliche Einführung

    Im Juni 1891 fragte Jeannette Thurber, die Präsidentin des New York Conservatory of Music, den tschechischen Komponisten Antonín Dvořák, ob er die Stelle des Direktors dieser zwar jungen, aber ehrgeizigen Institution annehmen wolle.

    Dvořák erschien den amerikanischen Musikfreunden dafür prädestiniert. Sein Ruf, der Begründer einer tschechischen Nationalmusik zu sein, war mittlerweile über den Atlantik geschwappt.

    Als Alternative erwog man Jean Sibelius. Auch er galt als Wegbereiter einer nationalen Schule (der finnischen), aber sein Ruf war weitaus weniger gefestigt und es hieß, dass er zu viel trinke.

    Das Entgelt, das man Dvořák anbot, belief sich auf jährlich 15.000 Dollar. Zehnfach mehr als das, was er in Prag verdiente.

    Nach einigem Zögern nahm er an. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Auf Vermittlung von Johannes Brahms hatte man ihm ein nicht weniger lukratives Angebot gemacht: die Direktorenstelle des Wiener Konservatoriums. Aber was würde man in seiner Heimat, dem anti-habsburgischen Böhmen sagen, wenn er es akzeptierte.

    Aus New Yorker Sicht ging es um einen großen Coup. Die Entdeckung Amerikas durch Columbus lag exakt vierhundert Jahre zurück. Getragen von einem gigantischen Boom in Handel und Industrialisierung sowie von dem subkutan schon immer vorhandenen Gefühl, etwas Besonderes zu sein, befanden sich die USA und an ihrer ­Spitze das umtriebige New York in einer nationalen Aufbruchsstimmung. Dvořák sollte dabei ›helfen, der von Columbus gefundenen Neuen Welt die neue Welt der [eigenen] Musik hinzuzufügen‹. So forderte es unmissverständlich der millionenschwere Mäzen Thomas Wenthworth Higginson in seiner Begrüßungsansprache anlässlich des Einführungskonzerts am 21. Oktober 1892.

    Nicht nur Frau Thurber, sondern auch andere tonangebende Persönlichkeiten des US-amerikanischen Musiklebens, darunter der wortgewaltige Musikkritiker Henry Krehbiel¹, meinten, dass Amerikas Stunde gekommen sei, um sich aus der Abhängigkeit von fremden Kulturen zu befreien.

    In der Musik hieß das: sich lösen vom nahezu monopolistischen Einfluss der deutschen Musikhochschulen; sich verabschieden von der Vorbildrolle immer neuer, in die USA entsandter deutscher und österreichischer Musiker und Dirigenten; dem in der Publikumsgunst ganz oben rangierenden, Beethoven- und Wagner-lastigen Konzert­repertoire ein eigenes mit unverwechselbarem amerikanischem Flair an die Seite stellen.

    Schon ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in New York, beflügelt durch Kontakte mit den Konservatoriums-Studenten und mit seinem Schwarzen Assistenten Harry Thacker Burleigh², verkündete Dvořák am 21. Mai 1893 in einem Artikel des New York Herald, dass er fündig geworden sei:

    Ich bin jetzt überzeugt, dass die zukünftige Musik dieses Landes auf dem basieren muss, was man Negerlieder nennt. Das muss die wirkliche Grundlage einer jeden ernsthaften und originellen Schule der Komposition sein, welche in den Vereinigten Staaten zu entwickeln ist. Diese schönen und vielfältigen Lieder sind das Produkt des Landes. Sie sind amerikanisch. In den Negerliedern finde ich alles, was für eine bedeutende und vornehme Schule der Musik nötig ist. Sie sind pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, feierlich, religiös, verwegen, lustig, fröhlich …

    Im Sommer 1893 verbrachte Dvořák seinen Urlaub in Spillville (Iowa), einem kleinen, bäuerlichen, von tschechischen Immigranten besiedelten Ort, aus dem auch Josef Kovaˇrík stammte, der junge Mann, der Dvořák während seiner gesamten in den USA verbrachten Zeit als Assistent begleitete. In Spillville begegnete Dvořák mehrfach Native Americans und ihrer Musik. Im Dezember 1893 erweiterte er seine Liebeserklärung an die US-amerikanische Musik in einem Artikel des New York Herald:

    Seit ich in diesem Lande bin, galt mein tiefstes Interesse der Volksmusik der Neger und der Indianer […] und ich beabsichtige, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Aufmerksamkeit auf deren glänzenden Melodienschatz zu lenken.

    Aus dieser Haltung heraus komponierte Dvořák die Sinfonie Aus der Neuen Welt ◊, die am 16. Dezember 1893 in New York mit großem Erfolg uraufgeführt wurde.

    Mit seinen Äußerungen zu den Schwarzen und Native American Grundlagen der US-amerikanischen Musik hingegen erntete Dvořák neben einiger Zustimmung auch Unverständnis, ja Ablehnung. Der Komponist Edward MacDowell³ hielt eine nationale amerikanische Musik für ebenso überflüssig wie jede andere nationale Musik. Die Sprache der Musik sei universal, nicht national. Andere Kritiker stießen sich an Dvořáks Vorliebe für afroamerikanische Musik. Böse Zungen, beispielsweise der Musikkritiker des Boston Herald, Philip Hale, sprachen ›den Negern‹ jegliche Musikalität ab. Ihre Musik sei das kakophone Produkt einer niederrangigen Kultur. Als Grundlage einer nationalen US-amerikanischen Musik sei so etwas völlig unbrauchbar.

    Amy Marcy Cheney, die sich in Boston gerade anschickte, als Pianistin und Komponistin den Schritt vom musikalischen Wunderkind zur etablierten Künstlerin zu absolvieren und, dank ihres Mannes, des ­Chirurgen Henry Harris Aubrey Beach, als ›Mrs H. H. A. Beach‹ ihre Stellung in Bostons Oberschicht zu festigen, erhob den spitz­findigen Einwand, die Schwarzen Amerikaner seien ebenso eingewandert wie alle anderen Amerikaner (mit Ausnahme der ›Indians and Esquimaux‹). Schon allein deswegen kämen sie als Quellen einer autochthonen amerikanischen Musik nicht in Betracht.

    Über dieses formale Argument hinaus machte Amy Beach noch Folgendes geltend (in einer Ende Mai ١٨٩٣ vom Boston Herald veröffentlichten Sammlung von Stellungnahmen zu Dvořáks Empfehlung):

    Um die Volksmusik einer Nation als Kompositionsmaterial zu verwenden, sollte der Komponist nach meinem Eindruck dem Volk, dessen Musik er ver­wendet, angehören oder zumindest in diesem Volk aufgezogen worden sein.

    Woraufhin sie gewissermaßen zur Bekräftigung dieser Aussage einen ihrer frühen Publikumserfolge schrieb, nämlich die Gälische Sinfonie ◊ – im Tonfall ähnlich Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen Welt, aber unter Verwendung von Volksliedern aus der schottischen und irischen Heimat ihrer Vorfahren, anstelle der von Dvořák benutzten afroamerikanisch oder ›indianisch‹ inspirierten Melodien. In späteren Jahren vollzog Amy Beach freilich einen Sinneswandel. Einige ihrer besten Kompositionen, darunter ihr Streichquartett in einem Satz, ihr Thema und Variationen für Querflöte und Streichquartett und die vier Eskimo-Charakterstücke, basieren auf Inuit-Melodien; zusätzlich verarbeitete sie Melodien aus dem Balkan⁴ und schrieb Variationen über Die Tiroler sind lustig⁵.

    Was war die Kontroverse zwischen Dvořák und Beach über die Grundlagen der US-amerikanischen Musik? Nichts weiter als eine von vielen Nickligkeiten zwischen dem puritanischen Boston und dem weltoffenen New York – zwischen zwei Städten, deren Bewohner ihre Einwanderung im einen Fall stolz auf die Mayflower zurückführten und im anderen, ebenso stolz, auf Ellis Island?

    Oder ging es Dvořák und Beach – fernab der von ihnen bemühten Prinzipien – einfach nur darum, etwas für sich selbst zu erreichen: Dvořák, indem er den gut bezahlten Auftrag des New Yorker Konservatoriums mit einer Empfehlung abhakte, die seinem Naturell entsprechend instinktiv volksnah ausfiel; Beach, indem sie als Tochter aus gutbürgerlichem Bostoner Patrizier-Hause ihren Platz im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und künstlerischen Universums gegenüber dem seinerzeit gewaltigen Zustrom nicht-anglosächsischer Migranten und gegenüber sonstigen Parvenüs verteidigte?

    Das würde wohl zu kurz greifen.

    Dvořáks und Beachs Kontroverse war nicht auf diese beiden Künstler beschränkt, sondern ging weit über sie hinaus. Sie hatte vor Dvořáks Ankunft in den USA begonnen und bewegte die Gemüter bis weit ins nächste Jahrhundert hinein.

    In ihm entfalteten sich musikalische Trends, die Dvořák zweifellos angestoßen hatte, deren Verlauf und Ausmaße er während seines USA-Aufenthaltes jedoch unmöglich vorhersehen konnte.

    Einer dieser Trends war das Emporkommen begnadeter afroamerikanischer Musiker. Für die langfristige Entwicklung der US-amerikanischen Musik war dies nicht nur der wichtigste Trend, sondern auch derjenige, der Dvořák am klarsten zugerechnet werden kann.

    Unter diesen afroamerikanischen Musikern war Dvořáks schon erwähnter Assistent Harry Burleigh einer der ersten. Weitere folgten: Komponisten, von denen sich einige als Gleichrangige ins Panoptikum westlich geprägter Spätromantiker einfügten, oftmals in expliziter Nachfolge zu Dvořák, aber mit ihrem besonderen Zungenschlag: heute zu Unrecht kaum beachtete Komponisten wie William Dawson, ­Florence Price, William Grant Still und Nathaniel Dett.

    Einen noch wichtigeren afroamerikanischen Beitrag zur musikalischen Identität der USA lieferte die rasante Entwicklung des Jazz. Dessen Ursprünge reichen nicht nur nach New Orleans und zu den Gospel Songs, sondern auch zu den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreiteten Minstrel Shows zurück – eine musikalische Kategorie, in der sich die fortbestehende Rassendiskriminierung auf das Erbärmlichste spiegelt: populär-musikalische Bühnenstücke nicht nur weißer, sondern auch Schwarzer Komponisten, in denen rassische Stereo­typen von schwarz geschminkten (blackfaced) weißen Darstellern, aber auch von Schwarzen gepflegt wurden. Shows der rassistischen Verhöhnung, in denen Schwarze allerdings auch, freilich nur um den Preis der Selbstverleugnung, die Chance erhielten, afroamerikanische ­Musik in den musikalischen Mainstream zu überführen und als Musiker bekannt zu werden. Unter den Schwarzen Komponisten und Solisten, die über die Minstrel Shows in den Musikmarkt kamen, befanden sich auch der legendäre Jazz-Pianist Jelly Roll Morton (1890–1941), die ›Kaiserin des Blues‹ Bessie Smith (1894–1937) und der Swing- und Bebop-­Saxofonist Lester Young (1909–1959), auf den ich später noch einmal eingehen werde.

    In der Rückschau auf das vergangene Jahrhundert verkörpert der Jazz die US-Musik schlechthin. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte er (auch in einer seiner Urformen, dem Ragtime) bereits Eingang in die westliche bürgerliche Kunstmusik gefunden, zum Beispiel bei Strawinsky, Ravel und Debussy. Jazz wurde eine der wichtigsten Formen der Unterhaltungsmusik (nicht nur für Schwarze, sondern als von Big Bands gespielter Swing auch zunehmend für Weiße) und prägte weiße US-amerikanische Komponisten wie Gershwin und Cop­land.

    Dem afroamerikanischen musikalischen Geländegewinn – in der Klassik und im Jazz – hatte Dvořák die Türen geöffnet. Einem herablassenden Zeitgeist zuwider hatte er Schwarze Musik geadelt.

    Die Kontroverse um die Herausbildung einer US-amerikanischen Musik ist eingebettet in eine sehr viel breitere geistesgeschichtliche und politische Debatte. In ihr ging es um nichts Geringeres als um die ›Bestimmung‹⁶ der Vereinigten Staaten und um das Zusammenleben von ethnisch unterschiedlichen Menschen – in den USA schon immer ein heißes Eisen.

    Die ›Eroberung des Westens‹ galt 1890 als abgehakt. Nun, so hieß es, brauchen die USA nicht nur innere Reformen, wie die von den Progressivisten⁷ angestrebte Überwindung von sozialen und politischen Missständen (Verarmung des rasch wachsenden Proletariats, Mängel im demokratischen System, Korruption), sondern eine neue gesellschaftliche Herausforderung, um die bei der Eroberung des Westens unter Beweis gestellte Stärke und Vitalität nicht zu verlieren. Worin die Herausforderung liegt, dazu gab es recht unterschiedliche Ansichten.

    Theodore Roosevelt, der zukünftige, außenpolitisch dem big stick huldigende US-Präsident (1901–1909), suggerierte 1884 in seinem Bestseller ›Die Eroberung des Westens‹ (The Winning of the West), dass die USA ihr Heil darin suchen müssten, die im Pionier-Dasein entwickelten ›Anpacker-Qualitäten‹ (salopp gesagt: ihr Cowboy-Tum) zu pflegen.

    Der Historiker Frederick Jackson fand eine andere Antwort – in einem Vortrag, den er 1893 auf der Weltausstellung in Chicago hielt und den mit einiger Wahrscheinlichkeit auch zwei illustre Besucher der Weltausstellung registrierten: Antonín Dvořák und Amy Beach. Die Lösung, so Jackson, liege nicht im Machismo des Großwildjägers Roosevelt. Vielmehr müssten als Ergebnis einer großen, quasi missionarischen Anstrengung die kulturell angeblich rückständigen Ethnien, sprich: die Afroamerikaner und die amerikanischen

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