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Die Mahlers in New York
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eBook403 Seiten4 Stunden

Die Mahlers in New York

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Über dieses E-Book

»Gustav Mahler war für Amerika nicht bestimmt. Fernab seines gewohnten Ambientes wirft Mahlers holprige New Yorker Karriere – an der Metropolitan Opera und bei den New Yorker Philharmonikern (1907–1911) – ein überdeutliches Schlaglicht auf seine Eigenheiten. Über den Menschen Mahler lernt man in Manhattan Dinge, die in Wien oder Budapest nicht so leicht zu beobachten waren. Das ist meine erste Prämisse.« Joseph Horowitz – Musikkritiker, Autor und Forscher – beleuchtet in seinem nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman Gustav Mahlers Seitenspiel in den USA. Im Licht eines anderen Kontinents und vor dem Hintergrund eines oft unterschätzen Musiklebens im New York der Jahrhundertwende erscheint die Person und die Kunst Gustav Mahlers ungleich schärfer konturiert. Mit kenntnisreichem Einfühlungsvermögen, musikalischer Hellhörigkeit und psychologischer Schärfe gelingt Joseph Horowitz eine ganz neue Art, Erkenntnisse über den weltberühmten Komponisten zu erlangen.
SpracheDeutsch
HerausgeberWolke Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2024
ISBN9783955936013
Die Mahlers in New York

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    Buchvorschau

    Die Mahlers in New York - Joseph Horowitz

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    Vorwort

    Gustav Mahler war für Amerika nicht bestimmt. Fernab seines gewohnten Ambientes wirft Mahlers holprige New Yorker Karriere – an der Metropolitan Opera und bei den New Yorker Philharmonikern (1907–1911) – ein überdeutliches Schlaglicht auf seine Eigenheiten. Über den Menschen Mahler lernt man in Manhattan Dinge, die in Wien oder Budapest nicht so leicht zu beobachten waren. Das ist meine erste Prämisse.

    Meine zweite: Ich habe herausgefunden, dass ich Manches über Mahler nur – oder am besten – sagen kann, wenn ich es in Form eines historischen Romans erzähle. Ich bin in der Tat überzeugt, dass dieses Buch ein guter Nachweis dafür ist, wie sehr historische Romane dazu taugen, Kulturgeschichte lebendig werden zu lassen.

    Unter den zahlreichen bemerkenswerten Musiker-Persönlichkeiten, die das New York des fin de siècle in eine herausragende musikalische Hochburg verwandelten, gibt es zwei mit einem besonderen Bezug zu Mahler: Anton Seidl und Henry Krehbiel. Seidl, ein messianischer Dirigent, der mehr als jeder andere von Richard Wagner protegiert wurde, war Mahlers vorzüglichster Vorgänger sowohl an der Metropolitan Opera als auch bei den Philharmonikern. Krehbiel, der Papst der New Yorker Musikkritiker, war Mahlers größter Gegenspieler in der Neuen Welt. In Mahlers Unfähigkeit, die Bedeutung und die Leistungen beider Männer anzuerkennen, offenbart sich eine arrogant anmutende Selbstbezogenheit. Zuhause gab es keine Seidls oder Krehbiels. Gleichzeitig fällt auf, dass Mahler in New York nicht weniger Kontroversen auslöste als anderswo. Die Anfeindungen, denen Mahler in Wien ausgesetzt war, werden üblicherweise dem Antisemitismus angelastet; dass dieser in Mahlers New York weitgehend fehlte, lässt diese Deutung in einem neuen Licht erscheinen.

    Alle mir bekannten Mahler-Biographien sind aus europäischer Per­spektive geschrieben. Nicht anders als Mahler selbst verraten auch sie, dass sie von der Neuen Welt – von Seidl, Krehbiel und dem regen Musikleben in Manhattan und Brooklyn – nur wenig verstanden haben. Die Mahlers in New York versteht sich auch als ein Korrektiv hierzu. Es ist meines Wissens die erste Abhandlung in Buchlänge über Mahler in New York.

    Eine weitere Motivation zum Schreiben geht auf meine ersten Erfahrungen mit historischen Romanen zurück. Mein Jugendbuch Dvořák and America (2003) baute auf einem früheren Roman auf: Wagner Nights: An American History (1994). Darin war es mir gelungen, Anton Seidl, der die Metropolitan Opera und die New Yorker Philharmoniker mit größerem Erfolg als Mahler geleitet hatte, der Vergessenheit zu entreißen. Ich fand zwei einschlägige Archive: eines an der Columbia University aus dem Nachlass von Seidls Witwe; das andere bei der Brooklyn Historical Society aus dem Nachlass von Laura Langford, der ehemaligen Vorsitzenden der Seidl-Gesellschaft. Keines der beiden Archive war jemals katalogisiert worden; bestenfalls fand ich chronologisch geordnete Kisten vor. Im Zuge meiner Recherchen sortierte ich viel Privates und entdeckte dabei rührende persönliche Briefe, eine Partitur mit persönlichen Anmerkungen, eine von Seidl handgeschriebene Komposition für Kinder. Einmal fand ich einen Brief, in dem Seidl Mrs. Langford erklärte, warum es seinem manchmal recht unberechenbaren Freund Dvořák gleichgültig sein könnte, eine Einladung nach Brooklyn anzunehmen. Ein anderes Mal stieß ich auf einen glühenden, sorgfältig mit Bleistift ausgearbeiteten Redeentwurf, in dem Seidl beschwor, wie wichtig es sei, den ›guten Menschen‹ Kunst darzubieten:

    Es reicht nicht, den Armen in den Parks freie Musik anzubieten. Die Bands müssen zudem gute Musik spielen. Das Volk versteht sie zunächst nicht, wird sie aber später mit mehr Kraft und Schwung nachpfeifen als der Reiche, der in seiner Loge sitzt und plaudert, weil er die Musik nicht versteht.¹

    Solche Entdeckungen machte ich völlig unvorbereitet. Ich erfuhr als Erster, dass dieser Brief oder jene Rede jemals geschrieben oder gehalten worden war. Es war ein Akt des Empfangens. Bei vielen anderen Gelegenheiten erfuhr ich, dass eine katalogisierte Bibliothek es einem nicht in gleichem Maße abverlangt, sich persönlich einzubringen. Heute, in Zeiten katalogisierter und digitalisierter Archive, erlebt man Forschung völlig anders. Die Auswirkungen auf die Wissenschaft und die Art der Bücher, die Wissenschaftler schreiben, sind meines Wissens noch nicht ausreichend betrachtet worden.

    Im Gegensatz zur schlichten Informationssammlung lebt eine aufgeschriebene Geschichte vom Kontext, in den sie eingebettet wird: der Bildausschnitt, die Menge an erläuterndem Beiwerk. Wenn es um Empathie und Vorstellungskraft geht, ist das Talent eines Romanciers mehr als gefragt. Als ich Wagner Nights schrieb, bestand mein Material aus einer völlig vergessenen, aber umfangreich dokumentierten Story, detailreicher als ich es mir je hätte ausdenken können. Begeistert nahm ich auf, dass Seidl, um nur ein Beispiel zu nennen, im Sommer auf Coney Island vierzehnmal wöchentlich Konzerte dirigierte, die von Mrs. Langfords Seidl-Gesellschaft organisiert wurden – auf dem Gelände des Brighton Beach Hotels, im dreitausend Sitzplätze zählenden Musikpavillon am Ozean, unter den Sternen. An den Wagner-Abenden gab es nichts außer Wagner zu hören und der Pavillon war voll. Gestützt auf einen Ausschnitt aus dem Brooklyn Daily Eagle (und einem Blick auf den Wetterbericht) schrieb ich:

    Dreitausend Menschen applaudierten. Zu den Klängen einer Fanfare des Orchesters verließ Anton Seidl die Bühne, um Mrs. Laura Langford zu holen und in die vorderste Reihe des Brighton Beach Musikpavillons zu geleiten. Daraufhin bestieg er das Pult und beschloss das Konzert – das letzte der Saison 1894 – mit einem von Mrs. Langfords Lieblingsstücken: Liszts Les Préludes. Während sie der entrückten Naturmusik von Seidls Orchester lauschte, schweifte ihr Blick über das hölzerne, restlos ausverkaufte Auditorium. Zu dessen beiden Seiten glitzerten im Mondlicht der Sand von Coney Island und im Hintergrund der Atlantik. Die Platzanweiserinnen, allesamt ernst dreinblickende Frauen, trugen silberne »S«-Broschen an ihren Kleidern. Ihre Aufgabe war es, für Ordnung unter den Rauchern, Plauderern und Spätankömmlingen zu sorgen. Doch die anrührende Musik, die Meeresbrise und das Flüstern der sich brechenden Wellen verbreiteten einen Zauber, der so stark war, dass sich das Bemühen um Einhaltung der Anstandsregeln erübrigte.

    Zu Seidls Beerdigung drängten sich über viertausend Trauernde in die Metropolitan Opera, weit mehr als das Haus zu fassen vermochte. Etliche Frauen hatten sich entschlossen Zutritt verschafft – mit verschränkten Armen vorbei an den berittenen Polizisten. Unter den ausgewählten Musikstücken erklang auch Siegfrieds Trauermarsch. Daraus habe ich mit etwas Phantasie den Eröffnungsabschnitt meines Buches gestaltet:

    Die gedämpften Paukenschläge und das angespannte, tragische Raunen der tiefen Streicher verwoben sich nahtlos mit der raumbeherrschenden Trauer, verschlangen und verwandelten sie. Über den stampfenden, schaudernden Rhythmus von Siegfrieds Trauergesang stülpten sich heroische Erinnerungen an den Gegangenen: an seine legendäre Kraft, an seine naive Inbrunst, an die ungestüme Energie seiner dem Untergang geweihten Taten. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte ein in derart donnernden Symbolen daherkommender Totenkult lächerlich gewirkt. Aber bei diesem Anlass schien er angemessen.

    Wie bei so vielen um die Rekonstruktion der Vergangenheit bemühten Historikern verschwamm auch bei mir die Grenze zwischen Historie und Fiktion. Mein nachfolgendes Jugendbuch erkundete dann die Technik des erfundenen Dialogs. Ich beschloss, das Thema Dvořák und Amerika wie einen historischen Roman anzugehen, einfach weil ich dachte, dass die Geschichte dadurch für Schulen attraktiver wird (und tatsächlich wurde das Buch dort verwendet). Dabei hatte ich anfangs nicht geahnt, dass ich bei der Rekonstruktion eines Gesprächs zwischen Seidl und Dvořák einmal an den Punkt gelangen würde, an dem ich mich letztlich befand: Ich glaubte, die beiden Männer so gut zu kennen, dass ich mir ihr Gespräch mühelos vorstellen konnte. Ich ließ sie einfach drauflosreden, mit mir als Zaungast. Ich war erstaunt, wie viel ich auf diese Weise über die beiden erfuhr. Ihre Begegnungen in einen Roman zu verwandeln, wurde zu einem überraschenden neuen Forschungsinstrument. Geschichte wurde nicht nach-erzählt, sondern nach-erlebt. Manchmal überkam mich dabei ein ganz eigenartiger Schauder.

    (Ähnliches habe ich auch von Schauspielern gehört: dass sie eine unheimliche, unvorhersehbare Vertrautheit empfinden, wenn sie eine historische Rolle spielen oder in eine vergangene Zeit oder in die Gedanken einer anderen Person eintauchen).

    Es gibt keine klare Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion. Vielmehr handelt es sich um ein Kontinuum, an dessen einem Ende harte Fakten stehen (ein Datum, eine Tageszeit, ein Ort) und am anderen Ende die ungebremste Phantasie. Ohne subjektive Eingriffe des Autors kann die Vergangenheit nicht im Entferntesten erzählt werden. Das ist mir nie so bewusst geworden wie beim Schreiben meiner letzten drei Bücher, in denen ich mich mit dem »Gilded Age« und dem New York von Dvořák, Seidl und Mahler beschäftigt habe. Ich beschrieb ein musikalisches Milieu von erstaunlicher Intensität und errichtete Seidl ein Denkmal, einem kulturellen Helden, der zu seiner Zeit noch überragender war als Toscanini oder Bernstein in späteren Jahren – und der doch vergessen wurde, selbst in den Institutionen, denen er einst zu Glanz und Ansehen verholfen hat (die Metropolitan Opera, die New Yorker Philharmoniker).

    Je länger ich in den Archiven stöberte, desto klarer wurde mir, dass ich auf die Jahrzehnte gestoßen war, die den Höhepunkt der klassischen Musik in den USA darstellten; Jahrzehnte, in denen ein Wagner-Kult das amerikanische Kulturleben beherrschte und einheimische Komponisten versuchten, eine eigene, über die Grenzen ihrer Heimat hinaus gültige Stimme zu finden. Eine meiner Herausforderungen bestand darin, all dies von Grund auf zu erzählen und dabei so viel einschlägiges amerikanisches Material wie möglich einzubeziehen. Ein anderer Autor würde die Geschichte vermutlich ganz anders erzählen. Und keine der beiden Versionen wäre zutreffend oder gar endgültig.

    Auf dieser Entdeckungsreise gelangte ich schließlich zu The Marriage [Originaltitel]. Alle Romanfiguren habe ich anhand mir vorliegender Quellen gestaltet. Und – anders als in einem üblichen historischen Roman – haben alle von mir beschriebenen Ereignisse tatsächlich stattgefunden, auch die privatesten: die Séance von Eusapia Palladino mit Otto Kahn und seiner Frau; Mahlers Diskussion mit den Untermyers über seinen Vertrag mit den Philharmonikern; das Brahms-Intermezzo, mit dem Ossip Gabrilowitsch Alma seine Zuneigung erklärt. Zu meinen wichtig­sten Quellen gehören die Briefe von Gustav und Alma Mahler, Almas Tagebücher und Memoiren sowie Artikel und Kritiken in den New Yorker Zeitungen – und natürlich mein Wissen über Mahlers New York und, nicht zu allerletzt, über seine Musik, die oftmals für sich selbst spricht. Wenn ich Briefe oder Zeitungsausschnitte zitiere, dann oft wortwörtlich²; manchmal habe ich mir jedoch erlaubt, zu kürzen oder sinngemäß zusammenzufassen. Wenn ich Mahler zum Beispiel beim Dirigieren seiner Vierten Symphonie beobachte, dann entsprechen seine ­Anweisungen an das Orchester dem, was für Mahler anhand seiner Anmerkungen in den Partituren oder aufgrund ausführlicher Konzertkritiken als typisch gelten kann. Wenn Mahler einen Kontrabassisten zusammenstaucht, dann erwecke ich eine Anekdote zum Leben, die ein Orchestermusiker Jahrzehnte später erzählte (ohne sich auf eine bestimmte Stelle in einem bestimmten Stück zu beziehen). Einen am 4. Februar 1911 in Musical America erschienenen Artikel von Mary Sheldon zitiere ich zwar mit Kürzungen, aber ansonsten wortgetreu. Die Bausteine des auf den 19. Januar 1910 datierten Briefes von Mahler an Bruno Walter finden sich in einem Brief Mahlers an Walter vom 18. Dezember 1909 sowie in anderen Quellen, aus denen ich extrapoliert habe.³ Bei Henry Krehbiels Artikeln und Musikkritiken sind Inhalt und Ausdruck allerdings oft von mir erfunden, freilich im Bemühen, Krehbiels schwerfälligen, verschlungenen Stil nachzuahmen. Wo ich Geschichten aus Almas Memoiren verwerte, habe ich mir Ausschmückungen und Änderungen erlaubt; die Grundaussage bleibt jedoch dieselbe.

    Kurzum, durch die Einbettung meines Quellenmaterials in eine romanhafte Erzählung erscheint es in einem neuen Licht.

    Im Nachwort versuche ich, einen Schritt zurück zu treten und die Welt meines Romans zu skizzieren. Ich fasse hier zusammen, welche Bedeutung Anton Seidl und Henry Krehbiel für New York hatten, und widme mich ausführlich einem von anderen Chronisten meist vernachlässigten Thema, nämlich was sich über den Klang und die Wirkung von Mahlers New Yorker Auftritten herausfinden lässt. Dabei vermitteln sowohl das Nachwort als auch der Roman Informationen, die sich im jeweils anderen Format nicht unterbringen ließen. Am Ende des Buches findet sich auch ein umfangreiches Personen-Glossar (bitte benutzen!).

    Der Mahler-Forscher Charles Youmans schrieb: »Nachdem wir nun alle Mahler-Geschichten ein ums andere Mal gehört haben, scheint mir das Erzählen von Fakten (creative nonfiction) der beste nächste Schritt zu sein. Historische Phantasie, genauer gesagt: der Mut, sich der eigenen historischen Phantasie zu bedienen, kann uns viel lehren.« Das ist, in knappen Worten, auch meine Überzeugung.

    A.d.Ü.: Das Redemanuskript in Seidls originalem, nicht ganz fehlerfreiem Englisch: »It is not only right, to give the poor free music at the different parks, but the Bands must play good music. The people not understand it first, but later he will whistle it with more dash and vigor, as the rich, who sits in his box and – chatter, because – he does not understand it.«

    A.d.Ü.: Die im Englischen übersetzungsbedingt verzerrten Briefpassagen wurden bei der Rückübertragung ins Deutsche so weit wie im jeweiligen Kontext geboten und mit geringfügigen sprachlichen Anpassungen an das Original zurückgeführt. Interessierte werden die Stellen in den Briefwechseln leicht ausfindig machen.

    Für diejenigen, die mehr wissen wollen: Ich folge hier hauptsächlich Mahlers tatsächlichem Brief an Walter, wobei ich »vor zwei Tagen« in »vor einem Monat« ändere, da Mahler seine Erste Symphonie am 16. und 17. Dezember 1909 dirigierte. Im vierten Absatz ›meines‹ Briefes beginne ich, von Mahlers erfreulichen Erfahrungen mit Rachmaninoff und Busoni zu berichten (Philharmonische Konzerte im Anschluss an Mahlers Aufführungen seiner Ersten Symphonie). Mahlers Würdigung von Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 3 (»der erste Satz knüpft kompositorisch höchst originell an Liszts Konzerte an« usw.) stammt von mir und beruht auf Mahlers bekannter Bewunderung von Rachmaninoffs Drittem Konzert. Ich habe auch Mahlers Sätze der Bewunderung von Busonis Turandot und Busoni dem Menschen formuliert. Busoni selbst ist die Quelle der von ihm geschilderten amerikanischen Eindrücke, und es ist Busoni, der (in einem Brief vom 21. Juli 1915) von dem »merkwürdigen Vorfall« bei der Generalprobe berichtet. Mahlers Ansichten über MacDowell habe wiederum ich zusammengestellt. Ich kehre zu seinem Brief an Walter zurück mit der Bitte um Slezaks Transposition in der Pique Dame. Mein letzter Absatz (»Wenn Gott es will, in einem Jahr…«) basiert auf Aussagen von Mahler und Alma.

    1. Kapitel

    Dezember 1907

    Conried musterte die Einzigartigkeit seines Rauchsalons. Das Sofa, auf dem er sich ausstreckte, trug gedrechselte Säulen, auf denen ein Baldachin ruhte. Eine Rüstung in der Ecke wurde von innen durch eine rote Glühbirne beleuchtet; in anderen Teilen des Raumes sorgte die Anordnung der farbigen elektrischen Lampen für ein unterirdisches Licht. An den Wänden hingen Portraits von Sängern und Schauspielern. Conried selbst war ein kleiner, korpulenter Mann mit einem übergroßen Kopf, mächtigen Augenbrauen, runden Schauspieleraugen, einer knolligen Nase, einem fülligen Mund und einem Doppelkinn. Sein dichtes schwarzes Haar war vom Ansatz aus nach hinten gekämmt. Er trug einen schwarzen Anzug und wildlederne Stiefeletten mit hohen Absätzen. Dippel hatte vom Hotel aus angerufen. Die Besucher waren schon auf dem Weg. Conrieds Coup war geglückt. Er hatte die Zukunft seines Musikunternehmens, der Conried Metropolitan Opera Company, gesichert.

    Ein Klopfen an der Tür meldete die Ankunft. Dippel schaute kurz in den Raum, dann bat er einen Mann und eine Frau hinein. Beide waren von auffälligem Auftreten und Aussehen, doch auffällig unterschiedlich in jeder anderen Hinsicht. Der Mann war mittleren Alters, klein und von nervöser, aber verbrauchter Lebhaftigkeit. Sein langer, bartloser Kopf mit der hochgewölbten Stirn, dem zerzausten Haar, dem spitzen Schädel, den faltigen, eingefallenen Wangen und dem schmalen Mund strahlte die stolze, asketische Frömmigkeit eines Einsiedlers aus. Seine herausstechende Nase und die hinter einer rahmenlosen Brille bohrend blinzelnden Augen zeugten von einem rigorosen, ironischen Verstand und höchstwahrscheinlich auch von einer scharfen Zunge. Die Frau an seiner Seite hätte dem Alter nach seine Tochter sein können, aber ganz offenkundig entstammte sie sanfteren Genen aus privilegierteren Verhältnissen. Von höherem Wuchs als ihr Mann, vollbusig, aufrecht und ihren Kopf elegant wiegend strahlte sie Ausgeglichenheit, aber auch etwas Rätselhaftes aus. Ihre weder jung noch alt wirkende Selbstbeherrschung, die elfenbeinfarbene Haut, die kaum zu entziffernden Augen, die Ebenmäßigkeit und das glückliche Strahlen ihrer Gesichtszüge, der Schwung ihrer Frisur und ihrer Gesten – sie alle waren darauf aus, Männern aufzufallen und sie zu verwirren.

    Conried kannte den Mann bereits. Er wusste, was ganz Wien wusste. Unter Druck konnte sein aufgesetztes Selbstvertrauen leicht in Ungeduld und üble Laune ausarten oder sich in schriller Verletztheit auflösen. Die Frau, die Conried nicht kannte und auch nie kennen würde, war ein seltsames Wesen. Sie war so in Tuch gehüllt wie der Mann nackt war; sie so selbstbeherrscht wie er selbstverliebt. Ihr Glamour überdeckte eine komplexe Mischung aus Souveränität und Unsicherheit, ein verwischtes Innenleben, das vermutlich auch sie selbst nicht ganz verstand. Sie war ein Mittel, um die so selbstverständlich erscheinende Macht des Mannes abzurunden, aber auch ein Köder, um diese Macht zu brechen.

    »Herr Mahler! Seien Sie willkommen im Metropolitan Opera House!« rief Conried auf Deutsch. »Und Sie sind sicher Madame Alma?« Er hatte sich mühsam aufgerappelt und humpelte, auf zwei Krücken gestützt, auf die Gäste zu. Mit einer Körperkrümmung und nach erfolgreichem Umpositionieren der Krücken küsste er die in einen Handschuh gehüllte Hand der Dame. Dippel nahm den Mahlers die Mäntel und Hüte ab und entfernte sich. »Bitte sehr«, fuhr Conried fort, »nehmen Sie Platz«. Dann ließ er sich wieder auf das überdachte Sofa sinken. »Ich bitte um Verzeihung für das eisige Wetter – aber es ist nun mal Dezember. Ihr Hotel – ich hoffe, es entspricht Ihren Erwartungen?« Mahler saß auf der Kante des quastenbehangenen Sofas, das Conried ihm angeboten hatte. Seine Frau machte es sich derweil inmitten von ein paar Sofakissen bequem und stellte dabei ihre ansehnlichen Fesseln zur Schau. »Unsere Suite verfügt über mehr als genug Klaviere«, antwortete Mahler. »Zwei, um genau zu sein. Und wir blicken auf den Central Park, mit seinen Reitwegen und dem See.«

    »Und die Reise?«

    »Nun, wir haben sie überlebt. Wir sind erst gestern angekommen, wie Sie sicher wissen.«

    »Gut, sehr gut. Ich bin glücklich, Sie beide zu sehen. Falls Sie nicht zu müde sind, gibt es heute Nachmittag Tosca, in weniger als einer Stunde. Mit Caruso; den müssen Sie unbedingt hören. Die perfekte Verkörperung des tenore italiano – sonnig, gut gelaunt, la voce d’oro. Als ich ankam, hatte Grau seinen Vertrag auslaufen lassen. Ich habe ihn für den Saisonauftakt eingeplant: Rigoletto, mit der Sembrich und mit Scotti. In dieser Saison singt er einundfünfzig Mal, exklusiv an der Met. Sie rollen die Augen – ja, natürlich, wie konnte ich das vergessen, Sie hatten ihn in Wien. Aber nur, wenn Sie ihn hier sehen, können Sie ermessen, was es bedeutet, in Amerika Berühmtheit zu erlangen. Hier, meine Freunde, sind wir nicht in Wien! Carusos Popularität, sie ist ansteckend, Sie werden sehen, Sie werden das schon sehen. Die Publikumslieblinge sind absolute Stars, sie sind im Himmel. Da kann nichts schief gehen. Derzeit haben wir Caruso und die Cavalieri in Fedora, die Sembrich im Barbier von Sevilla, Caruso und die Eames in Isis. Und obendrein Mefistofele mit der Farrar und Chaliapin. Ein begnadeter Darsteller. Selbst am Burgtheater habe ich nie eine derart kunstvolle Kostümierung und einen solchen Ausdruck erlebt. Als Rossinis Basilio ist er eher unscheinbar. Aber Sie müssen seinen Mefistofele sehen! In der Rolle wirkt er beinahe nackt. Sein Körper, seine Präsenz, seine Ausstrahlung – einfach unvergleichlich! Bitte sehen Sie mir nach, dass Bescheidenheit nicht zu meinen Tugenden zählt – schließlich bin ich ein Impresario. Ich liebe es, große Talente zu entdecken, sie auf den richtigen Pfad zu lenken, sie zu präsentieren, bekannt zu machen. Das Genie zu fördern – das hält mich auf Trab.« Conrieds Augen, deren Enthusiasmus mit seinem schwerfälligen Körper kontrastierte, fixierten Mahler.

    »Ich bin nicht uninteressiert an Ihren neuen Italienern, Herr Conried.« Mahler wählte einen gelangweilten Tonfall. »Es wird uns ein Vergnügen sein, einen Blick auf Tosca zu werfen. Was Boito betrifft, so schätze ich durchaus seine intellektuellen Absichten. Seine Verdi-Libretti sind superb. Aber ich bin alles andere als überzeugt, dass er ein vollendeter Komponist ist.«

    »Fast hätte ich es vergessen. Sie müssen hungrig sein? Unser Mittagessen wartet. Seezungenfilet. Bitte sehr.«

    Die Mahlers standen auf. Alma beobachtete, welche Verrenkungen nötig waren, um Conrieds Beine und Füße in Richtung des geschmackvoll für drei Personen gedeckten Tisches zu bewegen. Conried öffnete die Weinflasche mit einem dezenten Plopp, schenkte drei Gläser ein und probierte einen Schluck. Während die Mahlers zu essen begannen, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und wandte sich schließlich an Alma.

    »Sie werden sich fragen, wie der Schlesier Heinrich Cohen es geschafft hat, eine so große Operngesellschaft zu leiten. Lassen Sie mich meine Frage gleich selbst beantworten: Dies ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, man muss sie nur nutzen. Ich kam 1878 als Dreiundzwanzigjähriger hier an – jünger als Sie, gnädige Frau. Die Schauspielerei am Burgtheater lag schon hinter mir, auch Bremen, wo ich mich zudem als Regisseur versucht hatte. Ich gab den Mephistopheles im Faust und den Iago in Othello. Aber dann Amerika, da fand ich Pionierbedingungen, was das deutschsprachige Theater betrifft. Große Rollen, große Stücke, Operette, Tourneen – ein Füllhorn der Möglichkeiten. Schließlich übernahm ich hier in Manhattan das Irving Place Theater – ein Weltklasse-Ensemble! Schiller, Lessing, Goethe. Und Hauptmann, Ibsen, Schnitzler, Fulda, Sudermann. Auch Operette – Strauß, Suppé, Millöcker. Jahr für Jahr brachte ich die größten deutschen Bühnentalente hierher. Agnes Sorma. Den Sonnenthal habe ich in New York berühmt gemacht.«

    Er stürzte seinen Wein hinunter. Die Mahlers kauten unauffällig und warfen sich verstohlene Blicke zu.

    »١٩٠٣ kam ich an die Met. Ich sollte meine Theaterkenntnisse einbringen. Sie werden das Haus gleich sehen. Mehr als dreitausend Plätze. Das ist nicht die Hofoper. Auch nicht, was die staatlichen Subventionen angeht. Wir haben Logenbesitzer, auf deren Geschmack wir natürlich Rücksicht nehmen müssen. Das amerikanische Publikum geht am Ende eines langen Arbeitstages ins Theater oder in die Oper. Die Mühen des Alltags sind hier größer als bei Ihnen, glauben Sie mir. Ich weiß, dass Sie von diesen Bedingungen zunächst keine gute Meinung haben werden, ich bin ja nicht naiv. Aber Sie werden herausfinden, wie man sich diese Bedingungen zunutze macht. Geld gibt es in Hülle und Fülle, man muss es nur herauskitzeln. Deshalb habe ich das Auditorium in Rot und Gold umgestaltet, den Orchestergraben verbreitert und die Saalbeleuchtung modernisiert. Das merkt das Publikum, das zahlt sich schnell aus. Was jetzt noch fehlt, ist, meine Stars zu einem Ensemble zusammenzuschweißen. Und das deutsche Repertoire muss mit Künstlern aufgefrischt werden, die Eindruck machen. Die Fremstad, van Rooy, sie werden helfen. Aber der Schlüssel, lieber Herr Mahler, der liegt in Ihrer Hand. Ich verstehe Ihren Idealismus, Ihre Ungeduld, Ihren Perfektionsdrang. Ihre Vision, meine Mission – Sie werden sehen, das geht Hand in Hand.«

    Ein lautes Schweigen legte sich auf den plötzlich totenstillen Raum mit seinen roten und blauen elektrischen Farbtupfern. Die Mahlers prüften das Kartoffelgratin. Künstler. Artistes. Conried bewunderte Almas Hals und den dazugehörigen Metallschmuck.

    »Madame wird feststellen, dass New York einen anderen Mode­geschmack hat als Wien. Was nicht bedeutet, dass New York nicht seine eigene Eleganz hätte.«

    Mahler tupfte sich den Mund ab. »Meine Frau ist eine gründlich ausgebildete Musikerin«, sagte er regungslos.

    »Spielt Madame vielleicht … Klavier?«

    »Ich habe viele Jahre lang Klavier gespielt.«

    »Sie wird vielleicht bei passender Gelegenheit für uns die Mondschein-Sonate spielen? Mein Lieblingsstück.«

    »Vielleicht.«

    »Meine Frau malt auch. Sie wissen vielleicht, dass ihr Vater ein sehr guter Maler war. Und ihr Stiefvater auch.«

    »Caruso zeichnet großartige Karikaturen.« Conried zeigte auf ein halbes Dutzend gerahmter Portraits, von Caruso mit schneller Hand gezeichnet.

    Mahler legte seine Serviette auf den Tisch. »Mein lieber Herr Conried. Reden wir über das Geschäft – bitte kurz und sachlich. Meine erste Tristan-Probe mit Klavier, morgen, mit der Fremstad und Burgstaller. Ich muss wissen, wann und wo …«

    Conried hob den Zeigefinger und schluckte einen Bissen Fisch. »Burgstaller ist indisponiert. Schulterverletzung. Stattdessen haben Sie Knote – Sie kennen ihn ja aus München.«

    Diese Information ließ Mahlers linkes Auge zucken. Gleichzeitig begann er, mit dem rechten Fuß laut auf den Boden

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