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Aika: 愛可
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eBook390 Seiten4 Stunden

Aika: 愛可

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Über dieses E-Book

1997. Maximilian von Bülow, ein bekennender Christ, arbeitet als Anästhesist im CHUV, dem waadtländischen Universitätsklinikum in Lausanne. Außerdem fliegt er als Notarzt in dem in Lausanne stationierten Rettungshubschrauber der Schweizer Rettungsflugwacht REGA. Eines Tages lernt er ein junges japanisches Mädchen kennen und verliebt sich in sie. Sein Glück scheint perfekt, wäre da nicht die geheimnisvolle Vergangenheit in Aikas Leben...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Dez. 2017
ISBN9783960143666
Aika: 愛可

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    Buchvorschau

    Aika - Samuel E. Leresche

    Cover-front.jpg

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: 

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten im

    Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. 

    Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt.  

    Die Text- und Titelrechte, die Rechte der Übersetzung in andere Sprachen und das Recht am Layout des Einbandes verbleiben beim Autor. 

    Impressum

    Samuel E. Leresche, »Aika« 

    www.edition-winterwork.de 

    © 2018 edition winterwork 

    Alle Rechte vorbehalten. 

    Lektorat:

    Dr. phil. Guido Erol Hesse-Öztanil, Hameln 

    Dr. med Christopher Schnorr, Bückeburg

    Satz: Samuel E. Leresche 

    Umschlag: Gerhard Kosin, Hameln 

    Druck und Bindung: winterwork Borsdorf 

    ISBN Print 978-3-96014-365-9

    ISBN eBook 978-3-96014-366-6

    Aika 

    Samuel E. Leresche 

    edition winterwork

    Pour mon fils Maximilian Samuel 

    et pour Amy, son épouse. 

    Vorwort 

    Ein jüngerer Bekannter, dem ich das Manuskript von „Aika" als Erstem zur Durchsicht gegeben hatte, hat mir versichert, dass sich die Geschichte von Maximilian und Aika gut lesen würde. Er habe sie spannend gefunden, aber, so fragte er mich, ihm sei nicht klargeworden, was ich mit dem Roman eigentlich bezwecken wolle? Welches Ziel verfolgte ich mit einem christlichen Roman, der mit seiner ungeschminkten, befremdenden Erzählweise bei eher konservativ eingestellten Christen Widerwillen, vielleicht sogar Ekel auslösen mag? 

    Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Roman ein ganz bestimmtes Ziel erreichen möchte. Aus eigener Erfahrung in meinem Leben jedoch weiß ich eines, nämlich, dass ein gläubiger Christ ebenso zu allem Versagen, aller Torheit und aller Sünde fähig ist, wie jeder andere Mensch auch. Eben diese „schwache" Seite des Menschen, die schweren Seelenkonflikte, in die ein Christ geraten kann, rühren mich. Sie versuche ich zu beschreiben … und schaue dabei immer wieder selbst in einen Spiegel. 

    Samuel E. Leresche, im Februar 2017 

    Lausanne, Schweiz, 1997 

    Maximilian von Bülow kannte Lausanne wie keine andere Stadt. Keine Straße, keine Stiege, kein Haus war ihm fremd.  

    Seine Mutter war in Orbe aufgewachsen, einer geschichtsträchtigen waadtländischen Kleinstadt am Fuß des Schweizer Juras, gerade einmal dreißig Kilometer von der Kantonshauptstadt Lausanne entfernt. Bis zu seinem Abitur hatte er fast jedes Jahr die Sommerschulferien mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Brüdern bei seinem Großvater verbracht. Zu den schon fast rituellen Gepflogenheiten gehörte anlässlich dieser Besuche der sonnabendliche Einkaufsbummel in Lausanne. Als Kind hatte Max diese Ausflüge als äußerst qualvoll empfunden. Nichts war ihm in seiner Kindheit öder erschienen, als stundenlang an der Hand eines Erwachsenen durch die Häuserschluchten gezogen zu werden. Immer wieder musste er bewegungslos vor den nicht enden wollenden Schuhregalen und Kleiderständern der unzähligen Geschäfte stehen bleiben. Dort wurde er eingehüllt von dem Muff der Stoffe, der Auslegeware, und Polsterstühle, während seine Mutter und seine Tante über Taillenweite, Schulterpolster, Rockstöße und andere – für ihn – belanglose Dinge diskutierten. In diesen Situationen blieb ihm als Zeitvertreib unter dem wachsamen Auge seines Vaters, dem nie anzusehen war, ob er diese Exkursionen spannend fand oder sich langweilte, nur, seinen Brüdern Fratzen zu schneiden. Wenn er seine Mutter zu den Umkleidekabinen begleiten musste, setzte er sich auf den Boden und vertrieb sich die Zeit damit, unter den Vorhängen nach fremden Frauenbeinen zu suchen. 

    Als Max älter wurde, bot ihm die Stadt mehr Anreize. Da waren die zwei Waffengeschäfte, in denen Gasdruckpistolen, Armeemesser, Armbrüste und diverse Säbel und Schwerter in den Schaufenstern ausgestellt waren. Seine Eltern erlaubten ihm nicht, diese Auslagen in Ruhe zu betrachten. So rannte Max, wenn er die Läden von weitem sah, stets vor, um ein bisschen Zeit herauszuschinden, bevor die Familie ihn eingeholt hatte und zum Weitergehen aufforderte. Anders verhielt es sich bei den Musik- und Bücherläden. Hier durfte er einen Augenblick verweilen und die Instrumente, Noten und Bücher ansehen, während die Eltern langsam weiterschlenderten. Besonders interessierte sich Max im vorpubertären Alter jedoch für die Schlösser und Burgen der Region, für die geheimnisvollen Geschichten von Raubrittern und vornehmen Schlossdamen. Einige Dinge waren Max in Erinnerung geblieben, wie zum Beispiel der Besuch des Château d‘Ouchy. Nach einem der traditionellen Sonnabendeinkäufe hatte die Familie am frühen Nachmittag das am Hafen errichtete Schloss, dessen Ursprung bis ins XII. Jahrhundert zurückging, besucht. Als sie in einem der Türme standen, hatte der Großvater ihn gefragt, ob Max sich vorstellen könne, zu welchem Zweck dieses Schloss einst erbaut worden sei. Natürlich hatte der Junge die Antwort sofort gewusst: zum Schutz des Hafens! 

    Mit neunzehn Jahren, nach einem glänzenden Abitur, war er aus Deutschland, wo seine Eltern lebten, zu seinem Großvater nach Orbe gezogen. Zuerst hatte er einen Sprachlehrgang für Französisch in Lausanne belegt, danach sein Medizinstudium an der dortigen Universität begonnen. 

    Warum mag ich diesen Bahnhof so?, fragte er sich, als er die Rue du Petit-Chêne hinunterlief und das imposante Bahnhofsgebäude auf der anderen Seite des Place de la Gare sah. Kommt es daher, dass ich so lange zwischen Orbe und Lausanne mit dem Zug hin- und hergependelt bin? Wie viele Jahre ist das nun schon her? Fünf? Zehn? 

    Der junge Mann blieb an einer roten Ampel stehen und sah zu dem langgestreckten Stationsgebäude hinüber. Schon 1899 hatte die Jura-Simplon-Bahn eine Gesamterweiterung der Bahnhofsanlage und des damaligen Aufnahmegebäudes geplant. Doch nach der Übernahme durch den Bund beschloss die damalige SBB-Generaldirektion, das Gebäude ganz neu zu errichten und schrieb im Februar 1908 einen landesweiten Wettbewerb „zur Erlangung von Fassadenentwürfen für das Dienst-, Empfangs- und Restaurationsgebäude" aus. Unter den einunddreißig eingegangenen Vorschlägen wurde der erste Preis an ein Lausanner Architektenbüro vergeben.  

    Als die Ampel auf Grün sprang, schlängelte sich Max an den vielen Touristen vorbei über den Bahnhofsplatz. Er entging knapp einem Taxi, das ihn übersehen hatte und blieb vor dem Fahrplan mit den Ankunftszeiten der Züge stehen. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er eine gute Viertelstunde zu früh dran war. Er entschied, sich noch eine Tageszeitung zu besorgen. 

    Der junge Mann ließ sich von der Menschenmenge, die in den Bahnhof hineinwollte, mittragen. Im Grundriss, erinnerte er sich, war die Ausführung des Haupteingangs und der breiten Schalterhalle nach dem eingereichten Wettbewerbsprojekt der dritten Preisträger vorgenommen worden. Die beiden seitlichen Rechteckfelder über dem Haupteingang, aus Haustein gefertigt, wie die ganze Fassade, waren mit vegetabilen Ornamenten ausgestattet. Ähnlich wurde auch die Wand der Schalterhalle über den Ausgängen und die Bögen über den Türen zu den Gleisen gefertigt. 

    Max stellte sich hinter einer Reihe Kanadier am Zeitungskiosk an. Das Québec-Französisch dieser Touristen war von einem starken Akzent geprägt. Hauptgesprächsthema war anscheinend die mögliche Weltmeisterschaft für ihren Formel-1-Fahrer Jacques Villeneuve. Max interessierte sich nicht besonders für Sport, schon gar nicht für Autorennen und so folgte er dem Gespräch der Touristen nicht. Er nahm sich eine Züricher Neue Zeitung, zahlte und ging in die Schalterhalle, wo er sich einen Augenblick auf eine Wartebank setzte. Die Dekoration der Halle war schlicht. Da war die Kassettendecke aus armiertem Gips, die Leuchter und je eine Männer- und Frauengestalt, die auf Konsolen über dem Kiosk saßen. Aber das war auch schon alles. Der Lausanner Bahnhof war sicher ein sehenswertes Gebäude, aber doch nur eines, wie es auch viele andere auf dieser Welt gab. Woher also kam seine Liebe zu diesem Bahnhof? Lag es vielleicht daran, dass er mit Acht einmal Lokomotivführer werden wollte? Er hatte von schnellen, starken, wunderschönen Diesel- und E-Loks geträumt und davon, wie er stolz darin sitzen und den Zug in Bewegung setzen würde. In Lüdinghausen, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, wohin sein Vater vor vielen Jahren versetzt worden war, hatte er stundenlang auf dem sanierungsbedürftigen Kleinstadtbahnhof gesessen und den wenigen ein- und ausfahrenden Zügen nachgesehen. Viele Eisenbahnen hielten in Lüdinghausen jedoch nicht. Oft hatte er dort einfach nur still gehockt und vor sich hin geträumt. Wann ihm dieser Berufswunsch verloren gegangen war, konnte er schon gar nicht mehr sagen. Viele andere hatten sich angeschlossen: Tierarzt, Masseur, Goldschmied und eine Menge mehr. Manche hatte er ernster ins Auge gefasst, andere schnell wieder verworfen. Aber das Interesse an Bahnhöfen und ihrer Entstehungsgeschichte war bis auf den heutigen Tag geblieben. 

    Lüdinghausen, im Sommer 1971 

    „Wo bist du so lange gewesen? Sein Vater stand in der Tür. „Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht. 

    „Ich war am Bahnhof, Papa." Max war klar, dass er zu spät nach Hause gekommen war.  

    „Was machst du schon wieder am Bahnhof?" 

    Max zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht so recht. Den Zügen nachschauen."  

    „Den Zügen nachschauen? Maximilian, welchen Sinn siehst du darin, Zügen nachzuschauen? Der Vater zog seinen Sohn in die Wohnung. Er hob den Finger. „Außerdem ist das noch lange kein Grund, zu spät nach Hause zu kommen. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen Eltern sich machen, wenn die Kinder nicht zur verabredeten Zeit wieder da sind? 

    Max sah zur Seite. „Entschuldige. Ich hatte meine Armbanduhr vergessen und einfach nicht auf die Zeit geachtet." 

    „Dabei hängt am Bahnhof eine wirklich große, gut sichtbare Uhr, Max. Man kann sie nicht übersehen! Sie geht darüber hinaus ziemlich genau!" 

    „Ich weiß, Papa. Es tut mir leid. Entschuldige bitte." 

    Die Stimme des älteren von Bülow zitterte, als er fortfuhr: „Es tut mir leid, es tut mir leid. Das hören deine Mutter und ich fast jeden Tag von dir. Die schlechten Noten in der Schule tun mir leid. Es tut mir leid, dass ich die Hälfte des Einkaufs vergessen habe. Es tut mir leid, dass ich zu spät nach Hause gekommen bin. So geht das nicht weiter, Max! Seine Stimme schwoll an. „Du bist jetzt bald 11 Jahre alt. Können wir uns nicht allmählich auf dich verlassen? 

    Max zog den Kopf zwischen die Schultern. Gleich würde der Vater ihn nach den Schularbeiten fragen. Er fragte immer nach den Schularbeiten, wenn er wütend war. 

    „Hast du deine Hausaufgaben anständig gemacht, bevor du rausgegangen bist?" 

    Max nickte. „Bis auf Physik. Die muss ich erst bis nächsten Donnerstag fertig haben. Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da wurde ihm klar, dass er sich gerade noch tiefer hineingeritten hatte. Er wusste, dass seine Eltern ihm und seinen beiden Brüdern geboten hatten, zuerst alle Hausaufgaben zu machen und dann zum Spielen hinauszugehen. „Was erledigt ist, ist erledigt, pflegte sein Vater immer wieder zu predigen. Er scharrte mit den Füßen und wagte nicht aufzusehen.  

    Er hörte, wie sein Vater die Luft schneidend einzog. Doch die erwartete Ohrfeige blieb aus. Stattdessen hörte er seinen Vater sagen: „Gottlose und ungerechte Menschen werden durch Ungehorsam gegenüber Eltern offenbar. Der Gedanke, dass du kein Kind Gottes sein könntest, macht mich sehr traurig. Geh jetzt in dein Zimmer, Max." 

    Lausanne 

    Max rollte die Zeitung zusammen und stand auf. Es wurde Zeit auf den Bahnsteig 3 zu gehen. Er verließ die Schalterhalle und stieg die Treppen zum Fußgängertunnel hinab. Als er auf dem Bahnsteig stand, umgab ihn die echte Atmosphäre eines Bahnhofes. Die Geräuschkulisse war typisch: das Bremsen einfahrender Züge, die Lautsprecherdurchsagen, das Wirrwarr der Stimmen, die sich in den verschiedensten Sprachen unterhielten, die Geräusche der elektrischen Motoren der kleinen Schlepper der Post, welche die Paketwagen auf den Bahnsteigen hin- und herfuhren. Warum bin ich eigentlich Arzt geworden?, dachte Max. Was hat mich eigentlich dazu bewegt, meinen Kindheitstraum nicht zu realisieren? Lächelnd schüttelte er den Kopf; so wie Gott die Dinge geführt hatte, war es schon gut. 

    Als der Zug aus Basel einfuhr, flatterten zwei oder drei Tauben auf, die vor ihm auf den Gleisen gesessen hatten. Mit kreischenden Bremsen kamen die Wagen zum Stehen. Mit seinen 1,75 Metern war Max nicht sehr groß. Er musste sich auf die Fußspitzen stellen, um über die Menschenmassen hinwegzusehen. So viele Touristen war er hier nicht gewohnt. Normalerweise hielt sich die Zahl der Reisenden im Bahnhof in Grenzen; die meisten kamen mit dem Auto. Letztendlich war man in der Schweiz: Hier war alles klein und überschaubar! Manche nannten das auch kleinkariert. Er musste bei diesem Gedanken grinsen. Wie unsachlich konnte der Mensch doch denken! Ihm gefiel es hier auf jeden Fall. 

    Als er Anton aussteigen sah, winkte er mit der Zeitung. Doch obgleich sich sein Bruder einen Augenblick umsah, konnte Max sich anscheinend nicht ausreichend bemerkbar machen. Anton nahm seinen Koffer auf, den er nach dem Aussteigen auf dem Bahnsteig abgesetzt hatte, und strebte der Treppe zu. Max steckte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Erstaunt drehten sich etliche der Reisenden um. Einige runzelten missbilligend die Stirn. Doch jetzt hatte ihn Anton bemerkt und lief seinem Bruder entgegen. 

    Lachend fielen sich die beiden in den Arm und klopften sich auf die Schultern. 

    „Hast du eine gute Reise gehabt?", wollte Max wissen. 

    „Na klar. Nur ein bisschen lang." 

    „Wie bist du gefahren?" 

    „In Bremen bin ich in den CityNightLine gestiegen und von Basel dann direkt hierher." 

    „Kannst du im Zug denn wirklich schlafen?" 

    Anton lachte. „Kein Problem. Wenn ich müde bin, schlafe ich überall. Außerdem sind die Betten in diesem Nachtzug gar nicht so schlecht, wie man meinen könnte." 

    „Hast du schon gefrühstückt?" Max warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war kurz nach zehn. 

    „Ich habe ein mageres Frühstück nach dem Aufstehen bekommen. Der Kaffee war ganz gut, aber sonst war wirklich nicht viel dran. Lädst du mich zum Frühstück ein?" 

    „Das hatte ich eigentlich vor." 

    „Aber nicht bei McDonald‘s!" 

    Max grinste. „Wo denkst du hin? Ich kenne da ein Lokal..." 

    „... das wahrscheinlich mitten in der Innenstadt liegt, unterbrach ihn sein Bruder. „Ich bin ja nicht so häufig hier, aber ich habe doch lebhaft in Erinnerung, dass Lausanne am Hang gebaut wurde und vom tiefsten bis zum höchsten Punkt einen ziemlichen Höhenunterschied aufweist. Du wirst doch sicher nicht verlangen, dass ich den Koffer die ganze Zeit schleppe? Wo gibt es hier denn Schließfächer? 

    „Ich habe eine bessere Idee: Mein Wagen steht in der Tiefgarage vom Place Montbenon. Wir gehen da vorbei und schließen den Koffer ein. Dann hast du die Hände frei und wir müssen nicht zurück zum Bahnhof." 

    Anton war damit einverstanden. „Hauptsache ich werde das Ding los." 

    Die Brüder gingen gemeinsam die Treppen hinunter. „Bei mir in der Wohnung ist es für uns beiden zu eng, informierte Max Anton. „Wenn du da wohnen würdest, hättest du nicht viel von deinem Urlaub. Ich fürchte, wir würden uns schnell auf die Nerven gehen. Ich habe mit Tante Patricia besprochen, dass wir irgendwann im Laufe des Tages zu ihr nach Orbe kommen. Ich schlafe dann auch da. 

    „Hast du die Woche über keinen Dienst?" 

    „Doch. Max machte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber ich werde die Tage über einfach zwischen Orbe und Lausanne pendeln. Das habe ich früher ja auch gemacht. Das ist keine große Geschichte. 

    Er legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und schob ihn in Richtung Ausgang. 

    Café du Milieu du Monde, Lausanne 

    Das Café war ein langgestreckter, in die Tiefe gehender Raum, dessen Rauputz an den Wänden schon lange nicht mehr gestrichen, geschweige denn erneuert worden war. An vielen Stellen durchliefen Risse den Putz. An manchen Stellen bröckelte er vor sich hin. Alte, aus der Mode gekommene Stillleben hingen über den Sitzgruppen. 

    Links neben der Eingangstür stand eine Art Tresen aus sehr altem, dunklem Holz. Die Tische und Stühle waren nicht minder betagt und dementsprechend unbequem. Die meisten wackelten. Sie standen in sechs Sitzgruppen hintereinander an der rechten Wand des Cafés. Schon der dritte Tisch wurde vom Tageslicht, das durch das einzige große Fenster fiel, kaum noch erreicht und bedurfte, wie alle noch tiefer im Raum stehenden Sitzgruppen, einer antiken Hängelampe, die etwas Helligkeit schenkte. 

    Die Unmenge Spirituosen, die hinter der Theke hingen und standen, täuschten: Das Lokal wurde überwiegend von alten Menschen besucht, die hier Kaffee oder Tee tranken, Patisserien oder einen Taillé aux greubons aßen, die Zeitung lasen, Domino spielten oder Patiencen legten und sich halblaut unterhielten. 

    Das Café war an diesem Vormittag nur mäßig besucht. Sie setzten sich an den drittletzten Tisch im Raum und bestellten ein Frühstück. Heiße Schokolade für Max, Kaffee für Anton, Croissants, Brötchen, Butter und Konfitüre. 

    Anton hatte die Windjacke ausgezogen und über eine Stuhllehne gehängt. Jetzt krempelte er sich die Ärmel seines karierten Hemdes etwas hoch.  

    Interessiert beobachtete ihn Max. „Manchmal komme ich mir in meinen Anzügen ganz schön bekloppt vor." 

    „Warum sagt du das jetzt?" 

    „Ich weiß nicht. Das fällt mir gerade nur so ein, wenn ich dich so sehe. Warum kann ich nicht in Jeans herumlaufen, wie alle normalen Menschen?" 

    „Zählst du dich nicht zu den normalen Menschen?" 

    „Hör schon auf mit diesen psychologischen Rück- und Fangfragen. Welchen Komplex willst du mir heute andichten?" 

    „Hör mal, ich bin dein Bruder. Ich will dir gar nichts andichten. Ich frage dich doch nur, wie du auf einmal, so aus heiterem Himmel darauf kommst, dass Anzüge bekloppt sind." 

    „Das habe ich so doch gar nicht gesagt. Ich wiederhole für einen begriffsstutzigen Finanzbeamten gerne das Gesagte: Manchmal komme ich mir in diesen Anzügen ganz schön bekloppt vor." 

    Anton sah auf. „Jetzt mal ehrlich: Willst du auf diese Bemerkung überhaupt eine Antwort, Doktor? Du hast doch gar nicht immer einen Anzug an. Heute zum Beispiel trägst du eine graue Hose und ein Fischgräten-Jackett." 

    „Stimmt. Aber immerhin von Boss." 

    „Du musst das Firmenschild ja nicht draußen hängen lassen, sodass jeder es sehen kann." 

    „Auch wahr. Hängt es noch?" Max verdrehte den Kopf und beäugte die Ärmel seiner Jacke. 

    „Quatsch. Sei doch mal ernst. Da komme ich dich schon mal in deinem Exil besuchen und du erzählst mir hier gleich in der ersten Stunde einen Stuss zusammen, dass mir die Ohren wegfliegen!" 

    Max lehnte sich etwas über den Tisch. „Was meinst du mit Exil? Ich habe hier einfach meine zweite Heimat gefunden." 

    Sie verstummten kurz, als die Getränke kamen. 

    „Kann man denn überhaupt zwei Heimaten haben? Tante Gertruda meint nein." Tante Gertruda war die ledige Schwester ihres Vaters, die in Köln lebte. 

    „Was Tante Gertruda meint, interessiert mich in diesem bestimmten Fall wenig. Sie ist halt eine gute, brave Deutsche, die immer in Köln gewohnt hat und immer dort wohnen bleibt. Wie soll sie mich da verstehen können?" 

    „Und du bist eher der rastlos Umherziehende?" 

    „Nein. Das weißt du ganz genau. Nicht umsonst wohne ich jetzt schon seit fünfzehn Jahren in Orbe beziehungsweise in Lausanne." Max trank einen Schluck heißer Schokolade. 

    „Gibt es das Wort Heimat überhaupt in der Mehrzahl?" 

    Max zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wenn der Plural nicht existiert, dann erschaffen wir ihn halt." 

    Das Frühstück kam und in den nächsten zehn Minuten beschäftigten sich die beiden Brüder ausschließlich mit dem Essen. Es war still im Café. Eine große Fliege summte irgendwo im Raum. 

    „Ist Lausanne immer noch die Stadt mit den hübschesten Frauen dieser Welt?", wollte Anton nach einer Weile wissen. 

    „Klar. Und der bestaussehendsten jungen Männer. Sieh dich doch hier im Café einmal um." 

    Doch außer den Brüdern saß nur noch eine junge Asiatin vier Tische von ihnen entfernt und las in einem Taschenbuch. Vor ihr stand ein Teller mit zwei Croissants und eine Kanne Tee. Max warf ihr einen flüchtigen Blick zu. 

    „Außerdem bist du verlobt, fuhr er fort. „Da sieht man sich nicht nach anderen Mädchen um! Vergiss nicht, dass geschrieben steht: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib! 

    Anton hob drohend den Finger. „Stopp! Ich begehrte ja nicht. Ich genieße." 

    „Die von mir eben zitierte Warnung steht sogar zweimal im Alten Testament!", fuhr Max unbeirrt fort. 

    „Ja, ja, ich weiß. Aber wer hat das hier geschrieben: Wir Männer lustwandeln Tag für Tag in einem Garten voller Blumen. Gott hat uns in seinem vollkommenen Werk Augen geschenkt. Schauen wir uns daher die Blumen an, doch hüten wir uns davor, sie zu begehren, sie alle abzurupfen?" 

    Max grinste seinen Bruder an. „Wenigstens einer in der Familie, der sich am Rande mit meinen literarischen Versuchen beschäftigt hat. Aber diese tiefschürfenden Gedanken sind längst passé. Die habe ich schon 1980 zu Papier gebracht. Da war ich noch in der Schule! Ich kann mich auch daran erinnern, dass sie damals keiner von euch lesen wollte." 

    Anton grinste zurück und biss in sein Croissant. „Da siehst du es wieder: Geschriebenes hat den Nachteil, dass man es immer wieder nachlesen kann. Gefährliche Sache!" 

    „Komm, lass uns nicht über Frauen reden." 

    „Warum nicht? Ich bin gerade in eine verliebt. Liebe ist eine wunderbare Sache." 

    „Dafür habe ich keine Zeit." 

    Anton tippte sich an die Stirn. „Hör dir diesen Schwachsinn an!" 

    „Ich dachte, du seiest Beamter!" 

    „Na und?" 

    „Da hast du für Privatleben Zeit?" 

    „Ich weiß, was du meinst: Wir Beamten sind immer im Dienst. Das stimmt auch. Aber zurzeit denke ich gerade darüber nach, noch lauter kleine Finanzbeamte in die Welt zu setzen. Nachschub ist angesagt!" 

    Max schlug entsetzt die Hände zusammen. 

    Am anderen Tisch schaute die junge Frau erstaunt auf. 

    „Gott bewahre uns vor solch einem Übel!" 

    „Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht zu Eitlem aussprechen; denn Jahwe wird den nicht für schuldlos halten, der seinen Namen zu Eitlem ausspricht." 

    „Du kennst Gottes Wort wirklich gut auswendig! Trotzdem passt das nicht ganz. Andere Übersetzer geben nämlich ‚Eitlem‘ mit ‚zur Lüge‘ wieder. Und gelogen habe ich nicht. Ich habe es sogar halb ernst gemeint." 

    „Halbe Wahrheiten sind auch schon eine ganze Lüge. Erinnere dich an Mamas Worte! Aber genug der Bibelzitate." 

    „Nicht, dass du mich falsch verstehst: Ich freue mich für dich und deine Verlobte!" 

    Die beiden jungen Männer beendeten ihr Frühstück schweigend. Schließlich bat Anton, der augenscheinlich nicht mehr ruhig sitzen konnte: „Lass uns austrinken, bezahlen und ein paar Schritte in der Innenstadt tun. Vielleicht finde ich ja gleich heute ein Mitbringsel für Tanja." 

    Beim Verlassen des Lokals mussten die beiden jungen Männer an der asiatischen jungen Frau vorbei. Ohne Zweifel eine Studentin, überlegte Max. Gutaussehend. Sehr gutaussehend. Anton hatte recht: In Lausanne begegnete man wunderschönen Frauen aus der ganzen Welt. In anderen Großstädten war ihm das nie so aufgefallen. Das Mädchen trug ein dunkelrotes, mit blauen, weißen, rosa und gelben Punkten gemustertes Kleid mit Spaghetti-Trägern. Direkt unter dem ziemlich tiefen Ausschnitt saßen zwei perlmuttfarbene Knöpfe. Die Füße der jungen Frau steckten in braunen Sandaletten. Sie hatte dunkelbraunes, sehr langes Haar, das zu einem dicken Zopf geflochten war. Max hatte in seinem Beruf gelernt, das Äußere eines Menschen mit einem Blick zu erfassen. Krankenbeobachtung nannte man es da. 

    Als sich ihre Blicke trafen, schaute er in sanfte haselnussfarbene Augen. Wunderschön!, durchfuhr es ihn. 

    „Kann ich Ihnen helfen?", wollte die junge Frau auf Französisch wissen. 

    „Entschuldigen Sie. Habe ich Sie angestarrt?" Max sah sich hilfesuchend nach seinem Bruder um, doch dieser hatte das Lokal bereits verlassen. 

    „Das muss man ganz nüchtern so sehen. Ja." 

    „Das war wirklich nicht beabsichtigt. Ich bitte noch einmal um Entschuldigung." 

    Ein undefinierbares Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau. Dann nickte sie kurz und vertiefte sich wieder in ihr Buch. 

    Über dem Nachbartisch summte eine Fliege. 

    Das zu dem Thema ‚mit einem Blick erfassen‘, dachte Max mit glühenden Ohren und beeilte sich aus dem Café zu kommen. 

    Draußen hatte sich sein Bruder neben der Eingangstür gegen die Hauswand gelehnt und kicherte vor sich hin. „Alleine dein blödes Gesicht ist schon die Reise wert gewesen, Doktor! Er hatte Tränen in den Augen. „Dein Umgang mit Frauen ist wirklich zum Schreien komisch. Oder einfach peinlich. Das kannst du dir aussuchen! 

    „Hör schon auf, brummte Max erbost. „Ich dachte, du wolltest in die City! 

    Weinsberg, Bundesrepublik Deutschland, 1980 

    Die Zeit des Erwachsenwerdens war, was das Verhältnis von Max zu seinem Vater betraf, nicht ohne Probleme gewesen. Der Sohn hatte seinen Vater stets als äußerst autoritär empfunden. Besonders in der Pubertät litt er extrem darunter. Schmerzhaft empfand er, dass sein Vater ihn nicht verstand, auf seine Bedürfnisse nicht einging. 

    Der alte von Bülow war das Musterbild eines Verwaltungsbeamten. Er war stets pünktlich, besonders außerhalb seiner vier Wände korrekt in Wort und Tat, und aufrichtig bemüht, seine eigene, vermeintlich gute Erziehung an die drei Söhne weiterzugeben und der Familie wohl vorzustehen. Die unangenehme Seite an seinem Charakter war, dass er unflexibel, cholerisch und herrschsüchtig war. Was von Bülow senior anordnete, musste von den Jungen diskussionslos ausgeführt werden. Sofort. Mit zunehmendem Alter leisteten die heranwachsenden Brüder passiven Widerstand gegen die Autoritätsperson ihres Vaters. Offener Widerstand endete meistens mit einem Tobsuchtsanfall Karl-Gustavs und nicht selten mit Schlägen. Die Hände des Vaters waren so groß wie Untertassen. Oder noch größer. So kam es den drei Brüdern in jungen Jahren wenigstens vor. Da tat man schon gut daran, ihnen aus dem Weg zu gehen. Was seinen Vater betraf, war sich Max über seine Gefühle nicht recht klar. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Hassliebe. Dass sein Vater aufrichtig bemüht war, seinen Söhnen christliche Tugenden beizubringen, wurde seinem Ältesten nicht deutlich. 

    Max und seine beiden jüngeren Brüder waren sich jedoch trotz der, wie sie meinten, ungerechten Härte ihres Vaters durchaus bewusst, dass dieser alles für sie tat, was in seinen Kräften stand. Das war die andere Seite Karl-Gustavs: Er kämpfte für seine Söhne. Im wahrsten Sinne des Wortes.

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