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Du sollst doch leben: Eine berührende Hommage an das Leben - trotz der Diagnose Krebs
Du sollst doch leben: Eine berührende Hommage an das Leben - trotz der Diagnose Krebs
Du sollst doch leben: Eine berührende Hommage an das Leben - trotz der Diagnose Krebs
eBook252 Seiten3 Stunden

Du sollst doch leben: Eine berührende Hommage an das Leben - trotz der Diagnose Krebs

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Über dieses E-Book

Als Kåri Kloth an ihrem Geburtstag ihre Mutter umarmt, hört sie Irmgards rasselndes
Atmen. Sie ist alarmiert, fragt nach. Zögernd berichtet Irmgard von der Diagnose, die
ihr wenige Tage zuvor eröffnet wurde: Ein faustgroßer Tumor in ihren Bronchien.
Krebs? Die Befürchtung bestätigt sich. Schock. Alles ist wirr. Unfassbar. Krebs.
Eine Guillotine aus fünf Buchstaben. Gnadenlos spaltet sie Lebensträume und
Zukunftspläne, lässt auch Kåri um Atem ringen. Hautnah, schonungslos offen und
voller Liebe schildert die Autorin diesen Lebensabschnitt und illustriert ihn mit sehr
persönlichen Fotos. Für Kåri wird diese Zeit zu einem Spagat zwischen Hoffnung,
Drama, Lebenslust und Reiseabenteuer. Irmgard will keine Traurigkeit, kein
Bedauern. Sie will Lebensfreude und ist zutiefst dankbar für jede Sekunde
Lebenszeit. Daraus schöpft sie Kraft, Akzeptanz, Gelassenheit und inneren Frieden - ihre Wegbegleiter bis zum letzten Atemzug. In den zwei Jahren des Abschieds knüpft
eine Fülle von Erlebnissen und Gesprächen ein Band der Erinnerung, das der
Tochter bis heute Stärke spendet.
Dr. med. Ina-Marie Mayrhofer, Palliativmedizinerin und Psychotherapeutin: „Dieses Buch ist für Patienten, Angehörige, Ärzte und Schwestern eine wichtige Hilfe im Umgang mit einer Krankheit wie Krebs. Es tröstet, motiviert und schenkt manch neue Perspektive. Es vermittelt außerdem die befreiende und ermutigende Botschaft, dass man aus Liebe seine Angst überwinden kann, um seinem liebsten Angehörigen ein würdiges Ende zu bereiten.“
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Juni 2016
ISBN9783960141471
Du sollst doch leben: Eine berührende Hommage an das Leben - trotz der Diagnose Krebs

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    Buchvorschau

    Du sollst doch leben - Kari Kloth

    ATEMLOS

    Montag, 13. März 1998. Sechzehn Uhr.

    »Waaarum?« Wie eine Furie hetzt sie das klapprige Fahrrad den Feldweg entlang. Schneller, nur schneller! Der eisige Wind zerrt an ihren Haaren, schneidet in ihre Haut. Wie besessen tritt sie in die Pedale, schlittert, rutscht. Schneematsch spritzt die Gummistiefel empor, vermischt mit Splittern eisbedeckter Pfützen. Vergebens kneift sie ihre Augen hinter den beschlagenen Brillengläsern zusammen. Schneetreiben. Milchglaswelt. Irreal, wie der ganze Tag.

    Sie jagt weiter. Verbissen, zornig. Atemlos.

    Ein Wettrennen ohne Ziel. Halsbrecherisch rast sie den abschüssigen Waldpfad hinunter zum Schwanensee. Freihändig. Sie fühlt sich zu zerschlagen, um noch irgendetwas in die Hand zu nehmen, irgendetwas zu lenken. Nur noch getragen werden, alles rollen lassen …

    Für einen zeitlosen Augenblick wird das Fahrrad zum Schicksalsrad, bestimmt ihren Weg. Gefährlich schlingert es über den Waldboden. Nur wenige Sekunden vergehen. Das Rad kippt, sie fällt.

    »So ein Mist.« Kari flucht, stopft das zerbrochene Brillengestell in ihre matschfeuchte Jackentasche, rappelt sich hoch und hinkt mit zerrissener Cordjeans zum Fahrrad, das seine verbeulte Vorderradfelge wie anklagend in die Luft streckt.

    »Warum? Warum? Warum?« Hitzig schlägt sie gegen ihre Schläfen. Vergebens. Keine Chance, die Frage aus ihrem Schädel zu prügeln oder Tatsachen ungeschehen zu machen.

    Schluchzend vor Wut und Verzweiflung versucht sie, das Unfassbare zu bekämpfen, zerrt wild an frostigen Ginsterbüscheln und Brombeerzweigen, bis ihre Finger bluten. Der körperliche Schmerz beruhigt, wirkt wie eine Droge.

    Missmutig tupft sie die Blutstropfen mit ihrem Halstuch ab, lässt das Fahrrad achtlos zurück und setzt ihren Weg zu Fuß fort. Vor ihr liegt der See. Nur wenige Schritte entfernt.

    »Dich hat auch niemand gefragt, ob du sterben willst, oder?« Nachdenklich streicht sie über den froststarren Zweig einer gefällten Tanne, taucht Minuten später ihre Finger ins eisige Wasser, bis sie taub werden.

    »Empfindungslosigkeit. Das Mittel zur Schmerzbekämpfung«, murmelt sie, ballt die Hände zu Fäusten. »Es tut weh, tierisch weh.« Sie bricht in Tränen aus. Nutzlos im Kampf gegen das Chaos ihrer Gedanken und Ängste.

    Krebs.

    Die Atemnot, der Husten. Keine Lungenentzündung, wie vermutet.

    ~~~

    Montag, 13. März 1998. Neun Uhr.

    »Ihre Mutter hat einen faustgroßen Tumor. Es tut mir leid.« Stille auf dem Stationsflur der Lungenabteilung des Harburger Krankenhauses in Hamburg. Unbeeindruckt zog der Sekundenzeiger der Wanduhr seine Kreise. Unerbittlich tickte die Zeit.

    »Wir tun, was wir können.« Dr. Petermann, der Oberarzt des Fachbereichs Onkologie, nickte, wie zur Bestätigung seiner Worte. Die Finger seiner rechten Hand glitten durch sein dichtes Haar.

    ‚Jung sieht er aus. Wie oft er diese Worte wohl aussprechen muss?‘

    »Wie..lan..ge..noch?« Ihre Frage kam bruchstückhaft. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie derart mühsam um die Formulierung von vier einfachen Silben gerungen.

    »Zunächst brauchen wir Gewissheit, wie bösartig der Tumor ist. Wir kennen seine Zellbeschaffenheit nicht.«

    »Was genau …?« Ihre Kehle krampfte, ihre Stimmbänder blockierten.

    »Ich werde Ihre Mutter noch heute bronchoskopieren, mir die oberen Luftwege von innen ansehen und eine Gewebeprobe für die Histologie entnehmen. Es folgen Computertomographie und Ultraschall, um eine eventuelle Bildung von Fernmetastasen zu überprüfen. Ich muss wissen, ob es Tochtergeschwulste an den Knochen oder inneren Organen gibt.

    Es gibt noch zu viele Unbekannte, um etwas Genaues zu sagen. Wir müssen abwarten und hoffen.«

    »Operation?« Kari vermochte nur im Telegrammstil zu sprechen.

    »Der Tumor ist leider sehr groß. Außerdem wächst er genau an der Verzweigung der zwei Hauptbronchien, die beide Lungenflügel mit Luft versorgen. Sehen Sie?« Dr. Petermann wies mit einem schmalen Lineal auf das Röntgenbild am Bildbetrachtungsschirm, umkreiste einen faustgroßen Schatten, dann drei kleine Rundherde und erklärte: »Drei Metastasen am rechten Mittellappen.«

    »Keine Chance einer Operation?« Er musste sich irren!

    »Ich fürchte nein, aufgrund der Tumorlage. Ich werde aber selbstverständlich mit dem Chirurgen sprechen.« Ihre Fingernägel bohrten sich tief in ihre Handflächen. Sie registrierte es nicht.

    »Was bleibt? Ich meine, bei …?« Sie brachte ihre Angst auf den Punkt, wollte Klarheit.

    »Es gibt viele Arten von Lungenkrebs. Einige reagieren auf Chemotherapie, andere auf Bestrahlung«, nahm der Arzt ihre Frage auf. Seine Augen blickten warm und mitfühlend.

    »Bestrahlung … Chemotherapie …« Klebrig wie Kaugummi hafteten die Worte zwischen ihren Zähnen. »Und ohne?«

    »Ohne Therapie bleiben uns leider nur sterbebegleitende Maßnahmen.« Dr. Petermann sah sie forschend an.

    »Ster…?« Nichts ging mehr. Nicht einmal ein Flüstern.

    »Ja. Wie Morphium. Um das Leiden zu lindern. Um Ihrer Mutter die Schmerzen zu erleichtern.«

    »Wie lange noch?« Mit letzter Kraftreserve wiederholte sie ihre Eingangsfrage.

    »Das lässt sich nicht beantworten.« Dr. Petermanns freundliche Miene verschloss sich.

    »Ich brauche Ihre persönliche Meinung. Bitte! Es gibt doch Erfahrungswerte!«

    »Warum fragen Sie mich das?« Ein forschender Blick.

    »Abschied. Ich brauche Zeit. Zum Abschied. Ich …« Ihre Stimme. Nicht mehr als ein Hauch. Hat der Arzt sie überhaupt gehört? Seine Mimik verrät nichts.

    »Ohne Behandlung vielleicht sechs bis acht Wochen? Das ist nur eine äußerst vorsichtige und heikle Schätzung. Ich bin nicht Gott.«

    »Sechs bis …«

    Kari stürzte aus dem Haus, auf den Parkplatz, in ihr Auto. Der Rückspiegel, vor dem sie vor wenigen Minuten hoffnungsvoll ihre Lippen nachgezogen hatte, zeigte eine Maske. Bleich, mit rotgeränderten Augen.

    »Keine Zeit zum Heulen. Nicht hier, verstanden! Mami wartet auf dich.« Sie drohte ihrem Spiegelbild mit zusammengebissenen Zähnen. »Hör zu, Alte, du stehst das jetzt durch! Zeig Rückgrat! Verflucht, reiß dich zusammen!«

    Lautstark debattierte sie mit sich selbst, glaubte dennoch zu ersticken, als sie erneut die Klinik betrat und die Klinke der Zimmertür Nummer fünf, Station sieben drückte.

    »Hi Mami!« Ihre Stimme klang künstlich. ‚Verdammt, Kari, du schaffst das!‘ Sie zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Schauspielakt Klappe Eins. Plauderton. »Du kannst einen vielleicht erschrecken.«

    Der rasselnde und keuchende Atem ihrer Mutter bedrohte sekundenschnell jeden Vorsatz um Haltung. Nur mühsam bekämpfte Kari den Impuls zu weinen. Wortlos und liebevoll umarmte sie Irmgard, ihre Mutter, suchte Halt und Zuversicht zu geben.

    »Wir schaffen das, okay? Zusammen!« Ihre Mutter erwiderte ihre Umarmung, lächelte.

    »Mach dir nicht zu große Sorgen, Liebes, bitte. Ich bin hier bestens aufgehoben. Herr Doktor Petermann ist ein Schatz. Er nimmt sich viel Zeit, hört mir zu, erklärt. Heute Mittag hat er sich auf mein Bett gesetzt und meine Hände genommen, um mit mir die nächsten Schritte zu besprechen. Er sagte: ›Frau Eichler, ich behandle Sie so, wie ich auch meine Mutter behandeln würde.‹«

    Ein Hustenanfall schüttelte Irmgard. Mühsam rang sie um Luft. Ihre zitternden Hände umschlossen Karis.

    »Machen wir uns nicht jetzt schon verrückt, in Ordnung?« Ungläubig schaute Kari ihre Mutter an. Woher nahm sie nur ihre Gelassenheit, woher die gottverdammte Zuversicht? Wo war die Quelle ihrer Kraft?

    Tod. Kari hatte ihn selbst einmal hautnah an sich erfahren, fürchtete ihn nicht. Nicht für ihre eigene Person. Doch leidvolles Siechtum – davor graute ihr. Undenkbar, hilflos im Bett zu liegen, vielleicht geh- und handlungsunfähig, abhängig von Hilfsmaßnahmen fremder Personen oder Geräten. Sanft erwiderte sie Irmgards Händedruck.

    »Warum? Mami, warum ausgerechnet du? Warum habe ich nicht gespürt, wie krank du bist? Ich begreife das nicht.« Selbstschutz? Die Frage blieb unbeantwortet. Es blieb das Gefühl des Versagens. Ein Schuldgefühl.

    »Seit Wochen wusstest du von dem Tumor in deiner Lunge, und du hast nichts gesagt. Wieso?« Verbaler Angriff. Verzweiflung wandelt sich in Aggression.

    »Am dem Tag, als ich es erfahren habe, hattest du deine Kieferoperation. Du konntest tagelang nicht sprechen.« Erklärung. Rechtfertigung.

    »Aber doch nur ein paar Tage. Wieso hast du dich nicht sofort ins Krankenhaus einweisen lassen?« Vorwurf. Schuldzuweisung. Ein unfaires Verhalten, doch besser als die eigene Hilflosigkeit zu spüren.

    »Zuerst musste ich den Schock überwinden. Danach habe ich mich sofort um eine Einweisung ins Krankenhaus bemüht. Nur gab es kein freies Bett!« Irmgard machte Pause. Das Reden strengte sie sichtlich an.

    »Wochenlang kein Bett?« Kari war fassungslos.

    »Liebes. Bitte hör auf, mir oder dir Vorwürfe zu machen. Sieh es doch einmal anders. Wenn du mich an deinem Geburtstag vor drei Tagen nicht umarmt hättest, wäre dir meine verrückte Atmung nicht aufgefallen. Du hättest nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, und ich wäre bis heute noch ohne Krankenhausbett. Versteh doch, ohne deine Hilfe wäre ich jetzt nicht hier. Es kommt doch nicht auf zwei Wochen an.«

    Wochen? Wenn Irmgard wüsste. Es zählte jede Stunde! Doch das konnte sie ihrer Mutter unmöglich sagen. Kari biss die Zähne zusammen, beugte sich über die Einstichstelle der Blutentnahme an der Armbeuge ihrer Mutter und entfernte behutsam den blutigen Tupfer, der mit zwei Streifen Leucosilk verklebt war.

    ‚Vielleicht zu spät. Tage, Wochen zu spät‘, schrie es in Kari. Tapfer nickte sie ihrer Mutter zu, schwieg.

    »Komm, lach mal wieder. Ich bin froh, dass ich jetzt hier bei Herrn Doktor Petermann bin.«

    Kari reagierte wie gewünscht, äußerlich zuversichtlich, innerlich zerrissen. Ein schauspielerischer Spagat. Doch ihre Gedanken jagten im Kreis um die Frage: Wer war schuld? Der Hausarzt, der ihre Mutter seit Weihnachten fälschlicherweise auf Bronchitis behandelt hatte? Der Notarzt, der Mitte Januar Lungenentzündung diagnostizierte und sinnlos Antibiotika verordnet hatte? Ihre Mutter, die ihnen bis zu dem Tag der Röntgenaufnahme vertraute? Das Krankenhaus, das Irmgards Aufnahme verzögerte, da es nur die Einweisung eines niedergelassenen Onkologen akzeptierte? Sie selbst, die nicht gespürt hatte, in welcher Gefahr ihre Mutter schwebte?

    »Habe ich es nicht wissen wollen? Warum bin ich nicht zu Irmgard gefahren, als die Hustenattacken nach fünf Wochen nicht verschwanden, und habe mich selbst überzeugt? Wieso habe ich mir nicht die Zeit dafür genommen? Was war so immens wichtiger?

    Aufgewühlt begleitete sie ihre Mutter die langen Krankenhausgänge zur Computertomographie. Minuten später sah sie den Tumor auf dem Monitor schnittgerecht zerlegt.

    Sie sah vier Zentimeter Tod.

    Eine Stunde später wurde Irmgard auf der Liege zur Bronchoskopie gefahren. Sie wirkte sehr zerbrechlich in ihrem grünen Operationskittel. Nichts wies auf ihren gewohnten Kampfgeist hin, außer einer rötlich blonden Haarsträhne, die unter dem Gummizug der blauen Papierhaube hervorlugte. Ein gutes Omen in der sterilen Krankenhauswelt?

    Nein. Zwei Stunden später erfolgte die gefürchtete Bestätigung, lautete die finale Diagnose des Gewebeschnelltests Krebs. Das Aus. Hoffnungslos.

    Hoffnungslos? Nein!

    »Wir haben Glück. Die anschließende Ultraschalluntersuchung zeigt keine Fernmetastasen in den inneren Organen.«

    Die Chemotherapie konnte beginnen.

    ~~~

    Fragezeichen Leben. Kari versucht das Unmögliche, zeichnet mit ihrem Zeigefinger den Bogen eines Fragezeichens auf die Wasseroberfläche des eiskalten Schwanensees. Doch bevor sie den Punkt setzen kann, ist der erste Bogen bereits verschwunden. Sie probiert es erneut. Sinnlos. Nicht ein Fingerabdruck haftet.

    Sie hält inne, beginnt mit dem Versuch, Wasser zu schöpfen. Fest umschließen ihre Finger das Nass, bemüht, es zu halten. Doch es entzieht sich jedem Griff, tropft zurück in den See, hinterlässt eine scheinbar unberührte Wasseroberfläche.

    Träge schwimmt ein Grashalm vorbei, lässt sich von der Strömung tragen. Er strebt nicht danach, Unfassbares zu begreifen. Er verschwendet seine Energie nicht darauf, etwas ändern zu wollen, das nicht zu ändern ist. Er lässt sich tragen.

    »Jawohl Grashalm. Zeig es mir. Du bist schlauer als ich. Ein Fragezeichen in eine Seeoberfläche zu gravieren, ziemlich dämlich, was? Genauso wie der Versuch, Wassertropfen festzuhalten. »Es ist unmöglich, richtig?« Sie richtet sich auf.

    »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Von wegen. Schwachsinn, dieser Spruch. Mamis Erkrankung an Krebs ist eine Tatsache. Ob ich will oder nicht. Ob sie will oder nicht. Der Tumor lässt sich nicht leugnen.« Der Grashalm dreht sich um die eigene Achse. »So, du meinst, meine Gedanken drehen sich im Kreis? Stimmt! Ich will etwas tun, aber was?

    Ich kann doch nicht meine Hände in den Schoß legen und untätig zusehen wie Irmgard stirbt. Ich möchte helfen, aber wie? Das Warten macht mich verrückt.«

    Sie wandert ein paar Schritte am Ufer entlang, beobachtet die Bahn des Grashalms. Wohin er wohl gleitet? Zur Brücke? Zur Insel? Abrupt bleibt sie stehen.

    »Begleiten – ist das deine Botschaft? Meine Mutter auf ihrem Weg begleiten?«

    Der Grashalm treibt zum Ufer. Hastig kniet sie sich in den Schnee, hält ihm ihren Zeigefinger entgegen, berührt sanft seine Spitze. Sie hält ihn nicht auf, nicht fest. Sie lässt ihn seines Weges ziehen, bleibt jedoch in seiner Nähe, beobachtet und begleitet ihn.

    Die Strömung wird schneller. Sie läuft parallel zu ihm am Ufer entlang, versucht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Doch sie stolpert, fällt, staucht sich schmerzhaft den Knöchel. Ein Fingerzeig. Auch als Begleiterin sollte sie ihren eigenen Weg nicht aus den Augen verlieren.

    Der Grashalm taucht im Schatten einer Brücke unter, Kari bleibt zurück. Es gilt Abschied zu nehmen. Loszulassen.

    »Adieu Grashalm, gute Reise«, murmelt sie leise. »Danke für die gemeinsame Zeit.«

    Nachdenklich dreht sie dem See den Rücken zu, tritt den Rückweg an. Ungeachtet all der Geschehnisse des Tages bricht die Dunkelheit herein, tobt ein Schneetreiben.

    »Das Leben geht weiter, egal was geschieht.« Keine abgedroschene Phrase.

    Erschöpft richtet sie das Fahrrad auf. Sie hat Glück. Es ist fahrtüchtig, rollt. Zwar schleifend, aber sie kommt voran.

    »Sich freuen über das, was möglich ist. Mami, wie machst du das bloß?«

    WARTEZEIT

    Die erste Chemotherapie beginnt, der erste Zyklus. Dr. Petermann erklärt seine Entscheidung:

    »Präzisere Ergebnisse zum Zelltyp benötigen eine mehrtägige morphologische Untersuchung. Die Wartezeit dauert zu lange und bedeutet den Verlust kostbarer Zeit.«

    Das Ringen mit dem Tod hat begonnen. Ein unerwarteter neuer Zellschub, und Irmgards letzte Chance wäre vertan.

    Es folgen Infusionen. Tagelang.

    Erbrechen. Stundenlang.

    Warten – ein inneres Ringen, ein Wechselbad der Emotionen wie Hoffnung, Vertrauen, Ungeduld und Anklage. Ein Zustand der Ohnmacht. Gelassenheit und Vertrauen sind gefordert. Nicht Karis Favoriten.

    ~

    Tage später. Irmgard wird aus dem Krankenhaus entlassen. Eine Entlassung ins Ungewisse. Mit aufmunternden Worten von Dr. Petermann:

    »Frau Eichler, Sie schaffen es. Ich glaube fest daran. Wir sehen uns in drei Wochen zur nächsten Chemo.«

    ‚Falls Irmgard die Zeit überlebt.‘ Sie weiß nichts von der akuten Lebensgefahr. Will es nicht wissen. Ihr ausdrücklicher Wunsch an Kari.

    »Ich will nichts davon hören, wie viel Zeit mir noch bleibt. Das belastet mich zu sehr. Du als Medizinisch-Technische-Assistentin hast das medizinische Know-How, kannst dich mit Herrn Doktor Petermann oder anderen Ärzten über medizinische Details unterhalten. Frag sie, was du wissen möchtest, doch lass mich bitte außen vor, ja?«

    ~

    5. April 1998. Drei Wochen später. Zweiter Zyklus. Die Chemo erschöpft Irmgard sehr, doch sie verliert trotz Übelkeit und Nervenkrieg nicht ihren Humor. Galgenhumor? Nein, echte Lebensfreude.

    »Ich kann’s doch eh nicht ändern.« Nicht ein einziges Mal die Frage: Warum ich? Keine Verzweiflung. Keine Wut. Kein Aufbegehren oder Anklage. Dafür freudige Dankbarkeit für jede Art der Aufmerksamkeit, für jede Zuwendung.

    Irmgards fehlender Groll ist Kari suspekt, ja unbegreiflich und unnatürlich. Fast übernatürlich. Wäre sie selbst in Irmgards Situation, sie würde definitiv als Drama-Queen agieren mit einem Spektrum aus Depression und Aufbegehren, Weinkrämpfen und zorniger Verzweiflung.

    9. April 1998. Irmgard ist zu Hause in ihrer Wohnung im Thiedeweg, in Hamburg. Allein. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Kari sucht Zuflucht bei ihrem Lebensgefährten Walther in ihrem gemeinsamen Haus in Kakenstorf, ein kleines Dorf in der Nordheide. Es folgen Nächte voller Angstträume. Tage zwischen Vertrauen, Dankbarkeit, Furcht und Niedergeschlagenheit. Eine emotionale Achterbahn. Rasante Loopings inbegriffen.

    Kari werkelt in der Küche, das Telefon schrillt. Sie schrickt zusammen. Irmgard? Ihr Herz rast. Gute Nachrichten? Schlechte? Ein Albtraum, das Telefon – ob es läutet oder nicht. Beides ist unerträglich.

    »Kari Kloth. Hallo?«

    Das Faxsignal ertönt, sie legt den Hörer auf. Das Telefaxgerät druckt ein Schreiben der Krankenkasse aus. Kari atmet erleichtert auf. Keine Hiobsbotschaft, wie ein drohender Erstickungstod. Die sekundenlange Horrorvision verblasst. Kurzfristig. Doch sie ist allgegenwärtig.

    Erstickungstod. Eine reale Möglichkeit. Eine grausame Vorstellung.

    Kari hat in all den Jahren ihrer Tätigkeit als Medizinisch-Technische-Assistentin im Krankenhaus viele Menschen sterben sehen. Die Konfrontation mit Sterbenden, der Anblick von Not und Schmerz ist ihr vertraut. Doch zuzusehen, wie ihre eigene Mutter

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