Befiehl du deine Wege: Ein musikalischer Begleiter durch die Fasten- und Passionszeit
Von Meinrad Walter
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Über dieses E-Book
Tag für Tag wird in diesem Buch ein Musikstück vorgestellt aus einer breiten Auswahl vokaler und instrumentaler Stücke von Händel, Mozart und Buxtehude bis hin zu moderner Filmmusik. Auch bekannte Kirchenlieder wie "O Haupt voll Blut und Wunden" oder "Christ ist erstanden" dürfen natürlich nicht fehlen. Das Buch lädt dazu ein, den Weg vom Aschermittwoch bis zum Osterfest Schritt für Schritt im "Rhythmus" musikalischer Meisterwerke mitzugehen. QR-Codes führen zu sorgfältig ausgewählten Aufnahmen der vorgestellten Stücke. Meinrad Walter präsentiert alle Werke so, dass weder musikalische noch theologische Vorkenntnisse nötig sind. Wichtig ist vielmehr, dass die historischen Informationen immer wieder in Impulse für ein vertieftes Hören und Verstehen übergehen.
Meinrad Walter
Meinrad Walter, Dr. theol., geb. 1959, Studium der Theologie und Musikwissenschaft in Freiburg und München; Tätigkeiten im universitären Bereich sowie im Journalismus und Verlagswesen; seit 2002 Referent für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg; seit 2012 zudem Honorarprofessor für Theologie/Liturgik an der Musikhochschule Freiburg i.Br.
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Buchvorschau
Befiehl du deine Wege - Meinrad Walter
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv und Abbildungen im Innenteil: Orlando di Lasso 1532–1594 [Komponist] / Hans Mielich [Illuminator/Illustrator] / Jean Pollet [Schreiber]: 4 Sacred songs [Bußpsalmencodex] – Bayerische Staatsbibliothek, München, Signatur BSB Mus.ms. A I(1
Layoutkonzept: dtp studio eckart Jörg Eckart
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-39725-7
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83275-8
Zur Einstimmung
Keine Zeit im Jahr ist so spannungsvoll wie die sieben Wochen von Aschermittwoch bis Ostern. Um ein Loslassen von Gewohntem geht es und um das Entdecken neuer Perspektiven, um irdische Vergänglichkeit und aufkeimende Hoffnung. Überdies steht die Fasten- und Passionszeit auch in einer Spannung, was die Klangwelt angeht: Da gibt es zum einen durchaus festliche Musik wie etwa Johann Sebastian Bachs Passionswerke, wenngleich immer ohne „Pauken und Trompeten; zum anderen steht die Fastenzeit und insbesondere die Karwoche als „stille Zeit
vielerorts im Zeichen des Verzichts auf jegliche Instrumental- und Orgelmusik. Beides hat seinen Reiz und wird uns in diesem Buch begegnen. In vokalen und instrumentalen Werken wird sogar deutlich, dass der Verzicht auf quantitative Opulenz für viele Komponisten ein Anreiz ist, höchste Qualität mit anderen Mitteln zu erreichen.
Das thematische Spektrum dieser besonderen Zeit ist geradezu vielfarbig. Wir hören von Lebenslust und Sterbekunst, von Trauer und Trost, von bitterer Enttäuschung und tragfähigem Vertrauen. Nur wenige Aspekte mögen zur Einstimmung genügen: Leid und Leidenschaft prägen die Passionsmusik als Musica Crucis. Ostern kommt zur Geltung, wenn etwa Georg Friedrich Händel in seinem „Messias-Oratorium das Wort des Apostels Paulus „Wie durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt durch Einen auch die Auferstehung der Toten
(1 Korinther 15,21) geradezu musikalisch-gegensätzlich inszeniert. An weiteren Beispielen fehlt es nicht. Die urmenschliche Bitte „Erbarme dich, mein Gott! erklingt in ergreifenden Bußpsalmen, und von den Tränen der Jüngerin Maria Magdalena, die nach dem Zeugnis der Bibel Jesu Leidensweg miterlebt hat, handelt ein barockes Oratorium von Antonio Caldara. Auf Jesu Ruf in die Nachfolge „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!
(Markus 1,15) reagiert nicht nur die Arie „Ich folge dir gleichfalls in Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, sondern auch der Popsong „I will follow him
aus dem erfolgreichen Kinofilm „Sister Act. Das Abendmahl des Gründonnerstags wird ebenso in Musik „übersetzt
wie die Sieben Worte Jesu am Kreuz.
Dieses Buch will dazu anregen, den Weg von Aschermittwoch bis Ostern Schritt für Schritt im „Rhythmus von Musikstücken mitzugehen. Die ausgewählten Werke weiten den Horizont des musikalischen Erlebens und geben diesen vierzig Tagen eine besondere „Note
. Indem sie die spirituellen „Tonarten der Bibel und der Liturgie aufgreifen, ergänzen sie sich zu einem „Ensemble
von Themen und Gesten. Auch bekannte Kirchenlieder wie „O Haupt voll Blut und Wunden oder „Christ ist erstanden
fehlen nicht. Doch auch weniger Bekanntes darf entdeckt werden: eine ausdrucksstarke Salzburger Passionsmusik des elfjährigen Wolfgang Amadeus Mozart und Dietrich Buxtehudes musikalische Andacht an das Herz des Gekreuzigten auf einen mittelalterlich-mystischen Text, ein Konzert für Bratsche und Orchester über die Verleugnung des Petrus aus der Feder der englischen Komponistin Sally Beamish und russische Musik zur orthodoxen „Ganznächtlichen Vigil" von Sergej Rachmaninow.
Alle Musikstücke werden so vorgestellt, dass beim Lesen weder musikalische noch theologische Vorkenntnisse nötig sind. Wichtig ist vielmehr, dass die historischen Informationen immer wieder in Impulse für ein vertieftes Hören und Verstehen übergehen. Zum klingenden Begleiter wird dieses Buch, weil jeweils auch QR-Codes zu hervorragenden Einspielungen im Internet führen. Das Sich-Zeit-Nehmen für das Hören der Musik ist ohnehin das Wichtigste. Ähnlich wie bei dem bereits vorliegenden Buch „Auf, preiset die Tage!, dem musikalischen Begleiter durch die Advents- und Weihnachtszeit (Herder 2022), hat der Verfasser nur diesen Wunsch: Mögen die vielen klingenden Variationen zur Fasten- und Passionszeit bis zum österlichen Höhepunkt mit dazu beitragen, diese sieben Wochen tiefer zu erleben, bewusster zu gestalten und Tag für Tag hörend zu begehen – im spirituellen „Dreiklang
von emotionalem Hören, rationalem Verstehen und religiösem Glauben.
Freiburg, im Sommer 2023
Meinrad Walter
»Man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik«
Der berühmte Bußpsalm »Miserere«, vertont von Gregorio Allegri
Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.
Et secundum multitudinem miserationum tuarum dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea, et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco, et peccatum meum contra me est semper.
Psalm 50 (lateinische Zählung der Vulgata), Verse 3–5
Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit.
Und in der Fülle deines Erbarmens tilge mein Vergehen.
Wasch meine Schuld von mir ab, von meinen Sünden reinige mich.
Denn mein Vergehen erkenne ich, und meine Sünde steht immer vor mir.
deutsche Übersetzung (Psalm 51)
In den ersten vier Tagen der Fastenzeit hören und bedenken wir Musik zu den Psalmen. Die thematisch geradezu „polyphonen 150 Psalmen des Alten Testaments haben für Juden und Christen eine mehrfache Bedeutung. Sie sind ein erfahrungsgesättigtes Lebensbuch und ein unerschöpfliches Glaubensbuch. Zugleich ist der Psalter ein großes „Inspirationsbuch
, denn zu seinen Gebeten entstanden im Lauf der Jahrhunderte zahllose spirituelle und künstlerische „Resonanzen. Auch die Musikgeschichte wäre ohne diese biblischen Lieder um einige Kapitel kürzer! In unserem musikalischen Begleiter durch die Fasten- und Passionszeit soll der Bußpsalm „Miserere
am Anfang stehen, der heutzutage liturgisch in ökumenischer Gemeinsamkeit am Aschermittwoch erklingt.
Ein besonders berühmtes „Miserere stammt aus dem 17. Jahrhundert. Diese Klänge führen uns in die Sixtinische Kapelle und in die Karwoche, die auch „Heilige Woche
genannt wird. Der Komponist heißt Gregorio Allegri. 1582 in Rom geboren, wird er im Dezember 1629 von Papst Urban VIII. in das Collegium der päpstlichen Sänger aufgenommen. Nach 22-jährigem Wirken findet er seine letzte Ruhestätte im Grab der päpstlichen Sänger in Santa Maria in Vallicella. Dort zeigt bis heute eine Marmorplatte die Noten seines fünfstimmigen Kanons „Cantabimus Canticum Novum (vgl. Psalm 96 und 98) – „wir werden das Neue Lied singen
. Das ist ein biblisch fundierter „Oberton" vieler komponierter Gebete und ein gutes Motto für die Fastenzeit als Zeit der Erneuerung!
Allegris Musik zum Psalm „Miserere wurde auch deshalb so berühmt, weil sie im 18. und 19. Jahrhundert viele Italienreisende fasziniert hat. Johann Wolfgang von Goethe etwa nennt unser Chorstück zum Aschermittwoch „undenkbar schön
. Und Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt:
Ja, wenn man immer von der besonderen Art des Vortrags sprechen hört, und wenn die Leute erzählen, die Stimmen klängen nicht wie Menschen-, sondern wie Engelstimmen aus der Höhe, so meinen sie immer diese eine Verzierung. Wie nun der Sopran das hohe C recht rein und sanft fasst und lange ausklingen lässt und dann langsam herabgleitet, während der Alt immerfort sein C hält, so dass ich im Anfange sogar getäuscht war und glaubte, das hohe C bleibe während dessen oben liegen, und wie sich die Harmonie so nach und nach auseinanderwickelt, das ist wirklich ganz prächtig.
Mendelsohn berichtet auch, wie die Kardinäle kurz vor dem Erklingen dieses Psalms beim Erlöschen der Kerzen mit den Füßen scharrten. Ein eindrucksvoller Ritus, der ins Schweigen mündet. „Nach der Stille aber kommt „ein schön gelegter Akkord; das tut ganz herrlich, und man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik
, so Mendelssohns Bericht. Auch das hohe C des Soprans findet er höchst eindrucksvoll, wenngleich dieser Ton gar nicht in den originalen Noten steht, sondern sich der sängerischen Tradition des päpstlichen Chores verdankt.
Mit diesem „Miserere, das der Chor im Dunkeln und auswendig gesungen hat, fordert Allegri alle Sinne seiner Hörerinnen und Hörer heraus. Manches war damals mehr zu erahnen, als deutlich zu sehen: wie der Papst, ohne Mitra übrigens, in der mit schwarzem Tuch verhängten Sixtinischen Kapelle seinen Thron verlässt und sich vor dem Altar niederwirft, wie die Kerzen nacheinander gelöscht werden. Und noch eine weitere Besonderheit trug zur Berühmtheit dieses Stückes bei: Jedem, der die Noten abschreiben und außerhalb des Vatikans bringen wollte, drohte die Exkommunikation. Umso spektakulärer wirkt es, wenn Leopold Mozart im Jahr 1770 nach Salzburg schreibt: „Wir haben es schon!
Sohn Wolfgang hat die nicht allzu komplexe Musik nach mehreren Besuchen in der Sixtinischen Kapelle aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Bestimmt hat er sogleich erkannt, was auch für das heutige Hören hilfreich sein mag, dass nämlich drei verschiedene Weisen der Vertonung versweise abwechseln: fünfstimmig, einstimmig-gregorianisch, vierstimmig und ganz am Schluss sogar neunstimmig. Der letzte Vers krönt gleichsam diesen Bußpsalm, mit dem der Komponist Gregorio Allegri für immer in die Musikgeschichte eingegangen ist.
Das britische Vokalensemble The Sixteen singt Gregorio Allegris „Miserere" in einer BBC-Aufnahme unter der Leitung von Harry Christophers und in mehrchöriger Aufstellung.
Hier der Wortlaut dieses Bußpsalms hebräisch, lateinisch und deutsch.
»Frömmigkeit, die zur Andacht stimmt«
Psalm 23 »Gott ist mein Hirt« von Franz Schubert
Gott ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln.
Er lagert mich auf grüne Weide,
er leitet mich an stillen Bächen,
er labt mein schmachtendes Gemüt,
er führt mich auf gerechtem Steige
zu seines Namens Ruhm.
Und wall’ ich auch im Todesschattentale,
so wall’ ich ohne Furcht,
denn du beschützest mich,
dein Stab und deine Stütze
sind mir immerdar mein Trost.
Du richtest mir ein Freudenmahl
im Angesicht der Feinde zu,
du salbst mein Haupt mit Öle
und schenkst mir volle Becher ein;
mir folget Heil und Seligkeit
in diesem Leben nach,
einst ruh’ ich ew’ge Zeit
dort in des Ew’gen Haus.
Psalm 23, übersetzt von Moses Mendelssohn
Dieser Psalm zählt zu den bekanntesten Gebeten der Bibel, ja der Weltliteratur! Zwei Bilder von Gott sind im Spiel: Er ist fürsorglicher Hirte und königlicher Gastgeber. Und doch fragen sich heute manche, ob sie diesem Gebet noch trauen können. Wirkt es nicht allzu idyllisch, fast kitschverdächtig? Dagegen lässt sich einwenden, dass die Bibel keine heile Welt „malt. Die „Theo-Poesie
(Erich Zenger) des Psalms stellt sich den Gefährdungen, etwa im Bild der „Todschattenschlucht", die zu durchqueren ist. Um den vertrauten Worten neu nachzuspüren, hören wir heute die Vertonung von Franz Schubert (1797–1828). Und warum soll sie nicht zu einer kleinen Andacht anregen? Mit einer Lesung und dem Vaterunser, einem Morgen- oder Abendlied …
Franz Schubert gibt uns sogar einen Hinweis, was „Andacht – auch in diesen vierzig Tagen vor Ostern – bedeuten könnte: keine Selbstüberforderung und keine religiöse Sonderwelt, sondern ein „gesunder
Aspekt des Lebens und Glaubens, mitten in der Welt. In einem Brief an seinen Vater und seine Stiefmutter vom 25. Juli 1825 schreibt er: „Auch wunderte man sich sehr über meine Frömmigkeit, die die Gemüter ergreift und zur Andacht stimmt. Ich glaube, das kommt daher, weil ich mich zur Andacht nie forciere, und, außer wenn ich von ihr unwillkürlich übermannt werde, nie der gleichen Hymnen und Gebet komponierte, dann aber ist sie auch gewöhnlich die rechte und wahre Andacht."
Schubert hat den 23. Psalm in der deutschen Übersetzung von Moses Mendelssohn (1729–1786) vertont. Dieser jüdische Humanist war der Großvater Felix Mendelssohn Bartholdys, von dessen Begeisterung für Allegris „Miserere wir gestern gehört haben. Offenbar hatte der Katholik Schubert keinerlei „Berührungsängste
mit dem Judentum. In Wien gab es damals wohl eine zukunftsweisende „Ökumene des Alltags! Wie aber kam es überhaupt zu dieser Vertonung des 23. Psalms? Im Dezember 1820 suchte die Gesangslehrerin Anna Fröhlich nach einem Stück für die Prüfungen ihrer Studentinnen am Wiener Konservatorium. Das war damals die Musikhochschule. Mit „köstlichen Sachen für mehrere Weiberstimmen
– so eine Erinnerung im Freundeskreis – erfüllt Franz Schubert ihren Wunsch. In den Arpeggien (arpa = Harfe) der Begleitung meint man die Harfe von König David zu hören. Ganz feierlich wird es bei den Worten von „seines Namens Ruhm".