Wir sind das Blech!: Die wunderbare Welt der Blechbläser
Von Reinhard Lassek
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Buchvorschau
Wir sind das Blech! - Reinhard Lassek
Reinhard Lassek
Wir sind das Blech!
Die wunderbare Welt der Blechbläser
Impressum
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung und Konzeption:
Agentur R.M.E Eschlbeck/Hanel/Gober
Umschlagmotiv: ©Getty Images
ISBN (E-Book): 978-3-451-34660-6
ISBN (Buch): 978-3-451-61108-7
Für Eva & Oliver
Inhalt
Präludium
I. Bläserhistorie – die irdischen Heerscharen
in Kirche & Co
Evangelische Posaunenchöre
Herrnhuter Brüder
Jünglinge und Missionare
Posaunenväter
Kuhlo-Klang
Kuhlo-Notation
Kuhlohorn und Hakenkreuz
Laien und Profis
Gemeinschaftsgeist
Blechensembles & Brass Bands
Jagdhornkorps
Fanfaren- und Spielmannszüge
Blasorchester und Musikkorps
Brassensembles
Brass Bands und Heilsarmee
II. Blechhistorie – vom Schneckenhaus
zum Bronzeguss
Homo musicus
Altsteinzeitliches Basislager
Ruf des Schofar
Tönendes Erz
Eselsgeschrei am Nil
Posaunen vor Jericho
Menschliche Systematik
Göttliche Eitelkeit
Europäisches Altmetall
III. Chromatische Verrenkungen –
von Zügen & Ventilen
Stimm- und Spielzüge
Grifflöcher und Klappen
Windige Umleitungen
Pumpen oder Rotieren
IV. O, dieser Glanz – Legierungen & Mensuren
Tombak und Neusilber
Zylindrische Verbiegungen
Konische Erweiterungen
V. Botschafter des Klangs –
Mundstücke & Dämpfer
Physik der Poleposition
Materielle Ansprüche – von Titan bis Veilchenholz
Lippenbekenntnisse –
Was passt zu welchem Mund?
Qual der Wahl – Ansatz ist nicht käuflich
Stopfen, Flüstern, Lachen – (un)gedämpfte Erwartungen
VI. Wir sind das Blech – Instrumente & Lagen
Weitläufige Familienbande
Trompete, Kornett und Flügelhorn
Althorn, Tenorhorn und Bariton
Waldhorn
Posaune
Tuba, Helikon und Sousafon
VII. Wie dem Blech Töne entlockt werden –
das Blasen
Keine Angst vor Physik – die Natur spielt mit
Luftschwingungen
Luftunterbrechungen
Luftströmungsgesetz
Dicke Backe, halbe Lunge? –
nur Mut zum Körpereinsatz
Ansatzprobleme
Atmungsaktivitäten
Stimmbänder und Zungenspiele
Lippenlegenden
Trockenübungen
Spielgesichter
VIII. Alte Privilegien und neue Stars
Trompeterstolz
Clarinenkunst
Jazzimprovisationen
Hornromantik
Posaunenengel
Tubadinerie
Postludium
Literatur
Präludium
Der Gemeinderaum ist aufgeschlossen, die Stühle sind im Halbkreis gestellt, Notenständer und Literatur liegen bereit. Auf dem Probenplan stehen Stücke unterschiedlichen Stils und Schwierigkeitsgrades – auch wir Blechbläser wachsen mit den Aufgaben. Gibt es etwas, was mehr Freude macht als das gemeinsame Musizieren? Mir als Chorleiter bleiben allenfalls noch ein paar ruhige Minuten. Gleich werden die ersten Posaunenchorler eintrudeln, etwas abgespannt und manchmal auch abgehetzt vom langen Schul- oder Arbeitstag – aber dennoch in heiterer Feierabendstimmung. Proben sind anstrengend. Wenn sie gelingen, sind sie jedoch ein Geschenk.
In der Tat, es ist ein Geschenk, wenn es uns Laienmusikern etwa gelingt, einen Choralsatz Johann Sebastian Bachs so sauber und fein zu blasen, dass wir dabei für einen glücklichen Moment denken: Ja, genau so ist es gemeint, deswegen bin ich beim Posaunenchor! Dann darf man sich auch als Erwachsener noch wie ein beschenktes Kind fühlen. Ich jedenfalls war noch keine acht, als meinem Vater die im wahrsten Sinne des Wortes glänzende Idee kam, mich mit einer funkelnagelneuen Trompete zu überraschen. Weder stand Weihnachten vor der Tür noch hatte ich Geburtstag. Ein Geschenk aus heiterem Himmel also? Nein, es war die Fortsetzung einer wundervollen Familientradition: Sowohl mein Großvater als auch mein Vater haben in ihrem Leben Posaunenchöre geleitet, ja sogar begründet. Inzwischen bin ich längst selbst dabei, meinen Bläserkollegen möglichst taktvoll die richtigen Einsätze zu geben. Und auch ich habe meinem Sohn, als er noch keine acht war, ein gutes Stück Blech in die Hand gedrückt. Ja, und ich genieße es, dass er mich nicht nur auf dem Flügelhorn nach und nach überflügelt.
Solche generationsübergreifenden familiären Posaunenchorgeschichten sind gar nicht einmal so selten. Sie gehören zu den vielen kleinen Puzzleteilen, aus denen sich die große Geschichte der evangelischen Posaunenchorbewegung zusammensetzt. Auch an Materialien zur Schulung von Ansatz und Geläufigkeit sowie an praxisnahen Ratgebern von der Instrumentenpflege bis hin zur Chorleitung herrscht kein Mangel. Was indes fehlt, ist eine umfassende Darstellung, die all die irdischen Heerscharen des kirchlichen und nichtkirchlichen Blechs gewissermaßen auf eine große Festwiese versammelt – zum gemeinsamen Musizieren und Feiern. Ein Bläserfestival in Buchform also, das unter dem Motto steht: Wir sind das Blech!
Dieses Buch möchte informieren und anregen – hin und wieder aber auch anrühren. Man kann es von vorne nach hinten lesen oder einzelne Kapitel herausgreifen. In jedem Fall möchte es mit der glanzvollen Geschichte, den wunderbaren Instrumenten, den großen Triumphen und Niederlagen, den herrlichen Klangfarben, den unübersehbaren Stärken und den verborgenen Schwächen des Blechs bekannt machen. Es wendet sich dabei nicht nur an Blechbläser aus Leidenschaft. Es möchte vielmehr allen Musikfreunden, die sich gern etwas tiefer in die wunderbare Welt der Blechbläser hineinbegeben wollen, ein im Ton vergnüglicher und in der Sache zuverlässiger Reisebegleiter sein.
I.
Bläserhistorie – die irdischen
Heerscharen in Kirche & Co
PosauneEvangelische Posaunenchöre
Herrnhuter Brüder
»Lobet den Herrn mit Posaunen!« – Das ist aus Sicht eines evangelischen Posaunenchorbläsers die entscheidende Botschaft des 150. Psalms. Gewiss, auch in katholischen Gottesdiensten kommen Trompeten und Posaunen zum Einsatz. Doch eine feste Institution sind die kirchlichen Blechbläser allein im evangelischen Milieu. Die irdischen Bläserheerscharen bilden eine der größten Laienbewegungen innerhalb des deutschen Protestantismus. Mehr als jede dritte evangelische Gemeinde hat einen Posaunenchor. Und es gehört zum Chorgeist, dass all diese »Posaunenchorler« unentgeltlich spielen. Ihr glänzendes Instrumentarium erklingt nicht nur zu liturgischen, sondern auch zu missionarischen, diakonischen oder sozialen Anlässen. Und trotz einer gewissen Bandbreite des Repertoires liegt der musikalische Schwerpunkt auf der Pflege des geistlichen Liedes – vom Reformations-Choral bis hin zum amerikanischen Spiritual.
Während sich der geistliche Auftrag mit dem Hinweis auf den 150. Psalm leicht als »Gotteslob« beschreiben lässt, ist die Herkunft der evangelischen Posaunenbewegung ein weitaus komplexeres Thema. Das Copyright für den Begriff, unter dem sich heute das gesamte evangelische Blech versammelt, liegt jedenfalls bei den Herrnhuter Brüdergemeinden – jener Gemeinschaft böhmischer Glaubensflüchtlinge und deutscher Pietisten, die sich im frühen 18. Jahrhundert in der Oberlausitz angesiedelt haben. Bereits 1764 ist in einem Synodalbeschluss der »Brüdergemeine« offiziell von einem »Posaunenchor« die Rede.
Über erste Anblasübungen der frommen Brüder wird jedoch schon ein paar Jahrzehnte zuvor berichtet. Im Herrnhuter Gemeindetagebuch findet sich am 1. Juni 1731 erstmals ein Eintrag über einen »Chor von Posaunisten«. Einer anderen Quelle nach stiften 1766 fünf musikbegeisterte »Bürger, Häusler und Weber« der Brüdergemeinde in Walddorf – ebenfalls im Kreis Görlitz gelegen – einen kompletten »Chor Posaunen«, bestehend aus Diskant-, Alt, Tenor- und Bassposaune. Diese Schenkung wird mit der Anmerkung versehen, dass die Posaunen dazu da sind, »damit die Sache selbst Gott zu Ehren und hiesiger Kirche zum Ruhm gereiche«.
Die Herrnhuter Posaunenchöre, so der Musikwissenschaftler Nils Niemann, sind »keine gewöhnlichen Kirchenmusikgruppen«, sondern »sicht- und hörbare Zeichen eines lebendigen christlichen Gemeinwesens«. Ein frühes Zeugnis dafür liefert der »Posaunistenchor« der Brüdergemeinde in Kittlitz – heute Stadtteil des sächsischen Löbau. Die Kittlitzer Bläser geben sich 1817 eine 46 Punkte umfassende Satzung, laut der es die vornehmste Aufgabe des Chores ist »a, den Namen Gottes sowohl selbst zu verherrlichen, als auch b, andere dazu zu ermuntern«.
Als Ermunterung gilt gewiss auch das Wecken am Ostermorgen. Auch hierfür liefern die Herrnhuter ein im doppelten Sinne frühes Vorbild: Nach dem Wecken um halb vier findet laut Gemeindetagebuch am 6. April 1738 erstmals eine Ostermorgen-Prozession mit Posaunen und anderen Instrumenten statt. Dass es notfalls auch mal ganz ohne Posaunen geht, bezeugt ein Brief aus einer Herrnhuter Siedlung im hessischen Marienborn. Dort heißt es 1739: Seitdem »mit Trompeten und Waldhörnern« musiziert wird, »laufen die Leute häufig herzu, und mancher Vogel, der um dass Pfeifen willen herbeigeflogen, wird angeschossen von den Pfeilen des Sündenfeuers durchs Wort vom Kreuz, dass sie nicht wissen, wie ihnen geschieht«.
Dem Selbstverständnis der Brüdergemeinde entsprechend sind der Posaunenmission also keinerlei Grenzen gesetzt. Und dank reger Missionstätigkeit erklingen die »Posaunen« alsbald auch bei den Brüdern und Schwestern in Übersee. In manchen Gemeinden spielt der Posaunenchor bis heute noch in jedem Gottesdienst.
Jünglinge und Missionare
Auch wenn die Herrnhuter zweifellos Pionierdienste leisten, die eigentlichen Quellen einer sich über ganz Deutschland ausbreitenden Posaunenwelle sprudeln nicht in der Oberlausitz, sondern in Westfalen sowie in Niedersachsen. Eine flächendeckende evangelische Posaunenarbeit bildet sich erst im engen Verbund mit der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts heraus. Kennzeichen eines »erwecklichen« Glaubenslebens sind die persönliche Bekehrung sowie eine bewusst auf das Evangelium ausgerichtete Lebensführung. Die vielerorts entstehenden Bläserchöre festigen diese neue Frömmigkeit. Pietismus und Posaunenarbeit streben im Gleichschritt nach geistlicher Erneuerung.
Es gibt zwei große, selbstständige Entstehungszentren der Posaunenbewegung: zum einen die evangelischen »Jünglingsvereine« in Ostwestfalen-Lippe (die Vorläufer des CVJM), zum anderen die Hermannsburger Missionare in Niedersachsen. Der erste »Posaunenchor« wird 1843 im ostwestfälischen Jöllenbeck gegründet – heute ein Stadtbezirk Bielefelds. Der erste »Posaunenverein« hingegen entsteht in der Lüneburger Heide. 1849 wird ein auf Initiative von Theodor Harms im Hermannsburger Missionshaus gegründeter Singchor mit Blechblasinstrumenten ausgestattet. Sowohl die westfälischen »Posaunenchöre« als auch die niedersächsischen »Posaunenvereine« werden zum Modell für das übrige Deutschland.
Der Posaunenwind weht hierzulande also je nach Region entweder aus Westfalen oder aus Niedersachsen. Nach Forschungen des Theologen Wolfgang Schnabel gehen die jeweils ältesten Bläserchöre in Lippe, im Rheinland, in Hessen, in Schlesien, in Sachsen, in Hamburg, in Württemberg, in der Schweiz, in Baden und in Ostpreußen auf die Jünglingsvereine des Minden-Ravensberger Landes zurück. Die jeweils ältesten Chöre in Mecklenburg, in Bayern, in Oldenburg, in Braunschweig und in Schleswig-Holstein verdanken indes ihre Entstehung dem Hermannsburger Missionswerk. 1880 gibt es im Deutschen Reich bereits rund 160 Posaunenchöre mit insgesamt