Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze von Joseph Haydn
Von Hans-Ulrich Weidemann und Matthias Henke
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Hans-Ulrich Weidemann
Hans-Ulrich Weidemann ist Professor für Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie der Universität Siegen.
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Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze von Joseph Haydn - Hans-Ulrich Weidemann
bibel & musik
Matthias Henke · Hans-Ulrich Weidemann
Die Sieben letzten Worte
unseres Erlösers am Kreuze
von Joseph Haydn
unter Mitarbeit von Alexander Sieler
In der Reihe bibel & musik
des Verlags Katholisches Bibelwerk sind bereits erschienen:
Michael Theobald / Wolfgang Bretschneider
Das Paulus-Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy
214 Seiten, ISBN 978-3-460-08601-2
Meinrad Walter
„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!"
Johann Sebastian Bachs musikalisch-lutherische Bibelauslegung im Kirchenjahr
256 Seiten, ISBN 978-3-460-08602-9
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Die Johannespassion von Arvo Pärt
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Das Oratorium Israel in Egypt von Georg Friedrich Händel
304 Seiten, ISBN 978-3-460-08604-3
Elisabeth Birnbaum
Messias von Georg Friedrich Händel
224 Seiten, ISBN 978-3-460-08605-0
© 2017 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe
© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart
Gesamtgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Umschlagmotive: oben: Christian Ludwig Seehas: Porträt von Joseph Haydn, Gemäldegalerie Schwerin.
unten: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, linker und rechter
Außenflügel in geschlossenem Zustand: Kreuzigung, um 1513/15,
Unterlindenmuseum Colmar.
Lektorat: Claudia Gröhn
Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín, Tschechische Republik
www.bibelwerk-impuls.de
ISBN 978-3-460-08606-7
Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-96157-993-8.
Inhalt
Vorwort zur Reihe bibel & musik
Vorwort der Autoren
I. Die biblische Vorlage: Die letzten Worte Jesu in den vier Evangelien
Sterben als Summe des Lebens: Zur literarischen Gattung der ultima verba
Die biblischen Sterbeszenen als Quellen? Was wir über den Tod Jesu wissen
Bühne, Ort und Zeit: Die Inszenierungen des Todes Jesu in den neutestamentlichen Sterbeszenen
Jesu letzte Worte nach dem Markus- und dem Matthäusevangelium
Jesu letzte Worte nach dem Lukasevangelium
Jesu letzte Worte nach dem Johannesevangelium
II. Von den vier Evangelien zu den Sieben letzten Worten
Die Sterbeszenen in den Evangelienharmonien
Die letzten Worte Jesu im Diatessaron des Tatian
Die letzten Worte Jesu in der Schrift De consensu Evangelistarum des Augustinus
Der Septenar der Kreuzesworte im Mittelalter
Von Bellarmin zu del Castillo und Messía Bedoya: Der Septenar bei den Jesuiten
III. Der Gottesdienst der Tres Horas am Karfreitag
Die frühchristliche Feier von Tod und Auferstehung Jesu
Heilige Zeit am heiligen Ort: Der Karfreitag in Jerusalem
Heilige Zeit an jedem Ort: Der Karfreitag im mittelalterlichen Westen
Der barocke Karfreitag
Die Tres Horas am Karfreitag
Von Bellarmins Septenartraktat zu den Tres Horas
Die drei finsteren Stunden der Agonie: Der Ablauf der Andacht
Contemplar: Die Rolle der Musik in der Andacht
IV. In nomine Domini – drei Kapitel zu Haydns Religiosität
Religiöse Sozialisation: Volks- und Staatsfrömmigkeit
Zäsuren: Der höfische Haydn und die Josephinische Kirchenmusikreform
Spiegel der Welt: Die späten Messen
V. Die Entstehungsgeschichte von Haydns Komposition
Zur Vorgeschichte des Auftrags
Auftrag und Auftraggeber
Der Beitrag Maximilian Stadlers
Die Tres Horas mit Haydns Musik in Blanco Whites Letters from Spain
VI. Dramaturgie und Großform der Komposition
Zur Anlage des Textes
Exkurs: Haydns Fassung des siebten Wortes
Zur Disposition der Musik
Tempobezeichnungen
Die Tonarten und ihre formbildende Funktion
Die Funktion der Einleitung (Introduzione) und des Finales (Il terremoto)
Metrik
Umfang der Sätze
VII. Analyse der einzelnen Sätze
Introduzione
Sonate I (Pater, dimitte illis, quia nesciunt, quid faciunt)
Sonate II (Hodie mecum eris in Paradiso)
Sonate III (Mulier, ecce filius tuus)
Sonate IV (Deus meus, Deus meus, utquid dereliquisti me?)
Sonate V (Sitio)
Sonate VI (Consummatum est)
Sonate VII (In manus tuas, Domine, commendo spiritum me)
Il terremoto
VIII. Perspektivenwechsel: Die Sieben Worte instrumental und als Oratorium
Allgemeines zum Schaffensprozess
Versuch einer Ehrenrettung I: Die Herstellung der instrumentalen Fassungen
Versuch einer Ehrenrettung II: Das Oratorium
Anmerkungen
Anhang
Literatur (Auswahl)
Diskografie (Auswahl)
Namensregister
Zu den Autoren
bibel & musik
im Verlag Katholisches Bibelwerk
Die Bibel mit ihrem Reichtum an Erzählungen, Bildern und tiefgründigen Gedanken ist und wirkt bis zum heutigen Tag auch kulturprägend. Dieses Wissen um ihre gestaltende Kraft und um die Einordnung großer kultureller Leistungen geht zunehmend verloren oder ist schon gar nicht mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass die Kirche mit ihren Lebens- und Glaubensvollzügen erheblich an Akzeptanz eingebüßt hat. Viele Menschen ziehen es selbst in geprägten Zeiten vor, statt Gottesdienste kirchenmusikalische Veranstaltungen zu besuchen. Diese Aufführungen werden nicht selten zu einem spirituellen Erlebnis. Die werkbezogene Reihe bibel & musik setzt sich zum Ziel, das Gehörte wissensmäßig zu vertiefen und das jeweilige biblische Fundament herauszuarbeiten. Die legendäre Frage an den Äthiopier, die Philippus in der Apostelgeschichte stellt, kann in diesem Kontext leicht abgewandelt werden: Verstehst du auch, was du hörst?
DIE HERAUSGEBER:
MICHAEL THEOBALD UND
WOLFGANG BRETSCHNEIDER
Vorwort
Joseph Haydn hat seinen Zyklus „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit geschaffen – nicht nur im Hinblick auf das südspanische Cádiz und die dortige Kirche Santa Cueva, den Schauplatz der vermutlich 1787 erfolgten Uraufführung; sondern auch, weil seine Musik an einem Karfreitag zu erklingen hatte, jenem Tag, an dem die Kirche des Todes Jesu in liturgischer Form gedenkt. Mehr noch: Die Darbietung sollte zwischen 12 und 15 Uhr in einer abgedunkelten Kirche stattfinden und den gesprochenen Meditationen über die Sieben Worte an die Seite treten, Betrachtungen, die der Jesuitenpater Alonso Messía Bedoya Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hatte. Die auf ihn zurückgehende Passionsandacht der Tres Horas ist ein Musterbeispiel für die sakral-theatralische Inszenierung eines Gottesdienstes in der Barockzeit. Durch die liturgische und musikalische Performanz, aber auch durch die Einbeziehung des Kirchenraumes entsteht ein geistliches Gesamtkunstwerk. Es regt die Gläubigen nachdrücklich an, sich nach Golgotha zu versetzen und den Gekreuzigten in den letzten drei Stunden seines Lebens zu begleiten, die er laut Mk 15,33 in Finsternis zugebracht hatte.
In unserem Band über Haydns „Sieben Worte verfolgen wir daher nicht nur das Ziel, neben der musikalischen Analyse das biblische Fundament des Werkes zu erarbeiten. In Erweiterung des programmatischen Reihentitels „Bibel und Musik
gilt es, auch die ‚Liturgie‘ in unsere Betrachtung einzubeziehen. Stärker als in den bisherigen Untersuchungen von Haydns Komposition haben wir also die Karfreitagsandacht der Tres Horas und das Andachtsbuch von Messía Bedoya in den Blick genommen, das diesem im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreiteten Gottesdienst zugrunde lag. Das schließt die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Analyse des Andachtsbuches ebenso ein wie die Darstellung seiner konkreten liturgischen ‚Performanz‘ und die Verortung der Tres Horas in der Geschichte des Karfreitags.
Die Erweiterung des bipolaren Reihenkonzepts um einen dritten Schwerpunkt ist keineswegs eine akademische Pflichtübung. Denn in der konkreten Auseinandersetzung mit Haydns Vertonung zeigt sich, in welch erheblichem Maß der Komponist die theologischen Impulse barocker Passionsfrömmigkeit im Allgemeinen und der Tres Horas im Besonderen aufgenommen und musikalisch kongenial umgesetzt hat. Bekannt ist, dass Haydn über den äußeren Ablauf des Gottesdienstes, dem er vermutlich niemals beiwohnte, bestens informiert war. Im Lauf unserer Arbeit haben wir Haydn aber auch als einen ‚Theologen‘ kennengelernt, der nicht nur musikalische Untermalungen bereitstellt, sondern eine eigene ‚klingende Exegese‘ der Sieben Worte kreierte. Ihr theologischer Gehalt steht den abendländischen Ikonen sakraler Musik, etwa Guillaume Dufays Domweihmotette „Nuper rosarum flores oder Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion
nicht nach.
Der Abschluss dieses Bandes, der für uns aber keineswegs das Ende der Beschäftigung mit der genannten Thematik bedeutet, gibt uns Anlass, Institutionen und Personen zu danken, die uns in unterschiedlicher Weise unterstützt haben. Unser Dank gilt zunächst der Universität Siegen, insbesondere den Dekanaten unserer Fakultäten I und II, die das Projekt zu einem „Interfakultären Forschungsschwerpunkt erklärt und großzügig für zwei Jahre gefördert haben. Wichtige Informationen über Haydns Zeit am Wiener Stephansdom verdanken wir Reinhard H. Gruber, dem dortigen Archivar, während Olaf Nippe, der Leiter der Moravian Archives Herrnhut, uns mit ausführlichen Informationen über die Rezeption von Haydns „Sieben Worten
bei den Herrnhuter Brüdern versorgte. Auch vor Ort in Siegen hatten wir wertvolle Unterstützung: Sabine Sczuka stellte uns eine Arbeitsübersetzung von Messía Bedoyas Andachtsbuch zur Verfügung, während Moritz Vollmer die Notenbeispiele setzte. Wichtige Einzelhinweise verdanken wir außerdem Michael Theobald, dem Herausgeber der Reihe bibel & musik, sowie Barbara Stollberg-Rilinger und Rainer Henke (beide Universität Münster). Für ihr engagiertes Korrekturlesen möchten wir uns bei unseren MitarbeiterInnen Sara Beimdieke und Reinke Schwinning bedanken. Auch unserer Lektorin, Claudia Gröhn, und dem Grafiker, Matthias Bumiller, danken wir für die gute Zusammenarbeit.
SIEGEN, AM. APRIL 2017
MATTHIAS HENKE UND HANS-ULRICH WEIDEMANN
Christian Ludwig Seehas, Porträt von Joseph Haydn, 1785, Ölgemälde, Haydn-Haus Eisenstadt, Österreich
I. Die biblische Vorlage: Die letzten Worte Jesu in den vier Evangelien
Die Vorgeschichte der Karfreitagsandacht zu den Sieben letzten Worten Jesu, also der Tres Horas, beginnt ungefähr 1700 Jahre vor Haydns Komposition mit den kanonisch gewordenen Evangelien. Diese Vorgeschichte ist für uns nur noch teilweise und auch nur im Nachhinein rekonstruierbar. Denn erst der Blick zurück lässt die entscheidenden Weichenstellungen erkennen, die auf die in Cádiz im Jahre 1787 mit Haydns Musik bereicherten Tres Horas hinführen. Quasi im Rückspiegel sind die folgenden vier Stationen erkennbar:
1. Ausgangspunkt sind natürlich die vier neutestamentlichen Passionserzählungen mit ihren Sterbeszenen. Sie dienen, wie andere literarische Sterbeszenen der Antike auch, der narrativen Inszenierung der letzten Worte (lat. ultima verba) Jesu und damit zugleich als Fluchtpunkt der jeweiligen Jesusbiografie.
2. Ein zweites, sich über viele Jahrhunderte hinziehendes Stadium bilden die in der Wirkungsgeschichte von Tatians Diatessaron stehenden Evangelienharmonien. Sie werden schon in der Alten Kirche von Diskussionen darüber flankiert, in welcher Reihenfolge die auf ursprünglich vier Sterbeszenen ‚verteilten‘ letzten Worte Jesu anzuordnen sind.
3. Im hohen Mittelalter entsteht dann der „Septenar der Kreuzesworte im engeren Sinne"¹. Er ist gegenüber der bis dahin vorherrschenden reinen Aufzählung oder dem bloßen Arrangement der letzten Worte Jesu am Kreuz die im Hinblick auf die Tres Horas entscheidende Innovation. Nun wird die Anzahl der Worte ausdrücklich auf sieben festgesetzt und mit anderen Siebenerreihen (den sieben Todsünden, Tugenden, Gaben des Heiligen Geistes et cetera) in Beziehung gesetzt. Dieser Septenar der Kreuzesworte entsteht nicht zufällig im 12./13. Jahrhundert im Umfeld des Bernhard von Clairvaux († 1153). In den folgenden Jahrhunderten wird er durch zisterziensische, vor allem aber durch franziskanische Theologen in einer Vielzahl von Traktaten zur festen Größe in Theologie und Passionsfrömmigkeit. Er breitet sich schnell auch in den Volkssprachen aus und inspiriert eine Vielzahl von religiösen, literarischen und künstlerischen Ausdrucksformen.
4. Das letzte Stadium der Vorgeschichte unserer Karfreitagsandacht ist dann mit dem umfangreichen Traktat „De septem verbis a Christo in Cruce prolatis (1618) aus der Feder des Kardinals Robert Bellarmin SJ (1542–1621) erreicht. Bellarmin schließt an die mittelalterliche Linie der lateinischen Septenartraktate an. Gegenüber den diversen protestantischen Positionen, vor allem im Hinblick auf den Verlassenheitsruf Jesu, bekräftigt er die Grundkoordinaten mittelalterlicher Christologie. Bellarmins Text fungierte aber auch als eine Art Transmissionsriemen der Septenartraktate in den Jesuitenorden hinein und war eine der Voraussetzungen für die „Devoción a las tres horas de la agonía de Cristo Nuestro Señor
, die der peruanische Jesuitenpater Francisco del Castillo (1615–1673) ein knappes halbes Jahrhundert später entwarf und die sein Ordensbruder P. Alonso Messía Bedoya SJ (1655–1732) dann schriftlich fixierte. Der Gattungswechsel vom lateinischen Traktat zur volkssprachlichen Andacht, die den Bedürfnissen der barocken Passionsspiritualität stark entgegenkam, war außergewöhnlich erfolgreich. Der von del Castillo und Messía Bedoya entworfene Karfreitagsgottesdienst der Tres Horas breitete sich mitsamt dem von letzterem verfassten Andachtsbuch im Laufe des 18. Jahrhunderts schnell auch in Europa aus. Damit haben wir die Zeit Joseph Haydns erreicht.
Sterben als Summe des Lebens: Zur literarischen Gattung der ultima verba
Sterbeszenen sind ein ganz entscheidendes Element der antiken biografischen Literatur. Die große, oft entscheidende Bedeutung, die diese Szenen für die literarische Konzeption einer Biografie (bios/vita) haben, kommt daher, dass in der griechisch-römischen Antike das Sterben eines Menschen als essentieller Akt verstanden wurde. In ihm wurde sozusagen die Summe eines ganzen Lebens gezogen. Christian Gnilka formuliert das so: „Man empfand, dass die Art des Sterbens dem Leben das letzte, gültige Siegel aufdrückte."² Laut dem lateinischen Schriftsteller Valerius Maximus enthält „vor allem der erste und der letzte Tag (primus et ultimus dies) die Bestimmung des menschlichen Lebens, „weil es viel ausmacht, unter welchen Vorzeichen es beginnt und mit welchem Ende es abgeschlossen wird
(et quo fine claudatur) (9,12). Das schließt für Valerius Maximus allerdings nicht aus, dass es auch zufällige und unverdiente Umstände eines Lebensendes geben kann (ebd.).
Diese weitverbreitete Sicht des Sterbens als Summe des Lebens manifestiert sich nun in literarischer Form: Abschieds- und Sterbeszenen werden im Kontext von biografischen Texten so konzipiert, dass auf sie die entscheidenden Linien der Lebenserzählung zulaufen – und umgekehrt von ihnen her das gesamte erzählte Leben unter ein bestimmtes Vorzeichen gestellt wird. Das leitende Motiv – positiv wie negativ – ist die Übereinstimmung zwischen Lebensführung und Sterben.
Die entsprechende literarische Inszenierung des Sterbens einer großen Persönlichkeit lässt sich schon lange vor der römischen Kaiserzeit nachweisen. Archetyp dieser literarischen Gattung ist die Erzählung vom Tod des Sokrates am Ende von Platons „Phaidon". Dieser Dialog zwischen Echekrates und Phaidon beginnt damit, dass Echekrates, nachdem er sich versichert hat, dass Phaidon beim Tod des Sokrates persönlich anwesend war, zwei programmatische Fragen formuliert: „Was also hat denn der Mann gesprochen vor seinem Tode? Und wie ist er gestorben?" (Phaidon 57 a). Nicht nur die Umstände des Sterbens interessieren Echekrates also, sondern insbesondere und vor allem die letzten Worte des Sokrates.
Jacques-Louis David, Der Tod des Sokrates, 1787, Öl auf Leinwand, Metropolitan Museum of Art, New York, USA
Der lange Dialog gibt Auskunft über diese beiden Sachverhalte. Phaidon berichtet, dass Sokrates seinen letzten Tag mit philosophischen Gesprächen zugebracht habe, „seine Lebensführung und sein Gang in den Tod passen also zusammen"³. In der literarischen Konzeption Platons wird das lange Gespräch „über die Seele", über ihre Unsterblichkeit und ihre Trennung vom Körper im Tod, das Sokrates mit Apollodoros, Kriton und anderen führt, dann aber klar von seinen eigentlichen letzten Worten unterschieden. Diese spricht er, als das Gift bereits wirkt und der Tod unmittelbar bevorsteht. Sokrates’ ultima verba, die vom Autor mit der Wendung „das waren seine letzten Worte auch explizit als solche markiert werden, lauten: „Kriton, dem Asklepios schulden wir einen Hahn! Wohlan denn, entrichtet ihm den und versäumt es nicht.
Den Dialog schließt Phaidon dann mit den Worten: „Dies war das Ende unseres Freundes", der in allem der beste, besonnenste und gerechteste gewesen sei (Phaidon 118 a).
Diese eindrückliche Szene setzte eine immense Wirkungsgeschichte in Gang. Der solchermaßen literarisch inszenierte Tod des Sokrates mit seinen bis heute umstrittenen letzten Worten lieferte nicht nur die Koordinaten für weitere literarische Sterbeszenen, sondern inspirierte offensichtlich auch Männer späterer Zeiten dazu, ihr Sterben nach diesem literarischen Vorbild real in Szene zu setzen, was dann ebenfalls wieder literarisch ausgeformt wurde. Beispiele dafür liefern die beiden römischen stoischen Philosophen Seneca und – nach seinem Vorbild – Thrasea, zumindest in der Darstellung des Tacitus (vgl. Tacitus, Ann 15,64,3 f. und 16,35). Tacitus formuliert in diesem Kontext auch eine Art Programmatik des Sterbens: Ziel des Thrasea sei es gewesen, unentweiht und unbefleckt seinem Ende entgegenzugehen, wie diejenigen, deren Spuren und Bestrebungen er in seiner Lebensführung gefolgt sei (quorum vestigiis et studiis vitam duxerit, eorum gloria peteret finem) (Ann 16,26,3). „Vita und „finis
müssen sich entsprechen.
Umstritten ist, ob Tacitus Zugang zu Sammlungen exemplarischer Sterbeszenen großer Männer hatte. Plinius d.J. deutet die Existenz von solchen Anthologien von Todeserzählungen an, den sogenannten „exitus illustrium virorum", vor allem von Opfern der Herrschaft Neros (ep V 5). Sollte eine solche Sammlung existiert haben,