Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Keine ganze Ewigkeit
Keine ganze Ewigkeit
Keine ganze Ewigkeit
eBook248 Seiten3 Stunden

Keine ganze Ewigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Keine ganze Ewigkeit
Der neue Roman von Rainer Grote

Ist dies das Ende der Welt?
"Was wäre, wenn…?" lautet die Kernfrage dieses spannenden Romans, dessen Handlung in der brisanten Zeit, die wir gerade durchleben, gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint, denn auf Knopfdruck könnte alles ein jähes Ende nehmen.
SpracheDeutsch
Herausgeberff Verlag GmbH
Erscheinungsdatum12. März 2024
ISBN9783938637609
Keine ganze Ewigkeit

Ähnlich wie Keine ganze Ewigkeit

Ähnliche E-Books

Dystopien für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Keine ganze Ewigkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Keine ganze Ewigkeit - Rainer Grote

    Keine ganze Ewigkeit

    Roman

    Rainer Grote

    Copyright © 2024 ff Verlag GmbH, Detmold

    Alle Rechte vorbehalten

    Die in diesem Buch geschilderten Personen und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen ist zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

    Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln - elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie, Aufzeichnung oder auf andere Weise - reproduziert oder in einem Datenabrufsystem gespeichert oder übertragen werden.

    ISBN: 978-3-938637-60-9

    1. Auflage

    Umschlaggestaltung: Addways Markenberatung, Lage

    Über dieses Buch

    Ist dies das Ende der Welt?

    „Was wäre, wenn…?" lautet die Kernfrage dieses spannenden Romans, dessen Handlung in der brisanten Zeit, die wir gerade durchleben, gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint, denn auf Knopfdruck könnte alles ein jähes Ende nehmen.

    Weitere Informationen unter: www.ff-verlag.com

    Woher die Dinge gekommen sind, dorthin müssen sie auch wieder zurück – zu ihrem Untergang. So will es das Gesetz. Denn sie müssen Buße tun für das Unrecht, dass sie vorhanden waren.

    Anaximander

    Kapitel I

    Es war bereits dunkel. Der juniklare Mond stand fast vollendet an einem wolkenlosen Himmel. Ich lag in meinem Bett, halbwach, nur darauf wartend, dass mich der Schlaf übermannte. Den Tag über hatte ich harte Arbeit geleistet in der Werkstatt eines Freundes, dem ich hier und da zur Hand ging, wenn die Last, die er zu tragen hatte, wieder einmal größer war als die, die er zu stemmen vermochte. Jenseits der vier Flügel meiner Fenster vernahm ich die Geräusche unseres Dorfes, das mich umgab. Rollende Räder auf dem Asphalt, das Gezwitscher nimmermüder Vögel und zum Ende einer jeden Viertelstunde das Schlagen der Glocke unserer Kirchturmuhr. Manchmal, ja manchmal mischte sich auch die lärmende Laune eines Betrunkenen, der ohne Rücksicht auf mich und die anderen seinen Weg vom Gasthof nach Hause suchte, in diese Geräusche. Dann erschrak ich und verfluchte jenen, der mir keine Ruhe gönnte.

    Zwei Stunden nach Mitternacht – ich hatte bereits geträumt – wurde ich durch das Jaulen meines Hundes geweckt. Doch war es nicht dieses Jaulen, das er an den Tag legt, wenn ich die Pansen auf dem Herd erhitze, bevor sie in seinem Napf landen. Auch nicht jenes, das er von sich gibt, wenn er am Morgen – diesseits der verschlossenen Eingangstüre – ungeduldig darauf wartet, hinausgelassen zu werden, auf dass er seine Notdurft verrichten könne. Nein, es war ein ganz feines Jaulen. Es war ein leises Wimmern. Zweimal erwog ich es, aufzustehen, um nach dem Rechten zu sehen, doch dann entschied ich mich dagegen und schlief ein.

    Als ich am darauffolgenden Morgen erwachte, blickte ich auf die Zeiger meines Weckers. Es war Punkt sieben. Ganz gemächlich ging ich hinüber ins Badezimmer. Ich legte meinen Schlafanzug ab und stieg in die Dusche. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, glucksten nur ein paar Tropfen aus ihm hinaus, bis er schließlich vollends versiegte. Verwundert zog ich mir meinen Schlafanzug wieder an und ging hinunter in den Flur, dorthin, wo mein Telefon steht. Jonathan, mein Hund, folgte mir bereitwillig. Doch als ich den Hörer an mein Ohr hielt, um geradewegs einen Freund anzurufen, war ich noch mehr verwundert: Die Leitung war unterbrochen. „Kein Wasser – kein Telefon, resümierte ich. Noch immer recht gelassen knipste ich an einem der Lichtschalter, um zu sehen, ob denn im Mindesten der Strom floss: Fehlanzeige. Und dann dachte ich nach: „Dass drei voneinander unterschiedlich gesteuerte Kreisläufe nicht funktionieren, ist kategorisch ausgeschlossen. So etwas geschieht nur im Krieg.

    In Windeseile zog ich mich an. Gemeinsam mit Jonathan lief ich hinaus zum Haus der Nachbarin. Auf dem Weg dorthin sah ich ein Fahrzeug, das mitten auf der Fahrbahn stand. Und auf einmal erkannte ich, dass die Geräusche, die allmorgendlich unser kleines Dorf mit unzähligen Klängen erfüllten, verstummt waren. Nicht ein einziges Auto fuhr vorüber, einzig die Vögel trällerten ihre altbekannten Lieder.

    Die Türe war verschlossen. Also betätigte ich die Klingel, die nicht läutete. Reihum ging ich zu jedem Haus, aber nirgendwo war jemand zugegen. Schließlich gelangte ich auch zu dem Auto, das mitten auf der Straße stand. Niemand saß darin, doch durch die Seitenscheibe sah ich, dass der Zündschlüssel noch im Schloss steckte. Die Türen aber waren verriegelt. „Was geht hier vor sich?", fragte ich mich und fühlte ein Unbehagen in mir aufsteigen. Schnurstracks lief ich zu meinem Haus zurück, den Hund im Schlepptau. Wir werden mit meinem Wagen ins Dorf fahren, um nach der Lage dort zu sehen, beschloss ich. Doch würde sich der Motor starten lassen?

    Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss. Und ebenso vorsichtig drehte ich ihn nach rechts. Der Motor heulte auf. „Gott sei Dank!", entfuhr es mir. Das Auto fuhr los. Auf dem Weg ins Dorf standen drei Fahrzeuge wieder mitten auf der Fahrbahn. Jedes von ihnen war verwaist. An der Tankstelle hielt ich an. Auch sie war menschenleer. Ich zog einen Zapfhahn aus seiner Verankerung, um zu erkunden, ob das Benzin noch floss und wurde enttäuscht. Wir fuhren weiter. Auf dem Gelände des Supermarktes bot sich uns dasselbe Bild: Kein Mensch war zu sehen und es war gespenstig still. Gemeinsam mit Jonathan erkundete ich das Areal. Auf dem großen Parkplatz stand kein einziges Auto, und die Schiebetür am Eingang des Marktes war verschlossen. Wir suchten nach weiteren Türen und fanden schließlich eine unverriegelte auf der Rückseite des Gebäudes. Offensichtlich war sie den Lieferanten vorbehalten. Wie ein Dieb schlich ich mich hinein, Jonathan an meiner Seite wissend. Im Inneren des Marktes herrschte Grabesstille. Nur spärlich floss das Morgenlicht entlang der Regale, sodass wir unsere liebe Mühe hatten, uns zurechtzufinden. An der Kühltheke, im letzten Winkel angelangt, ergriff ich eine Milchtüte, um zu fühlen, wie kalt sie noch war. Zehn, zwölf Grad, schätzte ich. Es war nun halb neun. Folglich musste sich der Stromausfall drei bis vier Stunden nach Mitternacht ereignet haben, vielleicht auch etwas später, malte ich mir aus.

    Jonathan schien sich um all das Obskure, das uns aus der Bahn geworfen hatte, nicht zu scheren. Jedenfalls bot sein Verhalten keinerlei Anlass zur Besorgnis. Meine Gedanken hingegen kreisten auf Hochtouren, wenngleich ich zwar eine gewisse Angst ob der unglaublichen Vorkommnisse der vergangenen Stunden verspürte. Bedrohlich erschien mir die Situation dieses 23. Juni jedoch nicht. Immerhin waren keine Anzeichen einer wie auch immer gearteten Gewalteinwirkung zu erkennen. Und das beruhigte mich ungemein. Vielleicht war ein Dorf weiter alles in bester Ordnung und all die Irritationen würden sich wie von selbst in Luft auflösen?

    „Wie geht es Mutter?, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Mit quietschenden Reifen fuhren wir ihr entgegen. Doch anders, als ich es ersehnt hatte, bot sich auf der Zufahrtsstraße ein ebensolches Bild wie zuvor: Hier und dort standen verlassene Autos mitten im Weg, und nicht ein einziger Mensch verlor sich auf dem Gehweg. Im Haus meiner Mutter suchte ich in allen Zimmern, aber ich fand sie nicht. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass all das, was ich seit drei Stunden erlebte, etwas war, was die Grenzen meines Vorstellungsvermögens sprengte. Etwas Unglaubliches, das ich mit meiner simplen Logik nicht erfassen konnte. Etwas, das mich vor eine ungeheure Herausforderung stellte. „Mutter und all die anderen Menschen sind nicht tot, versuchte ich mich zu beruhigen, „sie sind nur irgendwo anders." Dann fuhren wir nach Hause.

    Auf dem Weg dorthin schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. „Was war geschehen?, fragte ich mich ein ums andere Mal. Und – das war für mich das Wichtigste: „Hatte sich das Unheil lediglich in meiner Region verbreitet oder auch darüber hinaus, vielleicht sogar auf der ganzen Welt? Und während ich so grübelte, fiel mein Blick auf mein Autoradio. Überstürzt schaltete ich es ein. Aber sowohl auf der Ultra-Kurz-Welle als auch auf der Mittelwelle war der Empfang versiegt. Ein leises Rauschen war alles, was ich vernahm. Es verblieb noch die Kurzwelle, die die ganze Welt umspannt, das wusste ich. Und ein Empfangsgerät lag irgendwo bei mir im

    Keller herum.

    „Wie ist es den Tieren ergangen?, fragte ich mich weiter. Zwar waren Jonathan und die Vögel wohlbehalten, doch was war mit den anderen Kreaturen? Anstatt nach Hause zu fahren, entschloss ich mich, unseren Reiterhof aufzusuchen. Das Gestüt lag gut einen Kilometer von meinem Haus entfernt. Bereits von weitem sah ich, dass kein Pferd auf der Weide stand. Als ich den Hof betrat, war alles ruhig. Kein Wiehern, wie es mir sonst entgegen tönte und auch kein Scharren der Hufe auf dem Estrichboden der Paddocks. Die Reitpferde waren verschwunden. Nur die Fliegen, von denen es hier unzählige gab, flogen umher, als sei nichts geschehen. Sie hatten auch überlebt, dachte ich, obgleich mir der Begriff ‚Sterben‘ nicht in den Sinn kam, denn noch immer war ich davon überzeugt, dass alles eher auf einem Zufall beruhte. Wie sonst ließe sich erklären, dass Jonathan, die Vögel, die Fliegen und ich daselbst ungeschoren davongekommen waren? Einen Augenblick lang dachte ich an das Jüngste Gericht, das über Nacht all die Sündigen in die Hölle geschickt hatte. Was aber hatten die lieben Pferde verbrochen? Und – bezog sich dieses Tribunal nicht einzig und allein auf uns Menschen, die wir mitunter Dinge tun, die nicht im Einklang mit den Zehn Geboten stehen? Kopfschüttelnd kniete ich hinab in den Staub der Erde. Mit den Fingern grub ich tiefe Riefen in den Boden, um zu sehen, ob sich dort noch andere Lebewesen versteckt hielten. Einen Tausendfüßler entdeckte ich und unter einem platten Stein drei Kellerasseln. Die kleinen Tiere waren also immer noch zugegen. Warum aber waren die Pferde verschwunden und Jonathan nicht? „Solange das Ökosystem im Reinen ist, solange werden wir auch weiterleben, resümierte ich und fuhr schließlich nach Hause.

    Was mich nach all den Jahren, die nun vergangen sind, verwundert, ist die Tatsache, dass ich damals nicht in Panik ausgebrochen bin. Die Menschen waren wie vom Erdboden verschluckt, die Freunde ebenso, und dennoch behielt ich einen kühlen Kopf. Ja, auf eine gewisse Art genoss ich sogar diese Einsamkeit, war sie doch für mich mit keinerlei Nachteilen verbunden. Ich lebte wie zuvor. Ohne zu bezahlen, konnte ich mir überall das nehmen, was ich begehrte, und meine Freiheit war größer als jemals zuvor. Selbst ein Kamerad war mir mit Jonathan verblieben. Stundenlang hörte er mir zu, wenn ich über all das redete, was mir unter den Nägeln brannte. Und treu und anschmiegsam war er zudem. Nur antworten konnte er mir nicht.

    Einen Tag später stahl ich mir in einer Apotheke allerlei Medikamente, die mir für den Notfall von Wert sein könnten, auch Mullbinden und Pflaster. Aus dem Supermarkt besorgte ich mir eine ganze Reihe Konserven, Kekse, Wasser und Obst und Gemüse. Doch was ich am dringlichsten benötigte, fand ich nirgends: Diesel-Treibstoff für mein Auto. Unmöglich war es mir, die großen unterirdischen Behälter an der Tankstelle anzuzapfen, weil die Pumpen durch Strom angetrieben werden. Nach langen Überlegungen kam ich auf einen Gedanken: Jeder Bauer verfügt über einen Diesel-Tank auf seinem Hof. Mit etwas Geschick könnte es mir gelingen, dort Treibstoff zu hamstern.

    Ausgestattet mit allerlei Utensilien aus meiner kleinen Werkstatt, fuhr ich zum nächstgelegenen Bauernhof. Jonathan saß neben mir auf dem Beifahrersitz. Wie ich es bereits erwartet hatte, war sämtliches Großvieh verschwunden. Die Ställe waren wie leergefegt. Lange musste ich nicht suchen, bis ich den Tank fand. Grünangestrichen stand er unweit eines riesigen Bassins, in dem die Silage aufgetürmt war. Und zu allem Glück befand sich zuunterst eine Ablass-Schraube, die sich problemlos öffnen ließ. Mittels eines Schlauches, den ich mitgebracht hatte, füllte ich meinen Tank. Mit den achtzig Litern würde ich rund vierhundert Kilometer fahren können – und wieder zurück, das wusste ich. Und dann verpasste ich Jonathan vor lauter Freude einen Klaps.

    Mein erstes Ziel war Bielefeld. Schon auf dem Weg dorthin erkannte ich, dass das Unheil auch diese Stadt ereilt hatte. Doch anders als in unserem Dorf standen hier derart viele Fahrzeuge mitten auf den Straßen herum, dass es sehr beschwerlich für mich war, ihnen auszuweichen und mir den Weg zu bahnen. Einmal musste ich sogar umkehren und eine andere Route einschlagen. Es war bereits Mittag, als Jonathan um Futter bettelte. In der Nähe des Bahnhofs hielt ich an und versorgte ihn. Und während ich so durch die Gegend schaute, entdeckte ich die Werbetafel eines Elektronikmarktes, die in luftiger Höhe an der Fassade eines fünfstöckigen Gebäudes thronte. Auf einmal kam mir eine Idee: Wenn ich ein professionelles Funkgerät hätte, dann könnte ich mir das Herumfahren ersparen. Ohne größere Anstrengung würde ich in Erfahrung bringen, ob sich irgendwo in unserem Lande noch Menschen befinden. Und das ganz einfach von zu Hause aus.

    Der Markt befand sich im zweiten Obergeschoss, sodass es keinen Sinn ergab, einen Einkaufswagen zu benutzen. Ich erklomm die Treppenstufen. Es dauerte nicht lange, bis ich fand, wonach ich suchte. Und da ich kein Geld für das Funkgerät entrichten musste, ergriff ich das teuerste aus dem Sortiment. Nach kurzer Überlegung wählte ich noch ein zweites aus, für den Fall, dass es Komplikationen geben sollte oder eines der beiden einmal ausfallen würde. Als ich die Geräte in meinem Kofferraum verstaut hatte, packte ich sie aus, um zu sehen, mit welcher Betriebsspannung sie betrieben werden. Beide liefen mit 220 Volt, und bei beiden wurde die Spannung durch einen Transformator auf zwölf Volt gedrosselt. Über eine Autobatterie ließen sich die Geräte folglich problemlos mit Strom versorgen. Zwei solcher Batterien verschaffte ich mir in einer Autowerkstatt. Sie sahen aus wie neu und standen direkt neben dem Ladegerät, sodass ich davon ausgehen konnte, dass sie nicht entladen waren. Am frühen Abend war ich wieder zu Hause. Nachdem ich Jonathan gefüttert hatte, lud ich die Funkgeräte und die Batterien aus dem Kofferraum meines Wagens und trug sie auf den Dachboden.

    Noch einmal ging ich zum Anwesen meiner Nachbarin und suchte in allen Ecken und Winkeln. Ihr Bett war unberührt, was mich nicht weiter verwunderte, denn sie legte sich erst dann schlafen, wenn der Morgen bereits graute. Also mochte sie auf dem Sofa im Kaminzimmer gelegen haben, wie sie dies stets zur Mitternacht zu tun pflegte. Auch dort aber fand ich nur einen halb ausgelöffelten Joghurtbecher, in dem der Löffel noch steckte, ein angebissenes Croissant, das mit Orangenmarmelade bestrichen war und einen Riegel Schokolade, der noch zur Hälfte in Stanniolpapier eingewickelt war. Nichts Ungewöhnliches also, denn die Frau eines ehemaligen Diplomaten, wie sie eine war, führte ein recht unkonventionelles Leben, das frei von allen Zwängen war. Dass sie bereits 95 Jahre alt war, mag diese Umstände erklären.

    Um ganz sicherzugehen, verschaffte ich mir Zugang zum Haus eines weiteren Nachbarn. Das Ehepaar, zwei Architekten, die ebenso viele Kinder großzogen, wohnte ebenfalls in einer Villa, nur war sie etwas kleiner als die meine. Wie ein Spion durchsuchte ich jedes Zimmer. Die Bettdecken im Schlafzimmer waren zerwühlt, geradeso, als hätten dort vor nicht allzu langer Zeit noch zwei Menschen gelegen. Im Kinderzimmer bot sich mir das gleiche Bild. Die übrigen Häuser unseres Viertels zu betreten, ersparte ich mir in dieser Nacht, da ich davon überzeugt war, auch dort keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen. Als Jonathan winselte, um hinausgelassen zu werden, war ich zurück in meinem Heim. Eher beiläufig betätigte ich noch einmal einen der Lichtschalter, drehte den Wasserhahn auf und hob den Telefonhörer aus der Gabel. Doch wie ich es schon erwartet hatte, waren alle Quellen versiegt.

    Oben im Turm meines Hauses befand sich mein Arbeitszimmer. Von dort aus konnte ich die Straße überblicken, die ins Dorf führte, und deshalb setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Vielleicht würde mir von hier aus etwas Ungewöhnliches auffallen. Ein Passant auf dem Gehsteig oder ein Auto, das vorüberfuhr. Doch alles blieb wie ausgestorben. Nur ab und an flog eine Fledermaus an einem der Fenster vorbei – wie an jedem Abend. Auf einem Blatt Papier begann ich zu kritzeln. Erst nur ganz wirr, dann etwas konkreter. Ich malte mir aus, dass alle Menschen vor etwas geflohen waren, das mir unbekannt war. Da ich selbst aber noch da war, musste es etwas geben, das verhindert hatte, dass auch ich die Flucht antreten musste. Weil aber keinerlei Anzeichen einer Zerstörung erkennbar waren, oder überhaupt irgendetwas, vor dem jemand hätte fliehen müssen, verwarf ich diesen Gedanken und zerknüllte das Papier. Auf einem anderen Blatt begann ich erneut zu kritzeln. Ich skizzierte eine Sammelstelle in unserem Ort, an dem sich alle getroffen hatten, mitten in der Nacht, und noch einige weitere in der näheren Umgebung. Von diesen Punkten ausgehend zog ich vier Pfeile zu einer übergeordneten Sammelstelle und schraffierte dieses Feld mit feinen Bleistiftstrichen. Doch als mein Vorstellungsvermögen meiner Fantasie Einhalt gebot, warf ich auch dieses Blatt in den Papierkorb. Eines jedoch war mir die ganze Zeit klar: Wenn ich noch da war, dann musste es auch noch andere geben, denen es ebenso wie mir ergangen war.

    „Was, so fragte ich mich, „würde ein anderer tun, um herauszufinden, ob er nicht alleine ist? Erst einmal stand die Antwort in enger Abhängigkeit zum Alter der betreffenden Person. Ein Kind wäre ohne die Hilfe seiner Eltern wohl verzweifelt. Sehr alte Menschen hätten sich ihrem Schicksal ergeben, vielleicht an eine göttliche Fügung glaubend. Junge Zeitgenossen hätten den Vorfall ganz sicher wie ein willkommenes Abenteuer erlebt – für solche, die mit beiden Beinen im Leben standen, käme er unter Umständen einer Herausforderung gleich. Ebenso wie mir, der ich darauf drängte, Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen.

    Die Reaktionen der Betroffenen, also jener, denen es wie mir ergangen war, fasste ich gedanklich kurz und knapp zusammen: Allesamt würden sie sich auf die Suche begeben. Doch wie sucht jemand einen anderen auf dieser großen, weiten Welt, wenn er nicht einmal weiß, ob es ihn überhaupt noch gibt? Und wie meistert ein solcher diese Herausforderung? Was ich tun würde, das wusste ich. Wie aber gingen es die anderen an? Mein neues Funkgerät würde mir nur dann einen guten Dienst erweisen, wenn auch ein anderer auf diese Idee käme. „Halt nein!, fuhr mir meine innere Stimme in alle Theorien. „Noch weißt du nicht, ob anderswo auf der Welt noch alles beim Alten ist.

    Noch am Abend stieg ich hinauf auf den Dachboden und installierte die Funkgeräte. Als Laie tat ich mir schwer, musste ich doch jeden einzelnen Handgriff unter Zuhilfenahme der Bedienungsanleitung vornehmen. Es war bereits Mitternacht, als ich endlich bereit war. Doch, anstatt meinen Lauschangriff zu beginnen, hielt ich plötzlich inne. „Willst du wirklich wissen, ob du ganz alleine bist?, tönte es aus der Tiefe meines Inneren. Einen Augenblick überlegte ich. Auf einmal überkam mich die Angst. Schließlich antwortete ich, ohne dass es ein anderer hören konnte: „Nein, ich will es nicht.

    Die Ungewissheit ist ein seltsamer Bruder. Zum einen hält sie die Gedanken in der Schwebe, weil sie nicht mit der Wahrheit herausrückt –, zum anderen schürt sie die Neugierde, die uns bisweilen ins Verderben stürzt.

    Am Nachmittag des zweiten Tages fuhr ich zu einem Krämerladen. Der Besitzer war mir wohlbekannt, war er es doch, der mir immer wieder aushalf, wenn mir eine Schraube, ein Werkzeug oder sonst irgendetwas fehlte, was ich für meine Handwerksarbeiten benötigte. Auch Fahrradschläuche führte er im Sortiment und Gase, auf die ich es abgesehen hatte. Die Hintertüre der Werkstatt stand offen, also ging ich hinein. Mit aller Kraft hievte ich eine Helium-Flasche in meinen Kofferraum und verschwand sogleich wieder. Auf meinem Weg zurück nach Hause drang ich noch einmal in den Supermarkt ein. Ich hatte die Batterien für meinen Wecker vergessen. Am wichtigsten aber waren mir Luftballone. Zwei- oder dreihundert davon lagen dort abgepackt in Zwanziger-Einheiten im Regal. Ich nahm sie alle und noch mehrere Packungen Gefrierbeutel dazu.

    An meinem Schreibtisch sitzend, begab ich mich an die Arbeit. Zuerst legte ich mir die Utensilien zurecht, die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1