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Gebranntes Kind
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eBook305 Seiten4 Stunden

Gebranntes Kind

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Über dieses E-Book

Bengt, ein junger Mann aus dem Arbeiterviertel Stockholms, der gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, gerät durch den unerwarteten Tod seiner Mutter aus dem Gleichgewicht. Sein Vater Knut hat eine neue Frau kennengelernt, Gun, die im Stadtteilkino Eintrittskarten verkauft. Bengt weigert sich jedoch zu akzeptieren, dass sein Vater eine neue Person in ihren geschützten Alltag einlässt, dass das Leben auch ohne seine Mutter weitergeht. Mit lodernder Eifersucht steigert er sich in die radikale Verurteilung seines Vaters und in die fieberhafte Ablehnung der neuen Frau hinein – und immer deutlicher wird, wie stark er selbst sich zu ihr hingezogen fühlt.

In einer intensiven psychologischen Innenschau, die Bengts adoleszente Abgründe sichtbar macht und einem beim Lesen den Atem verschlägt, lässt Stig Dagerman uns teilhaben an den Obsessionen seines Helden, an dessen Verweigerung und unbändiger Wut auf die ganze Welt. Der Feinsinn, mit dem Dagerman seine Figur bis in die verstecktesten Winkel ausleuchtet, zeigt sich auch in der Sprache, die vibriert vor Spannung, schillert zwischen niederdrückender Dunkelheit und hell aufleuchtender Sehnsucht nach Befreiung, zwischen sanftem, fast weinerlichem Selbstmitleid und zerstörerischer, rücksichtsloser Brutalität. Paul Berf navigiert uns Lesende mit seiner beeindruckend standfesten Übersetzung durch die inneren Erschütterungen und Kämpfe des Protagonisten Bengt – Stig Dagerman hat eine unvergessliche, aufwühlende Figur geschaffen, die im Roman keine Versöhnung erfährt und auch nach beendeter Lektüre noch lange keine Ruhe gibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberGuggolz Verlag
Erscheinungsdatum13. März 2024
ISBN9783945370643
Gebranntes Kind

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    Buchvorschau

    Gebranntes Kind - Stig Dagerman

    EINE KERZE AUSPUSTEN

    Eine Ehefrau soll um zwei Uhr beerdigt werden, und um halb zwölf steht der Ehemann in der Küche vor dem gesprungenen Spiegel über dem Spülbecken. Lange geweint hat er nicht, aber er hat lange wachgelegen, und die Augäpfel sind rot. Das Hemd ist weiß und blütenrein, und die Hose dampft nach dem Bügeln schwach. Während seine jüngste Schwester den harten weißen Kragen hinten am Hals einhakt und danach die weiße Fliege so sanft über die Kehle streift, dass es einer Zärtlichkeit gleicht, lehnt der Witwer sich über das Becken und sieht sich aufdringlich in seine Augen. Dann streicht er über sie, als wollte er eine Träne wegwischen, aber der Handrücken bleibt trocken. Die jüngste Schwester, die seine schöne Schwester ist, hält die Hand unter seiner Kehle still. Weiß wie Schnee glänzt die Fliege auf der roten Haut. Verstohlen streichelt er ihre Hand. Die schöne Schwester ist die Schwester, die er liebt. Wer schön ist, den liebt er. Seine Frau war hässlich und krank. Deshalb hat er nicht geweint.

    Die hässliche Schwester steht am Herd. Dort zischt Gas. Der Deckel des glänzenden Kaffeekessels hüpft auf und ab. Mit roten Fingern sucht sie unter den Gashähnen, um es abzudrehen. Zwölf Jahren lebt sie schon in der Stadt, hat aber noch nicht gelernt, die richtigen Hähne zu finden. Sie trägt eine Brille mit schwarzen Bügeln, und wenn sie jemandem in die Augen sehen will, beugt sie sich weit vor und glotzt in einer Weise, wie man es hier nicht tut. Endlich findet sie den richtigen Hahn und dreht ihn ab.

    »Trägt man zur Beerdigung eine weiße Fliege …?«

    Es ist die schöne Schwester, die das fragt. Der Witwer fingert an den Manschettenknöpfen herum. Er trägt überlange schwarze Schuhe, und als er sich plötzlich auf die Zehenspitzen stellt, knirschen sie kurz. Aber die hässliche Schwester fährt hastig herum, als würde sie von jemandem angegriffen.

    »Zur Beerdigung eine weiße …! Das weiß ich seit der vom Konsul …!«

    Dann kneift sie den Mund zu. Ihre Augen blinzeln hinter der Brille, als fürchteten sie sich. Vielleicht tun sie das auch. Sie weiß alles über Beerdigungen. Dagegen kaum etwas über Hochzeiten. Die schöne Schwester lächelt und fährt fort, anzuprobieren und zu streicheln. Die hässliche stellt eine Vase mit weißen Trauerblumen vom Tisch auf den Spültisch. Der Witwer blickt erneut in den Spiegel und merkt auf einmal, dass er lächelt. Er schließt die Augen und atmet den Duft der Küche ein. So weit seine Erinnerungen zurückreichen, riechen Beerdigungen nach Kaffee und verschwitzten Schwestern.

    Es ist jedoch auch eine Mutter, die beerdigt werden soll, und der Sohn ist zwanzig und nichts. Jetzt steht er in dem Zimmer, das voller Menschen ist, allein unter der Deckenlampe. Seine Augen sind leicht geschwollen. Er hat sie nach den Tränen der Nacht mit Wasser gekühlt und glaubt, es wäre nichts zu sehen. In Wahrheit ist aber alles zu sehen, und deshalb haben die Trauergäste ihn allein gelassen. Nicht aus Rücksicht, sondern aus Furcht, denn die Welt fürchtet den, der weint.

    Eine Weile steht er vollkommen still, nestelt nicht einmal an seinen Manschetten herum, zieht nicht einmal am Trauerflor. Die goldene Pendeluhr, das Geschenk zum Fünfzigsten, schlägt schwach, ganz schwach ein Mal. An den Fenstern stehen die Gäste und reden. Sie haben Trauerflor in den Stimmen, aber einer aus der Verwandtschaft des Vaters klopft mit den Knöcheln auf dem Fensterbrett einen Marsch. Es sind harte Knöchel, und er wünschte, sie würden verstummen. Sie verstummen jedoch nicht. Dann dreht einer der vom Land Angereisten am Radio, obwohl es noch keine zwölf Uhr ist. Es brummt und brummt, aber fürs Erste kommt keiner auf die Idee, es wieder auszuschalten.

    Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen. Mitten im Raum, unter der Lampe, ist eine neue, große Leere, und dort steht er allein und sieht und hört alles, obwohl er selbst woanders ist. Bevor seine Mutter starb und er allein zurückblieb, stand dort ein langer Tisch aus Eichenholz, doch dieser Tisch steht nun am Fenster. Eine weiße Decke ist über ihn gebreitet worden, und auf der Decke stehen Gläser und Karaffen mit dunklem Wein und fünfzehn zerbrechliche weiße Tassen und eine große braune Torte, die süß ist, aber bitter schmecken soll. Hinter den Karaffen, auf dem eigentlichen Fenstertisch, ist an diesem Tag das Porträt der Mutter in einem schweren schwarzen Rahmen aufgestellt. Es ist von Grün umflochten, dem teuren Grün des Januars. Während der Begräbniskaffee gekocht wird und der Pfarrer sich im Pfarrhof rasiert und die Beerdigungswagen in der Garage aufgetankt werden, versammeln sich die elf Gäste um den Tisch und das Bild der Toten. Es ist ein Jugendporträt, ihre Haare sind dunkel und voll und legen sich schwer über die glatte Stirn. Die Zähne, die zwischen den runden Lippen auftauchen, sind weiß und ohne Karies.

    »Da war sie fünfundzwanzig«, sagt einer.

    »Sechsundzwanzig«, berichtigt ihn ein anderer.

    »Alma war hübsch, als sie jung war.«

    »Ja, die Alma war hübsch.«

    »Man versteht schon, dass Knut, dass Knut … äh …«

    Dann erinnert man sich an den Sohn, der im Zimmer steht und zuhört.

    »Schöne Haare hatte sie«, wirft jemand ein. Allzu schnell.

    »Zu der Zeit erwartete sie wohl schon das Mädchen.«

    »Ach was, sie hatte ein Mädchen …?«

    »Sie hätte eins haben sollen. Aber es starb.«

    »Als Säugling …?«

    »Ein Jahr war es alt. Und dann bekamen sie den Jungen. Aber da waren sie verheiratet.«

    Da erinnert man sich erneut an ihn und verstummt diesmal. Jemand zieht ein großes weißes Taschentuch heraus und schnäuzt sich. Jetzt dreht man das Radio ab. Dann tritt man mit kleinen, knirschenden Schritten zur Seite, denn der Kaffee kommt. Die nette Tante, die er mag, weil sie hinter ihrer Brille geweint hat, trägt die Kanne. Sie hält sie hoch und würdevoll wie einen Kerzenständer und schwitzt in ihrem engen schwarzen Kleid. Dahinter kommt die junge Tante. Sie hat schwarze Seidenstrümpfe an, und die Männer im Raum vergessen bei ihrem Anblick den Moment und bemerken, dass sie schöne Beine hat. Einem Blick zuliebe lächelt sie jemanden an. Sie hat nicht geweint.

    Als Letzter kommt der Vater. Langsam und mit gesenktem Blick geht er auf den Sohn zu. Alle sind verstummt und haben sich umgedreht. Auch der Mann, der einen Marsch klopfte, ist still. Auch der Vater ist still. Still und allein begegnen sie sich mitten im Raum. Ihre Hände begegnen sich, und ihre Arme begegnen sich. Dann begegnen sich ihre Brustkörbe. Zuletzt begegnen sich ihre Augen. Nicht lange, aber lange genug, dass beide sehen können, wer geweint hat und wessen Augen trocken geblieben sind.

    »Weine nicht, mein Junge«, sagt der Vater.

    Er hat es leise gesagt, trotzdem haben es alle gehört. Jetzt schluchzt jemand unter den Gästen auf, wenngleich nur kurz. Schuhe knirschen, und einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub. Der Arm des Vaters ist hart wie Stein.

    »Weine nicht, mein Junge«, sagt er nochmals.

    Da löst sich der Sohn sachte von ihm, der nicht geweint hat. Allein geht er den langen Weg von seinem Platz unter der Lampe zu dem Tisch mit den dampfenden Tassen und randvollen Gläsern. Jemand, der ihm im Weg steht, weicht scheu zur Seite. Ohne zu zittern, nimmt er eine Tasse und gleich darauf ein Glas und dreht sich langsam um.

    Der Vater steht noch da. Der harte Arm hängt wie angeschossen an seiner rechten Seite hinab. Sachte senkt er den Kopf und klappt das eine rote Ohr platt nach vorn gegen den Wangenknochen. Doch erst als die Sonne zum Fenster hereinblitzt, erkennt der Sohn, dass die Augen des Vaters auf einmal feucht sind. Da verschüttet er ein paar Tropfen dunklen, bitteren Weins auf den Fußboden zwischen seinen Schuhen.

    Bevor die Wagen eintreffen, stehen sie dann verteilt im Raum in Gruppen zusammen. Vier stehen unter der klingenden Pendeluhr und halten Gläser in den Händen. Wenn keiner hinsieht, nippen sie an ihnen. Es sind Leute vom Land, die Verwandten des Witwers, die man nur auf Hochzeiten und Beerdigungen sieht. Ihre Kleider riechen nach Motten. Sie sehen die teure Uhr an. Danach sehen sie einander an. Sie sehen die teure Enzyklopädie an, deren Lederrücken hinter dem Glas des Bücherschranks glänzen. Danach sehen sie einander an und nippen. Plötzlich stehen sie da und flüstern mit Lippen, die von Kaffee und Wein weich sind. Die Tote haben sie nie gemocht.

    Unter der Lampe stehen die Schwestern mit den vier Freunden des Vaters zusammen, die sich den Montagvormittag freigenommen haben, um auf die Beerdigung zu gehen. Man hatte wohl auf mehr gehofft, aber nicht einmal die vier, die gekommen sind, haben die Tote gemocht. Dennoch sprechen sie eine Weile mit leisen, bedrückten Stimmen über sie. Anschließend sprechen sie über etwas anderes. Aber die Stimmen bleiben gleich.

    An einem Fenster stehen der Witwer und sein Sohn bei drei der nächsten Nachbarn. Es sind zwei Frauen, die sich über etwas Abwechslung freuen, sowie ein Mann, der krankgeschrieben ist. Direkt am Fenster steht der Sohn. Er hat Glas und Tasse auf dem Fensterbrett zwischen zwei Blumentöpfen abgestellt. Er weiß, dass die Nachbarn seine Mutter nicht leiden konnten. Deshalb will er nicht zuhören. Der Krankgeschriebene spricht unterdessen über seine Krankheit. Die beiden Nachbarinnen sprechen über andere Krankheiten. Der Witwer spricht über die Krankheit der Toten. Sie hatte ein schwaches Herz und war von Wasser aufgeschwemmt. In der Zwischenzeit blickt der Sohn aus dem Fenster. Er weiß, dass sie bald alle zum Fenster hinausschauen werden, und beeilt sich deshalb, so viel zu sehen, wie er nur kann. Er sieht die bläulichen Straßenbahnschienen, in der Kurve weiß von Eis und Salz. Er sieht die kleinen, frierenden Flocken, die auf die Straße hinabschweben. Er sieht blauen Rauch, der aus dem Schornstein einer Wärmehalle aufsteigt. Einige Arbeiter, die mit Presslufthammer und Hacken die Straße aufgerissen haben, stellen ihre Werkzeuge ab, hauchen weißen Atem in ihre Hände und machen Pause. Eine Katze tapst durch den Schnee, und ein breitbeiniges Brauereipferd pinkelt gegenüber einen gelben Strahl in den Rinnstein.

    Doch die ganze Zeit funkelt die Sonne auf dem vergoldeten Stierkopf über einer Metzgerei. In dem Geschäft ist alles wie immer. Die Tür wird von Leuten mit Zigaretten in den Mündern geöffnet und geschlossen. Im Fenster liegt das Fleisch auf weißen Platten, und hinter der Marmortheke heben die Verkäuferinnen ihre scharfen Beile. Wie so oft zuvor lehnt er sich so weit zum Fenster vor, dass es von seinem heißen Atem beschlägt. Wie so viele Male zuvor, dennoch nicht wie an den ersten Tagen. Denn an diesen ersten Tagen war es am schlimmsten. Da war nach kurzer Zeit die ganze Scheibe beschlagen. Er musste seine Hand packen und zur Tasche hinunterziehen, damit sie sich nicht losriss und die Scheibe einschlug. Er musste sich auf die Lippe beißen, damit der Mund nicht aufsprang und schrie: Warum habt ihr nicht geschlossen …? Ihr da unten …! Wie könnt ihr nur …! Warum hängt ihr keine Laken vor die Fenster …? Warum schließt ihr eure Tür nicht ab …? Warum lasst ihr die Lieferwagen mit Fleisch kommen, obwohl ihr wisst, was passiert ist …? Ihr Metzger …! Ihr grausamen Metzger …! Warum lasst ihr zu, dass alles wie immer ist, obwohl ihr wisst, dass alles verändert ist …?

    Jetzt ist er ruhiger, lehnt sich vor und schaut. Lehnt sich einfach vor und atmet. Richtet nur seinen Blick wie ein Fernrohr auf den goldenen Stierkopf und das hohe Schaufenster mit seinen schweren Bergen von Fleisch. Presst nur seinen Schenkel schmerzhaft fest gegen das Fensterbrett. Denkt nur: Da drinnen starb meine Mutter. Da drinnen starb meine Mutter, während mein Vater in der Küche saß und sich rasierte und während ich, ihr Sohn, in meinem Zimmer saß und mit mir selbst Poker spielte. Da drinnen sank sie von einem Stuhl, ohne dass einer von uns dabei war und sie auffangen konnte. Da drinnen lag sie im Dreck und in den Sägespänen auf dem Boden, während ein Metzger mit dem Rücken zu ihr ein Lamm zerlegte.

    Vielleicht ist er doch nicht so ruhig. Vielleicht hat er doch etwas gesagt. Vielleicht hat er zumindest gezuckt. Jedenfalls spürt er einen Arm aus Stein um seine Schulter. Jedenfalls sieht er eine Hand aus Stein, die über das beschlagene Glas reibt und reibt. Nein, über ein großes, kaltes Auge. Er setzt seine Fingerspitzen darauf und friert. Aber die Hand aus Stein reibt, und als sie aufhört, ist das Auge kalt und klar, aber der Rücken der Hand ist tränennass. Er wischt sie am Ärmel trocken und lässt sie anschließend fallen.

    »Weine nicht, mein Junge«, hört er den Vater flüstern.

    Dann weint er trotzdem. Jemand drückt ihm ein Taschentuch in die Hand, und während er die Augen trocken und klar wischt, hört er der Stille im Raum an, dass alle seinem Weinen lauschen. Da schweigt er aus Scham. Zwingt seine Augen zu Gehorsam und knüllt das kleine gelbe Taschentuch, das nach einem kräftigen Parfüm riecht, zu einem Ball zusammen und reicht es der am nächsten stehenden Frau. In dem Moment sagt der Vater:

    »Behalt es. Ich habe noch eins.«

    Da wird der Ball schwer in seiner Hand. Er beugt sich ganz dicht zur Scheibe vor, aber jetzt beschlägt sie nicht. Der Vater legt die Wange an seine. Es ist eine Wange aus Stein.

    »Sieh mal«, flüstert er.

    Und der Sohn sieht. Sieht, dass die Wagen in einer langen Reihe um die Ecke rollen. Fünf schwarze Wagen im bläulichen Schneefall. Fünf schwarze Wagen, die unerbittlich auf den Hauseingang zurollen und mit schneebedeckten Dächern sanft anhalten.

    »Drei hätten völlig gereicht«, flüstert die Tante mit der Brille so, dass keiner es hören soll, jedoch gleichzeitig so, dass fast alle es hören können.

    Und sicher, drei hätten gereicht, aber erst fünf schwarze Wagen sehen nach etwas aus. Und der Vater liebt das, was nach etwas aussieht. Der Vater liebt das, was schön ist. Deshalb hat er fünf bestellt.

    Nach unten sind vier Treppen zu gehen. Sie steigen sie sehr langsam hinunter, als wäre es das letzte Mal. Als Erster geht der Vater, und ihm folgt der Sohn, und dann kommen die dreizehn anderen. Durch die Treppenhausfenster sehen sie den Schnee, der immer dichter fällt und die Pfosten der Teppichstangen in graue Wolken hüllt. Wenn es nicht aufklart, werden die Wagen ohnehin nicht zu sehen sein. Nun schweigen alle fünfzehn, nein, sechzehn, denn auf der dritten Treppe kommt ihnen die Freundin des Sohnes entgegen. Sie ist dünn und blass und hat von ihrem Kurzwarenhandel im Stadtteil Norrmalm nur nach langem Drängen frei bekommen. Schnee hat sie auf ihrem schwarzen Mantel, und Schnee hat sie auf den schwarzen Handschuhen, und Schnee hat sie auf dem Schleier des Huts, so dass man nur ihre Augen sehen kann. Und geweint hat sie durchaus. Aber wer weiß weshalb …?

    Schwarz und still schreitet das Gefolge die Treppen hinunter. Nachbarn öffnen ihre Türen und schauen ernst und schweigend zu. Es ist ein schönes Schauspiel mit guten Rollen. Ein Kind beginnt zu weinen und presst sich an die Wand, als sähe es den leibhaftigen Tod. Aber sobald sie vorbei sind, werden sämtliche Türen barmherzig leise geschlossen. Als Erstes geht der Sohn, und dann geht die Freundin des Sohnes, und dann geht der Vater, und dann gehen die dreizehn anderen. Hart ist der Stein der Treppenstufen, und schrecklich ist der Klang der harten Absätze und das Rascheln der schwarzen Kleider. Schrecklich ist der Schnee, der draußen lautlos und schwer fällt und alles Lebende und Tote unter sich begräbt. Schrecklich ist auch die Länge der Treppen. Sie gehen und gehen, kommen dennoch nie unten an. Der Sohn greift nach der Hand seiner Freundin, aber was er findet, ist ihr nasser, kalter Handschuh. Er drückt ihn fest, ganz fest, fühlt dabei jedoch nur, wie sehr sie friert. Er schaut die Treppe hinab und geht und geht. Tief sind die Rillen in den Treppenstufen der Trauer und voller Salz und Sand.

    Schrecklich ist schließlich der Anblick, der sich ihm nach dem Ende der letzten Treppe bietet. Schön, aber schrecklich. Ohne es zu merken, hat er die Hand seiner Freundin losgelassen und ist allein durch den dunklen Flur bis zur Haustür gegangen. Als er sie schon öffnen und zu den wartenden Wagen hinaustreten will, die durch Schnee und Glas nur schemenhaft zu erkennen sind, wird ihm jedoch bewusst, wie still und dunkel es hinter ihm ist. Da dreht er sich auf dem Gitterrost stehend langsam um und erblickt ein Bild, das er nie vergessen wird, weil es so schön und so schrecklich ist. Denn mitten auf der Treppe sind alle fünfzehn in ihren schwarzen Kleidern stehengeblieben. Mit ihren Körpern verdecken sie die Fenster im Treppenhaus. Deshalb ist es so dunkel. Hinter den dichten Schleiern glänzen die Gesichter der Frauen hart wie Knochen. Alles andere ist dunkel, die Treppe, die Wände und die schweren Kleider. Nur die Gesichter sind weiß und eine einsame, handschuhlose Hand auf einem Mantel. Für einen Moment stehen sie vollkommen still, als warteten sie auf einen unsichtbaren Fotografen. Dann schreiten sie langsam weiter abwärts und wie ein einziger großer Schatten auf ihn zu. Die Treppe der Trauer ist zu Ende.

    Draußen fällt Schnee. Eine Straßenbahn bimmelt und rollt verborgen vorbei. An der Baustelle glühen schwach Laternen. Mit Schnee auf den Kleidern steigen sie in die Wagen ein. Sie sind sechzehn für fünf große Autos und müssen verteilt sitzen und frieren. Kurz bevor sie losfahren, nimmt der Schneefall etwas ab, so dass wenigstens die Gelegenheit besteht, sie losfahren zu sehen. Sie holen den Pfarrer am Pfarrhof ab. Barhäuptig steht er im Eingang und wartet. Er setzt sich vorn zum Fahrer in das Auto der nächsten Trauernden und drückt ihre Hände durch die Öffnung in der Scheibe. Jeden einzelnen von ihnen betrachtet er lange und ernst. Vom schneidenden Wind tränen ihm die Augen. Für einen Moment glauben sie fast, dass er weint.

    Unterwegs fragt er sie über die Verstorbene aus. Wie sie lebte, woran und wie sie starb. Es ist der Vater, der für die vier antwortet, für sich selbst, für den Sohn, für die Freundin des Sohns und für seine schöne Schwester. Er kann Pfarrer nicht leiden. Er findet es nur schön, dass ein Pfarrer dabei ist. Deshalb antwortet er mürrisch, dass sie lebte, wie arme Leute es tun. Als sie konnte, ging sie putzen. Als sie das nicht mehr konnte, blieb sie daheim. Lag die meiste Zeit. Konnte launisch sein. Ansonsten war sie lieb. War wohl meistens lieb. Meinte es zumindest gut. In der letzten Zeit war sie aufgeschwemmt und hatte Probleme mit Treppen.

    Der Sohn sitzt am Fenster und sieht hinaus. Es klart auf. Über Södermalm wird der Himmel glasig wie Eis. Die Straße, auf der sie fahren, ist kalt und hart. Über die Bürgersteige fegt der harte Besen des Winds. Einen Hut bringt er mit, einen neuen schwarzen Hut. In einer Metzgerei steht ein weißer Mann mit einer Säge in der Hand … hatte Probleme mit Treppen … Und trotzdem ließen sie sie gehen. Sie fahren über die Brücke. Der Kanal ist zugefroren. Schmale Skispuren schlängeln sich über ihn. Am Kai liegt schief ein festgefrorenes Boot und friert.

    »In welchem Krankenhaus ist Frau Lundin gestorben«, erkundigt sich der Pfarrer.

    Da zucken alle zusammen und blicken auf den Boden des Wagens. Woran sie starb, darüber spricht der Vater lange, ziemlich lange, ja, fast, bis sie die Friedhofsmauern sehen können. Aber wie sie starb, geht niemanden etwas an. Die blasse Freundin dreht sich um und sieht den Sohn an. Doch der Sohn schaut zur Heckscheibe hinaus. Sieht die anderen Autos, eines nach dem anderen, in die lange weiße Kurve rollen. So viele in einer Reihe sind schön, und jemand bleibt stehen und schaut.

    »Sie ist zu Hause gestorben …?«, erkundigt sich der Pfarrer.

    »Ja«, sagt die schöne Schwester, »so ist es. Sie ist zu Hause gestorben.«

    Dann sind sie da.

    Nun gehen sie den langen Weg zu dem Kreuz hinauf. Der Wind zerrt an den Schleiern und peitscht ihnen Tränen in die Augen. Als Erstes gehen der Pfarrer und der Vater. Dann folgen der Sohn und die Freundin. Dahinter gehen die Tanten Hand in Hand, gefolgt von den Verwandten des Vaters vom Land. Dann gehen die wenigen falschen Freunde, dahinter die zwei Nachbarinnen. Als Letzter geht der Krankgeschriebene und denkt an seine Krankheit.

    In der Kapelle nehmen sie nicht viel Platz ein. Schwer setzt sich der Vater in die erste Bank, den schwarzen Hut in der Hand. Er wirft einen Blick über die Schulter, um zu schauen, ob noch jemand kommt, aber es ist keiner zu sehen. Doch, als alle Platz genommen haben, nähern sich zwei Frauen mit einer Fahne. Einst, bevor sie hässlich und aufgeschwemmt wurde, war die Tote in einem Frauenverein gewesen. Das hätten sie fast vergessen. Aber der Verein hat es nicht vergessen. Und während die Fahnenträgerin den Gang hinaufgeht, die Fahne tapfer erhoben, erinnert sich auch der Witwer schmerzlich deutlich. Es war nicht böse gemeint, aber eines Abends hatte er sich über ihre ständige Rennerei zu Versammlungen beschwert, und von da an war sie nie mehr hingegangen. Jedenfalls ist die Fahne mit ihrem schwarzen Flor schön, und die Frau, die sie trägt, sieht auch nicht schlecht aus. Rot vom Wind ist sie vorher schon gewesen, aber ein wenig errötet sie nun auch unter den achtzehn Blicken. Die Verwandtschaft vom Land ist angesichts der roten Fahne sicher ein wenig pikiert, aber gut ist ja, flüstert jemand, dass sie immerhin einen Flor, also Trauer trägt.

    Mitten im Raum steht der gelbe Sarg, und obwohl man versucht, woandershin zu schauen, ist man am Ende natürlich gezwungen zu bemerken, dass er dort steht. Dass er auf seinem Podest steht und hübsch aussieht mit seinen acht Kränzen. Legt man den Kopf schief, kann man lesen, was auf den Schleifen geschrieben ist.

    »Ein letzter Gruß von Familie Carlsson«, liest eine Frau leise in das Ohr ihres Mannes. Dann schluchzt sie plötzlich. Es ist ihr Kranz. Und er ist schön.

    Da beginnt die Musik. Es spielen Geige und Orgel, und während man auf der Empore musiziert, blickt der Sohn auf die Hände seines Mädchens hinab. Sie zittern in den Handschuhen fein wie zwei Blätter. Dann betrachtet er die Hände des Vaters. Schwer und still liegen sie auf den Knien. Plötzlich ziehen sie jedoch eine Uhr aus der Tasche, und solange die Musik anhält, öffnen und schließen sie ein ums andere Mal das Uhrengehäuse. Die schöne Schwester fingert an einem Ring herum, dreht ihn hin und her. Dann zieht sie ihn ab und schaut sich ratlos um. Aber die hässliche Schwester sieht den Sarg schlecht. Deshalb haucht sie auf die Brillengläser und putzt sie mit einem großen weißen Taschentuch. Danach sieht sie besser. Und ganz vorn und dem Sarg am nächsten steht starr und steif die Fahnenträgerin, aber an dem flatternden Flor erkennt man, dass sie zittert.

    Jetzt redet der Pfarrer. Es ist eine Ansprache über eine gute Ehefrau für einen guten Ehemann und eine gute Mutter für einen guten Sohn und eine gute Tochter. Der Pfarrer glaubt also, die Freundin des Sohnes wäre eine Tochter der Toten. Deswegen ärgern sich die anderen über sie. Schauen zumindest in ihre Richtung. Sie selbst kaut auf ihrem Handschuh herum und weint. Sie weint schnell. Nun spricht der Pfarrer über ein strebsames Leben und die große Geduld, die erforderlich ist, um eine Krankheit zu ertragen. Da schluchzen sämtliche Frauen in ihre Taschentücher oder in die Ärmel ihrer Mäntel, weil sie ja alle ihre Krankheiten haben. Schließlich spricht der Pfarrer über das Glück, zu Hause sterben zu dürfen, umgeben von seinen geliebten Nächsten. Da beißen sich alle Männer fest oder locker auf die Lippen, denn sie haben ja alle Angst zu sterben. Aber der Sohn nestelt ein Taschentuch heraus, das feucht ist und nach Parfüm riecht. Dann raschelt der Sand, und der Sarg versinkt mit all seinen Blumen langsam wie eine Kinoorgel. Sie versuchen ihn so lange zu sehen, wie es nur geht, so wie man einem Zug hinterherschaut, der mit einem Freund an Bord verschwindet. Schließlich ist nichts mehr zu sehen. Nur ein Loch im Boden, das nach Blumen riecht und bald nicht einmal mehr nach Blumen. An dem Loch steht dann der Witwer. Scheu und leicht gebeugt steht er dort, und durch den aufgeknöpften Mantel sehen sie die Uhr herabhängen. Und wenn er zu sprechen ansetzt, schwingt sie jedes Mal wie ein Pendel unter dem schwarzen Mantel.

    »Liebe«, sagt er.

    Aber dann übermannen ihn die Tränen. Die Gewissheit trifft ihn plötzlich wie eine Peitsche, und er zuckt spürbar zusammen. Dass tut er so heftig,

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