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Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation
Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation
Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation
eBook562 Seiten6 Stunden

Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation

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Über dieses E-Book

Die Schicksale des ausgesetzten Königssohns Ödipus, von Odysseus, Persephone, Jason, Medea und vielen anderen Gestalten der Antike erinnern daran, dass Migration, Flucht und Trauma so alt sind wie die Menschheit selbst und sich in unbewussten Phantasien bei Individuen und Gruppen niedergeschlagen haben. Sie bilden oft unerkannte Quellen für Neugier und Interesse an Geflüchteten einerseits, aber auch von Fremdenhass, Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus andererseits. Sie tragen zu den Spaltungsprozessen in vielen europäischen Gesellschaften im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskrise bei. Zudem wecken Bilder von traumatisierten Geflüchteten Assoziationen zum Thema Trauma, das heißt zu extremen Erfahrungen, die das Selbst Todesangst, Hilflosigkeit und Ohnmacht aussetzen und derart überfluten, dass das Grundvertrauen in ein helfendes Objekt und ein aktives Selbst zusammenbricht. Dies mobilisiert den Impuls, wegzuschauen, zu verleugnen und die Augen vor dem Unerträglichen zu verschließen.

In diesem Band möchten internationale Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen, diesen Impulsen professionell begegnen, um sich traumatisierten Menschen mit Flucht oder Migrationserfahrung empathisch zuzuwenden und dadurch die transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen abzumildern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783647998596
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    Buchvorschau

    Flucht, Migration und Trauma - Marianne Leuzinger-Bohleber

    I Transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen in Familien der Überlebenden der Shoah

    Werner Bohleber

    Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse

    ¹

    Die Katastrophen des vergangenen wie des begonnenen Jahrhunderts, Kriege, Holocaust, rassische und ethnische Verfolgung sowie die Zunahme sozialer Gewalt und das neu entwickelte Bewusstsein für die Gewalt in Familien, für Misshandlung und sexuellen Missbrauch von Kindern, machten und machen Traumatisierungen von Menschen und deren Folgen zu einer unabweisbaren Aufgabe für die Theorieentwicklung und Behandlungstechnik der Psychoanalyse.

    Wir stehen vor der Aufgabe, ein möglichst umfassendes Verständnis der Destruktion und der Folgen von Gewalt und Traumatisierung zu gewinnen, zugleich müssen die therapeutischen Konzepte der Psychoanalyse daraufhin geprüft werden, inwieweit sie für die Behandlung von Traumatisierungen geeignet sind.

    Die Beschäftigung mit dem Trauma und seinen Folgen, mit politischer und sozialer Gewalt hatte lange nicht den Stellenwert in der Psychoanalyse, der ihr zukommen müsste. Eine eigentümliche Ambivalenz beherrschte oft die klinische und theoretische Einschätzung. Ein wesentlicher Grund ist darin zu sehen, dass sich die klinischen Theorien der Psychoanalyse zunehmend auf das Hier und Jetzt der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung konzentriert haben und damit auf die Bedeutungen, die sich in der psychoanalytischen Begegnung innerhalb der Behandlungssituation entfalten. Die gegenwärtigen intersubjektiven, konstruktivistischen und narrativen Theorien fassen die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Außenwelt als komplex und unbestimmt auf. Ihre Bedeutung wird in der intersubjektiven Beziehung zwischen Analytikern und Patienten jeweils neu geschaffen. Erfahrung erscheint so als ein fortlaufender intersubjektiver und interpretativer Prozess. Kindheitserfahrungen und die determinierende Kraft der Vergangenheit geraten damit weitgehend ins Vage. Auch die Körperlichkeit aller menschlichen Erfahrungen verschwindet tendenziell; tatsächlich kann sie nicht darin aufgehen, durchweg sozial konstruiert zu sein, und sie lässt sich auch nicht gänzlich gesellschaftlich und intersubjektiv definieren. Bei der Behandlung von Traumatisierungen tritt nun diese Einseitigkeit postmodern-intersubjektiver Theorien besonders hervor, denn das Trauma durchschlägt den Schutzmantel, den die seelische Bedeutungsstruktur des Menschen bildet. Es wird dem Körper eingeschrieben und wirkt sich unmittelbar auf das organische Substrat seelischen Funktionierens aus. Das Spezifische des Traumas liegt in der Struktur der Wahrnehmungsprozesse und der Affekte sowie in der Erfahrung, dass der psychische Raum durchbrochen und die Symbolisierung zerstört wird. Das traumatische Erleben ist im Kern das eines »Zuviel«.

    In dieser kurzen Skizzierung deutet sich schon an, worauf in meiner Darstellung der Theoriebildung zum Trauma ein Schwerpunkt liegen wird, nämlich auf dem Ineinander von hermeneutischen und psychoökonomischen Konzeptualisierungen. Dabei bildet die Frage, worin psychologisch der Kern der traumatischen Erfahrung besteht, eine weitere Leitlinie. Das Trauma und seine Folgen hat in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftliches Interesse in der Psychoanalyse auf sich gezogen. Die psychoanalytische Literatur zum Trauma ist zwischenzeitlich so stark angewachsen, dass ich auch nicht annähernd einen umfassenden Überblick über die Arbeiten zur Traumatheorie geben kann. Die Auswahl ist durch meine Schwerpunktsetzung bestimmt; auf Arbeiten, die sich mit Fragen der Behandlung von Traumatisierungen befassen, werde ich dabei nicht eingehen können.

    Sigmund Freud und die Entwicklung eines psychoökonomischen Traumamodells

    Bei den Fällen, von denen Freud in den »Studien über Hysterie« (Breuer u. Freud, 1895d) berichtete, spielte ein sexuelles Trauma eine wichtige Rolle, doch Freud verallgemeinerte diesen Befund noch nicht. Erst 1895 begann Freud nach einer ganz spezifischen Ursache der Hysterie zu suchen und fand sie in einer sexuellen Verführung in der Kindheit. In seiner Praxis war Freud bei Patientinnen, die hysterische Symptome ausgebildet hatten, mit sexuellen Verführungserlebnissen in der postpubertären Entwicklungsphase konfrontiert. Als determinierender Faktor reichten ihm diese Erlebnisse aber zur Erklärung der Erkrankung nicht aus. Berichte seiner Patientinnen über sexuelle Verführungen in ihrer Kindheit ließen ihn ein präpubertäres sexuelles Trauma annehmen, eine genitale Stimulation des Kindes durch einen Erwachsenen, die es aber nicht als sexuell erleben konnte. Erst durch eine zweite Verführung nach der Pubertät und durch die zwischenzeitlich eingetretene sexuelle Reifung und Erlebnisfähigkeit erhält das frühe Erlebnis nachträglich seine Bedeutung. Durch assoziative Verknüpfung mit dem akuten Erlebnis und durch die einsetzende Reizüberflutung erhält dieses erste Erlebnis seine traumatische Kraft, die die Abwehr der Erinnerung erzwingt und sie unbewusst macht. Misslingt dieser Abwehrvorgang, eröffnet sich als Ausweg eine hysterische Symptombildung.

    1896 hatte Freud die Verführungstheorie publiziert, widerrief sie aber dann 1897.² Nach Blass und Simon (1994) war Freud immer wieder Zweifeln an seiner Verführungstheorie ausgesetzt. So habe er in der Zeit von 1893 bis 1897 vier unterschiedliche Verführungstheorien formuliert.³ Was wie ein plötzlicher Widerruf seiner Theorie erscheine, sei keinesfalls als eine vollständige Abwendung zu verstehen. Freuds theoretisches Denken gleiche eher einem Serpentinenweg, den er im Verlauf von 20 Jahren nur mit großen Schwierigkeiten begehen konnte (Blass u. Simon, 1994, S. 689). Freud hat sich mit dem Problem, ob eine Verführung tatsächlich stattgefunden hat, noch lange auseinandergesetzt. In dem Brief an Fließ vom 21.9.1897 (Freud, 1985c, S. 283 ff.) nennt er Gründe, die ihn bewogen haben, die Verführungstheorie aufzugeben: Zum einen erzielte er in den Analysen nicht die Erfolge, die er durch diese Aufklärung erwartete, zum anderen erzwang die Häufigkeit der hysterischen Neurosen den Rückschluss auf einen massenhaft verbreiteten sexuellen Missbrauch in Familien. Der dritte Grund, den Freud angibt, liegt in der Beschaffenheit des unbewussten Materials selbst. Da es im Unbewussten keine Realitätszeichen gebe, könne auch über Wahrheit oder affektbesetzte Fiktion nicht sicher entschieden werden. So sah er sich zur Annahme gezwungen, dass es sich bei den Erzählungen seiner Patientinnen nicht um wirkliche Erlebnisse, sondern um Phantasien handelte. Blass und Simon (1994) präzisieren zu Recht, dass entgegen dieser allgemein vertretenen Annahme nicht die Entdeckung ödipaler Phantasien der entscheidende Grund war, sondern die Erkenntnis, dass es möglich ist, eine Phantasie als Realität wahrzunehmen, und dass uns Phantasien auf dieselbe Weise wie reale Ereignisse beeinflussen können. Freud war dadurch gezwungen, von einer ziemlich komplexen Interaktion von Evidenz, Theoretisieren und Phantasie sowohl bei sich selbst als auch bei seinen Patientinnen und Patienten auszugehen.

    Auch Makari (1998) beschreibt die Wende in Freuds Denken als einen langsamen Übergang, begründet ihn jedoch anders als Blass und Simon. Mit dem Widerruf sei Freud von der Annahme einer spezifischen Ursache zu einer generelleren Kategorie frühinfantiler traumatisch wirkender sexueller Erfahrungen unterschiedlicher Art übergegangen. Neben die Verführung trat nun die traumatische Überstimulierung durch Masturbation. Zwischen 1901 und 1903 rekonzeptualisierte Freud die Masturbation als nicht traumatisch wirkend, sondern als ein Anzeichen erwachender infantiler Sexualität und wechselte damit von der Traumatheorie zu einer Theorie sexueller Triebe und Phantasien.

    Freud bezeichnete den Wechsel seiner Theorie als einen »Sturz aller Werte« (Freud, 1985c, S. 286). Grubrich-Simitis (1987) spricht von einer Gegenbesetzung gegen das Traumamodell, vom dem sich Freud geradezu »wegkatapultieren« wollte. Aber in Wirklichkeit seien das neu gefundene Triebmodell und das Traumamodell nicht antagonistisch, sondern ergänzten sich gegenseitig. Immer wieder kommt Freud in seinen Schriften auf die traumatische Genese zu sprechen, und dabei auch auf den sexuellen Missbrauch, den er als eine der Ursachen neurotischer Erkrankungen nie aufgab. Wie Grubrich-Simitis (1987, S. 1016) betont, habe Freud stets die Befürchtung gehabt, »das vergleichsweise gefällige Traumamodell könne tendenziell das radikal neue, dauerhaft unliebsame, ›schwierigere und unwahrscheinlichere‹ [Freud 1918] Trieb-Modell gefährden«. Da für ihn jetzt die psychische Realität »in der Welt der Neurose die maßgebende« (Freud, 1916–17a, S. 383) war, kam er zur Überzeugung, dass eine Traumatisierung auch aus inneren Quellen stammen könne. Einige phasenspezifische infantile Triebäußerungen, Ängste und Konflikte galten ihm als prototypische innere Bedingungen, die einem Erleben durch entsprechende äußere Umstände traumatische Wirkung verleihen konnten.

    Der Erste Weltkrieg zwang Freud und seine Schülerinnen und Schüler, sich erneut mit der traumatischen Neurose und der pathogenen Wirkung von Außenweltfaktoren zu beschäftigen. Ein psychoökonomischer Aspekt trat in den Vordergrund: »Es ist so, als ob diese Kranken mit der traumatischen Situation nicht fertiggeworden wären, als ob diese noch als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stände, und wir nehmen diese Auffassung in allem Ernst an; sie zeigt uns den Weg zu einer […] ökonomischen Betrachtung der seelischen Vorgänge« (Freud, 1916–17a, S. 284). In »Jenseits des Lustprinzips« (1920 g) entwickelte Freud diese Auffassung durch das Konzept des Reizschutzes weiter.⁴ Dieser wird im traumatischen Erleben durchbrochen, die anstürmenden Quantitäten von Erregung sind zu groß, um gemeistert und psychisch gebunden zu werden. Der psychische Apparat regrediert auf primitivere seelische Reaktionsweisen. An die Stelle des Lustprinzips tritt der Wiederholungszwang. Er aktualisiert das traumatische Erlebnis wieder, in der Hoffnung, die Erregung auf diese Weise abzureagieren oder psychisch zu binden und damit das Lustprinzip wieder in Kraft zu setzen. Auch die posttraumatischen Träume aktualisieren die traumatische Situation wieder und dienen der Reizbewältigung.

    Das Trauma ist aber nicht nur eine Störung der libidinösen Ökonomie, sondern es bedroht die Integrität des Subjekts auf radikalere Weise (Laplanche u. Pontalis, 1967, S. 518). In »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d) greift Freud auf das Konzept der automatischen Angst zurück, wie er es für die Aktualneurosen entwickelt hat. Durch die übergroße Erregungsmenge in der traumatischen Situation entsteht eine massive automatische Angst. Sie überflutet das Ich, das ihr ungeschützt ausgesetzt ist, und macht es absolut hilflos. Die automatische Angst hat einen unbestimmten Charakter und ist objektlos. In einem ersten Bewältigungsversuch nach der Traumatisierung versucht das Ich die automatische Angst in Signalangst zu verwandeln, indem es die absolute Hilflosigkeit in eine Erwartung zu transformieren sucht. Damit schützt es sich und verwandelt die traumatisch erlebte Situation in eine abschätzbare Gefahrensituation. Die innere Aktivität, die das Ich dabei entfaltet, wiederholt »eine abgeschwächte Reproduktion desselben [des Traumas], in der Hoffnung, deren Ablauf selbsttätig leiten zu können« (1926d, S. 200). Die traumatische Situation wird dadurch verinnerlicht und erlangt für das Ich Bedeutung. Die Angst wird symbolisiert. Sie wird zur Signalangst und bleibt nicht mehr unbestimmt und objektlos. Das Trauma erlangt eine hermeneutische Struktur, wodurch die Möglichkeit der seelischen Integration geschaffen wird.

    Für Freud kann eine traumatische Situation sowohl durch übermäßige Triebregungen als auch durch äußere, reale Erlebnisse entstehen. Die Beziehung zwischen dem äußeren Ereignis und den inneren Vorgängen wurde von Freud aber nie genau festgelegt und die Frage »reales äußeres Trauma versus traumatische Wirkung innerer Phantasien« kann bis heute Debatten auslösen.

    Auch Fenichel (1937/1981, 1945/1974) definiert das Trauma durch eine übergroße Erregungsmenge, die nicht gebunden werden kann, wobei die traumatische Wirkung eines Ereignisses davon abhängt, wie unerwartet es eintritt. Unerwartete Ereignisse wirken a priori ich-überwältigend. Neben Abfuhr und Bindung steht in Fenichels Traumamodell die Angst im Zentrum. Traumata sind für Fenichel in der menschlichen Entwicklung unvermeidbar. Da die elterliche Fürsorge nicht immer adäquat zur Verfügung steht, wird das kindliche Ich Erregungsmengen ausgesetzt, die zu groß sind und eine primäre Angst vor dem Zusammenbruch des Ichs erzeugen. Spätere Gefahren, die vor allem Triebgefahren sind, erinnern an den einmal erlebten traumatischen Zustand. Fenichel sieht einen engen Zusammenhang zwischen traumatischem Angsterleben und zu hoher Sexualerregung. Alle Triebabwehr erfolgt aus Angst und alle (sekundäre) Angst ist das Bemühen des Ichs, traumatische Erlebnisse zu vermeiden. Traumatisch überwältigende Angst, Realangst und Gewissensangst stellen für Fenichel eine genetische Entwicklungsreihe dar. Auf diese Weise leitet er die Psychoneurosen von der traumatischen Neurose ab. Je mehr psychische Energie zur Aufrechterhaltung früherer Verdrängungen aufgewendet werden muss, desto weniger kann das Ich Erregungsquanten binden und desto anfälliger ist es für Traumatisierungen. Im Zustand der Hilflosigkeit regrediert das Ich auf eine primitivere, passiv-rezeptive Art der Realitätsbewältigung. Fenichel hat ein reines psychoökonomisches Abfuhrmodell für das Trauma geschaffen. Die traumatische Situation wird nur noch als übergroße Erregungsmenge konzeptualisiert. War bei Freud in der Hilflosigkeit als traumatischem Zustand des Ichs das Objekt zumindest als fehlendes noch anwesend, so bleibt bei Fenichel nur noch Angst und Ohnmacht, die er als eine Abschaltung der überfordernden Reize versteht.

    In der Folgezeit rückten in der Theoriediskussion der Psychoanalyse die traumatischen Ursachen gegenüber den triebbedingten Konflikten und den Fixierungen der Libido an den Rand. Arbeiten, die sich mit dem Trauma befassten, bestätigten Freuds Formulierungen, führten aber nicht darüber hinaus.⁵ Erst die Untersuchungen zur frühen Entwicklung des Kindes seit den 1950er Jahren lieferten neue Erkenntnisse zur Traumakonzeption.

    Ferenczi, die Untersuchung früher

    Mutter-Kind-Interaktionen und die Entwicklung

    eines Objektbeziehungsmodells des Traumas

    Eine Ausnahme in dieser Entwicklung bildet Sándor Ferenczi. Er war überzeugt, dass das traumatische Moment in der Pathogenese der Neurosen vernachlässigt wird. Die Nichtbeachtung der äußeren Faktoren führe zu falschen Schlussfolgerungen und zu vorschnellen Erklärungen der neurotischen Phänomene aufgrund von inneren Dispositionen. Es war die Änderung seiner therapeutischen Haltung, die Ferenczi ein vertieftes Verständnis traumatischer Störungen ermöglichte. Er gab die distanzierte analytische Haltung auf, weil er erkannte, dass es bei traumatisierten Patientinnen und Patienten in bestimmten Situationen therapeutisch notwendig ist, unbedingt aufrichtig zu sein, Irrtümer einzugestehen und auch eigene Gefühle zu offenbaren. Ferenczi hat die Wirkung von Lüge und Betrug als traumatisierendes Moment und die Gefahr ihrer Wiederholung in der therapeutischen Situation erkannt. Das Vertrauen, durch diese Aufrichtigkeit geschaffen, macht den Unterschied zur traumatogenen Vergangenheit aus und ermöglicht deren therapeutische Bearbeitung. Für Ferenczi ist es die Beziehung zum Objekt, die traumatogen wirkt, weil ein Erwachsener, dem das Kind vertraut, sich in einen Aggressor verwandelt und die Sicherheit des Kindes zerstört. Um das gute Objekt zu bewahren, identifiziert sich das Kind mit dem Aggressor, introjiziert ihn, verwandelt ihn in eine intrapsychische Figur und lässt ihn dadurch als eine äußere Bedrohung verschwinden. Das Kind introjiziert damit auch die Schuld des Erwachsenen und beginnt zu fühlen, dass es selbst Strafe verdient. Die Reaktion eines anderen Erwachsenen auf diese Aggression, in der Regel die Mutter, ist entscheidend dafür, ob die Aggression traumatisch wird. Dies ist der Fall, wenn die Tat abgeleugnet oder bagatellisiert wird (Peláez, 2009). Für Ferenczi ist also nicht nur die aggressive Tat verursachend, sondern auch die darin eingebettete Kommunikation: Enttäuschung, Vertrauensbruch und Ableugnung oder Bagatellisierung des Geschehenen. Den Worten der traumatisierenden Liebesobjekte und der Sprache wird hier eine bedeutsame Rolle als traumatogene Faktoren zugesprochen.

    Ferenczi hat viele spätere Erkenntnisse der Traumaforschung vorweggenommen: die zerstörerische Wirkung des Traumas, durch die ein »totes Ich-Stück« und eine Agonie entstehen; das Enactment, durch das sich ein Trauma in der Behandlung ausdrückt; die Spaltung des Ichs in eine beobachtende Instanz und in einen preisgegebenen Körper; die Lähmung der Affekte und insbesondere die Wirkung des Schweigens und der Sprachlosigkeit des Täters auf das traumatisierte Kind. Darüber hinaus beschrieb Ferenczi eine Notfallreaktion des Kindes, das in seiner ungeheuren Angst, Hilf- und Schutzlosigkeit gezwungen ist, sich mit dem Täter zu identifizieren, um seelisch zu überleben. Vor allem die Arbeit über »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933) ist eine noch immer moderne Analyse traumatischer Störungen, die innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft jener Zeit auf Unverständnis und Ablehnung stieß und lange ignoriert worden ist. So verfielen Ferenczis Untersuchungen äußerer traumatisierender Bedingungen und deren Internalisierung durch das Individuum lange Zeit dem Vergessen.⁶ Die späteren Objektbeziehungsmodelle des Traumas, beginnend mit Michael Balint, gehen auf ihn zurück.

    Seit den 1950er Jahren untersuchten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker defizitäre Bedingungen der frühen Mutter-Kind-Interaktionen und deren traumatische Wirkung auf das Kind. Greenacre (1952, 1967) zeigte, wie traumatisch wirkende Ereignisse in den frühen prägenitalen Entwicklungsphasen später schwere Neurosen nach sich ziehen können, mit Störungen der Ich-Entwicklung, Charakterstörungen und Perversionen. Der von Ernst Kris (1956) eingeführte Begriff des Belastungstraumas (strain trauma) leistete gute Dienste, weil er unterschwellige Dauerbelastungen fokussierte. Vielfältige Situationen wurden erforscht, in denen die Mutter als Reizschutz für das Kind versagte und das Kind einer überfordernden und überwältigenden Trennungs- bzw. Verlassenheitsangst ausgesetzt war. Solche Zustände von frühem innerem Stress wirken als »silent trauma« (Hoffer, 1952). Anna Freud und ihre Mitarbeiterinnen hatten schon während des Zweiten Weltkriegs die Auswirkungen von Bombenangriffen auf Kleinkinder untersucht (Freud u. Burlingham, 1949). Spitz (1972) erforschte die Folgen des Entzugs affektiver Zufuhr. Winnicott (1974, 1990) beschrieb die Folgen eines Versagens der Mutter in der Zeit, in der sich das wahre Selbst des Kindes bildet. Das Ich kann die traumatische Wirkung nicht integrieren, spaltet das wahre Selbst ab und bildet ein falsches Selbst aus, das nun als Schutz gegen weitere traumatische Beschädigungen des wahren Selbst dient. Khan (1977) prägte den Begriff des kumulativen Traumas, das aus wiederholtem Versagen der Mutter in ihrer Funktion als Reizschutz für das kleine Kind resultiert. Sandler (1967) spricht von retrospektivem Trauma, bei dem die Wahrnehmung einer besonderen Situation die Erinnerung an eine frühere Erfahrung wachruft, die dann unter den gegenwärtigen Bedingungen traumatisch wird. Bowlby (1976) erforschte die verschiedenen Formen früher Deprivationstraumata. Mit allen diesen Untersuchungen rückten die Objekte des Kindes und die Beziehung zu ihnen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Traumabegriff wurde dadurch aber der Gefahr ausgesetzt, im Übermaß ausgeweitet und auf alle möglichen Defizite der Mutter-Kind-Beziehung angewandt zu werden, wodurch er seine Spezifität zu verlieren drohte.

    Mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorien kamen andere Modellvorstellungen in die Diskussion. Die sogenannte Ein-Personen-Psychologie und rein quantitative Erwägungen über eine unerträgliche Erregungsmenge, die das Ich überflutet, wurden verworfen. Nicht mehr ein einmaliges Ereignis wie ein Unfall ist das Paradigma, sondern die Objektbeziehung wird zur Basis der Traumatheorie. Balint (1970) hat dies in der Nachfolge von Ferenczi als Erster beschrieben. Ob ein Ereignis oder eine Situation traumatisch wirkt, hängt davon ab, ob zwischen dem Kind und dem traumatogenen Objekt eine intensive Beziehung bestanden hat. Drei spezifische Elemente müssen zusammenkommen: (1) Das Kind ist von dem Erwachsenen abhängig. (2) Dieser tut gegen die Erwartung etwas höchst Aufregendes oder Schmerzhaftes. (3) Er weist das Kind danach ab, die Tat wird geleugnet oder das Kind wird von ihm fallengelassen. Die Objektbeziehung selbst erhält damit traumatischen Charakter.

    Diese Auffassung vom Entstehen kindlicher Traumata erwies sich als sehr fruchtbar. Wie spätere Untersuchungen (Steele, 1994) bestätigten, sind es bei der Misshandlung oder dem Missbrauch nicht in erster Linie die physischen Verletzungen des Kindes, die die seelische traumatische Störung verursachen, das pathogenste Element ist vielmehr die Misshandlung oder der Missbrauch durch die Person, die man eigentlich für Schutz und Fürsorge braucht. Außerdem eröffnete dieser objektbeziehungstheoretische Ansatz den Blick darauf, dass bei einer schweren Traumatisierung nicht nur die innere Objektbeziehung beschädigt wird oder zusammenbricht, sondern auch die innere, schützende, Sicherheit gebende Kommunikation zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen. Dadurch entstehen Inseln traumatischer Erfahrungen, die von der inneren Kommunikation abgekapselt bzw. abgespalten sind.

    Untersuchungen zur Bindungstheorie haben diese Zusammenhänge weiter erhellt. Sichere Bindung bildet die Basis für das Sicherheitsgefühl und Vertrauen des Kindes in die Beziehungspersonen und die Umwelt. Sie fördert damit die Fähigkeit, über mentale Zustände nachzudenken. Ein Trauma aktiviert das Bindungssystem. Erfolgt eine Traumatisierung innerhalb einer Bindungsbeziehung (Bindungstrauma), so hat dies gravierende Folgen für das Kind. Da das Bindungssystem aktiviert wird, sucht das Kind gerade bei der Person Sicherheit und Hilfe, die seine Angst verursacht hat. Coates und Moore (1997) wiesen darauf hin, dass in den Fällen, in denen der Missbraucher gleichzeitig eine der primären Bindungspersonen ist, die Auswirkungen des Missbrauchs eine spätere symbolische Bearbeitung und Transformation blockieren. Es sei die zerstörerischste Folge des sexuellen Missbrauchs durch eine primäre Bezugsperson, dass es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, das Bindungssystem jemals wiederherzustellen. Das Explorationssystem und die Fähigkeit zu mentalisieren sind antagonistisch zum Bindungssystem. Wenn sich das Kind sicher fühlt, ist das Bindungssystem inaktiv. Wird aber das Bindungssystem durch Ängste oder Traumatisierungen aktualisiert, so wird die Mentalisierungsfähigkeit herabgesetzt oder ausgeschaltet und nichtmentalisierende Modi der Repräsentation von Erfahrung treten wieder in Aktion (Fonagy, 2008). Damit wird auch die Wahrnehmung des traumatisierenden Anderen geschädigt; um die Bindungsperson zu schützen, identifiziert das Kind sich mit ihr und gibt sich selbst die Schuld am Geschehen – ein Zusammenhang, der schon von Ferenczi beschrieben worden ist.

    In ähnlicher Weise hat die Bindungsforschung in den 1990er Jahren die Einführung eines desorganisierten Bindungsstatus beschrieben. Der Status zentriert sich um Verhaltensmuster des Kindes, die zuvor im Bindungssystem unklassifizierbar waren. Das Kind reagiert desorganisiert, wenn es seine primäre Bezugsperson als Quelle von Angst und Alarmierung und gleichzeitig als die einzige Quelle für die Lösung erlebt. Diese widersprüchliche Erfahrung induziert einen Motivationskonflikt, denn Annäherungs- und Rückzugsverhalten werden gleichzeitig aktiviert. Die Forschungen erbrachten starke Hinweise darauf, dass der desorganisierte Bindungsstatus des Kindes auf eine gestörte Form elterlicher Betreuung zurückgeht, die ihrerseits eine Folge unaufgelöster traumatischer Erfahrungen der Mutter ist (Green u. Goldwyn, 2002).

    Psychoanalytische Kleinkindforschung und Bindungsforschung ergänzen sich auch bei der Untersuchung der transgenerationellen Auswirkungen von schwerer elterlicher Traumatisierung auf den Säugling und das Kleinkind und bei der Entstehung eines »relational trauma« in der Primärbeziehung (Leuzinger-Bohleber, 2009; Baradon, 2010). Traumatisierte Mütter bilden oft keine genügend gute »primary maternal preoccupation« aus (Rutherford u. Mayes, 2011). Gegen ihre bewusste Intention erzeugt das vulnerable, abhängige, bedürftige Baby in ihnen einen Drang, diesen Seiten ihres Babys entgegenzuwirken oder sie zu bekämpfen, weil dadurch Erinnerungen an ihre eigene frühe Hilflosigkeit aktiviert werden (Baradon, 2010). Mit neuen Untersuchungsmethoden werden hier Forschungen von Fraiberg und Kollegen fortgeführt, die beschrieben haben, wie die frühesten Erfahrungen mit dem primären Liebesobjekt in den Interaktionen mit der nächsten Generation quasi verkörpert wiederkehren. Fraiberg, Edelson und Shapiro (1975) sprachen von »Gespenstern im Kinderzimmer«. Um diese unbewussten Weitergaben zu unterbrechen, sind in der Zwischenzeit vielversprechende Programme von Mutter-Kind-Psychotherapien und Präventionsprogramme mit Risikopopulationen entstanden.

    Es bestehen auch komplexe Interaktionseffekte zwischen neurobiologischer Vulnerabilität und den Auswirkungen elterlichen Verhaltens. Der Zusammenhang von Misshandlung und sexuellem Missbrauch in der Kindheit und depressiven Erkrankungen im Erwachsenenalter ist hinlänglich empirisch belegt (Hill, 2010). Technologische Fortschritte in der Molekulargenetik machten nun in den letzten Jahren innovative Forschungen möglich, die der Frage nachgingen, wie Gene mit Umweltfaktoren interagieren und einen bestimmten Phänotypus hervorbringen. Diese Untersuchungen ergaben Hinweise, dass spezifische genetische Prädispositionen erst in Kombination mit speziellen Belastungsfaktoren klinisch manifest werden. Vor allem das Serotonintransportergen (und hierbei der Genotyp 5-HTT mit seinen s-Allel-Variationen) war hier von Bedeutung. Lag dieser Risikogenotyp vor, so erhöhten anhaltend belastende Lebensumstände oder Traumata, wie etwa Misshandlung im Kindesalter, das Erkrankungsrisiko für eine Depression erheblich (Caspi et al., 2003; Hauser, 2008). Umgekehrt konnten bestimmte protektive Faktoren, wie eine gute mütterliche Responsivität, das Risiko der Entwicklung einer depressiven Störung bei Kindern mit diesem Genotyp reduzieren. Misshandelte Kinder mit diesem genetischen Risiko wiesen nur einen minimalen Anstieg in den Depressions-Scores auf, wenn unterstützende Bezugspersonen verfügbar waren (Kaufman et al., 2006; Goldberg, 2009). Das wirft interessante Fragen nach dem Zusammenhang von Elternverhalten, genetischer Vulnerabilität und spezifischen umweltbedingten Stressfaktoren auf. Weitere Studien auf diesem auch für die Psychoanalyse hochinteressanten epigenetischen Forschungsfeld sind notwendig.

    Von der Skotomisierung des sexuellen Missbrauchs

    zur Recovered-Memory-Debatte

    Obschon sich Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker mit den pathogenen Auswirkungen von Entwicklungsdefiziten bei Kindern beschäftigten, blieb die traumatische Realität des sexuellen Missbrauchs und Inzests weitgehend außer Betracht (vgl. dazu auch Krutzenbichler, 2005). Simon (1992) hat in den englischsprachigen psychoanalytischen Zeitschriften im Zeitraum von 1920 bis 1986 nur 19 Artikel gefunden, die sich im Titel entweder auf Inzest oder Verführung beziehen. Dieses Defizit hat wissenschaftsmethodische und praktische Ursachen. Psychoanalytisch erwies es sich als schwierig, zwischen unbewussten Phantasien und verdrängten Erinnerungen zu unterscheiden⁷, was dann zur Folge hatte, dass der Realitätscharakter von Kindheitserlebnissen nur unzureichend wahrgenommen und der Einfluss von Traumatisierungen nicht entsprechend anerkannt wurde. Ein weiterer Grund für die Reserve, Erinnerungen als Speicherung entsprechender Lebensereignisse zu betrachten, lag darin, dass die Psychoanalyse, aber auch die kognitive Psychologie, immer wieder aufgezeigt haben, wie sehr Wahrnehmungen durch Phantasien und Wünsche beeinflusst und wie Erinnerungen immer wieder umgearbeitet werden, je nachdem in welchem Kontext sie erneut im Bewusstsein auftauchen (Person u. Klar, 1994). Deshalb richtete sich die Aufmerksamkeit der meisten Psychoanalytiker/-innen auf die Untersuchung der unbewussten Phantasien und auf die darin enthaltenen Triebstrebungen sowie darauf, wie diese die klinischen Phänomene und das Narrativ der Patientinnen und Patienten organisieren. Um die lang anhaltende theoretische und klinische Vernachlässigung des sexuellen Missbrauchs zu erklären, bedarf es aber noch einer Ergänzung. In den Reihen der Psychoanalyse herrschte weithin die Sorge, durch die Beschäftigung mit dem realen Inzest könnte die zentrale Bedeutung des Ödipus-Komplexes infrage gestellt werden. Die ödipal orientierten Vorannahmen vieler Analytiker/-innen führten dazu, bei Patientinnen und Patienten, die einen sexuellen Missbrauch erlebt hatten, eher auf die verführerische Haltung des Kindes zu schauen, anstatt auf das, was dem Kind vonseiten des Erwachsenen angetan wurde. Furst (1967) stellt als Ergebnis mehrerer Untersuchungen zu Inzesterfahrungen von Kindern fest, dass diese den sexuellen Kontakt mit Erwachsenen gutgeheißen, provoziert oder sich sogar angeboten hätten. Auch hätten sie selten unter Schuldgefühlen und unter seelischen Störungen gelitten. Eine ähnliche Sicht findet sich schon bei Karl Abraham (1907a, 1907b), der bei an Hysterie oder Dementia praecox Erkrankten eine Traumatophilie annahm, in deren Folge sie als Kinder ein sexuelles Trauma unbewusst provoziert hätten.⁸

    In den 1980er Jahren hat in der Frage des sexuellen Missbrauchs und der Behandlung von Inzestopfern innerhalb der psychoanalytischen Community ein Umdenken begonnen. Die klinische Beschäftigung mit dieser Art von Traumatisierung, ihre Erforschung, ihre theoretische Ausformulierung und ihre therapeutische Behandlung haben sich verstärkt, wie die wachsende Zahl von Publikationen zu diesem Thema bezeugt (Colarusso, 2010; Egle, Hoffmann u. Joraschky, 2005; Hirsch, 1987; Kluft, 1990; Kramer u. Akhtar, 1991; Levine, 1990; Shengold, 1995; Sugarman, 1994; u. a.). Noch mehr Brisanz erhielt das Thema in den letzten Jahren, als infolge der Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins und der zunehmenden Sensibilität für diese Traumatisierungen lange verschwiegene Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen und in Internaten öffentlich gemacht wurden. Auch die psychoanalytischen Fachgesellschaften sind sensibler geworden für die Wahrnehmung des sexuellen Missbrauchs auf ihrem Gebiet, das heißt des Missbrauchs von Patientinnen und Patienten durch Psychotherapeuten und Psychoanalytiker.

    Im Folgenden werde ich mich nur mit dem Trauma des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit beschäftigen. Die Folgen sind – je nach Entwicklungsstand des missbrauchten Kindes – gravierend. Das Ich des Kindes wird von dem traumatischen Ereignis überwältigt und die Wirkungen für den Entwicklungsprozess und die Psychopathologie sind lebenslang. Je jünger das Opfer ist, desto eher benutzt es dissoziative Mechanismen, um das Trauma zu bewältigen, vor allem bei chronischem Missbrauch. Weitere Kernsymptome sind Angstzustände, dissoziative Zustände, Verhaltensauffälligkeiten, Depression, Störungen der Aufmerksamkeit und Schulschwierigkeiten. Während der Adoleszenz und im Erwachsenenalter kommen weitere Störungen hinzu, wie Substanzabusus, Essstörungen, Somatisierungen, erhöhtes Suizidrisiko, eine Häufung von jugendlichen Schwangerschaften, sexuelle Probleme in den Beziehungen. Diese Störungen halten mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang an (Colarusso, 2010).

    In den 1990er Jahren hat sich vor allem in den USA eine wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte, die sogenannte Recovered-Memory-Debatte, über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen an ein Kindheitstrauma entwickelt, insbesondere wenn diese Erinnerungen nach langer Zeit der Verdrängung im Erwachsenenalter im Verlauf einer Psychotherapie wieder auftauchen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht unter anderem die Frage, ob es ein besonderes traumatisches Gedächtnis gibt, in dem Erinnerungen anders als im expliziten autobiografischen Gedächtnis aufbewahrt werden. Diese Hypothese haben insbesondere Van der Kolk und seine Mitarbeiter/-innen in verschiedenen Untersuchungen vertreten (vgl. Van der Kolk, 1996; Van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth, 1996). Danach werden traumatische Erfahrungen aufgrund der extremen Erregung spezifisch enkodiert. Die Integration und Interpretation mithilfe des semantischen Gedächtnisses wird unterbrochen, und die traumatischen Erfahrungen werden als affektiver Zustand, als somatische Empfindungen, als Gerüche, Geräusche und als visuelle Bilder gespeichert. Das Ergebnis ist ein nichtsymbolischer, unflexibler und unveränderbarer Inhalt traumatischer Erinnerung. Ihr Wiederauftauchen ist abhängig vom Eintreten bestimmter Reize, die mit der ursprünglichen traumatischen Szene assoziiert sind. Widersprüchlich bleiben bei Van der Kolk (1996) die Aussagen darüber, inwieweit diese traumatischen Erinnerungen ins Gedächtnis »eingraviert« sind und durch spätere Erfahrung nicht verändert werden können.

    Obwohl es zwischenzeitlich eine umfangreiche Forschung zur Frage des Vergessens und Wiedererinnerns von Kindheitstraumata gibt, sind wichtige Fragen noch nicht geklärt. Während Einigkeit besteht, dass traumatische Erinnerungen vergessen werden können, gibt es gegenwärtig keinen Konsens darüber, wie eine vergessene oder verdrängte Erinnerung wieder auftauchen kann und ob traumatische Erinnerungen anders prozessiert werden.⁹ Eines der Hauptargumente gegen die Annahme eines besonderen traumatischen Gedächtnisses besteht darin, dass der wesentliche Inhalt traumatischer Ereignisse in der Mehrzahl der Fälle sehr wohl mittels des autobiografischen Gedächtnisses erinnert wird. Vergessen und verzerrt werden in der Regel periphere Details (Schacter, 1996). Das gilt auch für frühe Erinnerungen, die bis ins dritte Lebensjahr zurückreichen können. Terr (1991) stellt fest, dass vor allem bei einmaligen Kindheitstraumata besonders deutliche und detaillierte Erinnerungen vorhanden sind, während bei länger dauernden und wiederholten traumatischen Erlebnissen Erinnerungslücken und Amnesien auftreten.

    Eine Rekonstruktion von traumatischen Erfahrungen aus wieder auftauchenden sensorischen Eindrücken, Bildern, Enactments und affektiven Zuständen durch die Therapeutin oder den Therapeuten, die dann bei Patientinnen und Patienten Erinnerungen an vergessene sexuelle Missbrauchserfahrungen hervorrufen, ist, wenn sie nicht durch außertherapeutische Bestätigungen abgesichert wird, mit vielen Unwägbarkeiten und fraglichen Annahmen verbunden: (1) Es kann keine genaue Passung zwischen dem expliziten, autobiografischen und dem impliziten Gedächtnis geben. (2) Das Gedächtnis ist anfällig für suggestive Beeinflussungen, die gar nicht bewusst ausgeübt werden müssen. (3) Die Feststellungen von Brenneis (1997) als auch von Fonagy und Target (1997), dass es für keine der in der psychoanalytischen Literatur berichteten Wiedererinnerungen von sexuellem Missbrauch darüber hinausgehende außertherapeutische Bestätigungen gebe, sind umstritten (vgl. dazu auch Good, 1994). Kluft (1999) widerspricht dem entschieden und verweist unter anderem auf eigenes publiziertes Fallmaterial, zu dem es solche Bestätigungen gebe. (4) Sehr fraglich sind auch einige Annahmen, auf die Therapeuten in psychoanalytischen Fallberichten mit aufgedecktem sexuellem Missbrauch die Glaubwürdigkeit gründen. Traumatischen Erinnerungen wird darin eine besondere Qualität zugeschrieben, die es ermögliche, ihre historische Realität zu erkennen. Diese Besonderheit finden Davies und Frawley (1994) in den dissoziativen Zuständen:

    »Der Therapeut muss die dissoziativen Zustände, in die der Patient während der Behandlung kommt, annehmen, mit ihnen arbeiten und sie sogar fördern, denn durch diese Zustände enthüllt sich die Wahrheit« (S. 94, eigene Übersetzung, W. B.).

    Für Person und Klar (1994) sind die intensive affektgeladene Qualität dieser Erinnerungen, ihre visuelle und sensorische Form sowie ihre Unveränderbarkeit Kennzeichen dafür, dass die Erinnerungen wirklichkeitsgetreu sind. Solche Annahmen können zu illusorischen Schlussfolgerungen führen, insbesondere wenn keine alternativen Hypothesen geprüft werden. Therapeut/-in und Patient/-in einigen sich dann darauf, dass bestimmte Erinnerungen authentisch sind, während es sich in Wirklichkeit um Deckerinnerungen handelt (vgl. Good, 1994, 1998). Die Sachlage, dass es vermutlich kein spezifisches traumatisches Gedächtnis gibt, dessen Inhalt eine größere Nähe zur historischen Realität aufweist, kann auch dazu verleiten, sich ganz von der historischen Realität zurückzuziehen und sich mit der Annahme zu begnügen, dass sich hinter den »Recovered Memories« nur eine psychische Realität befinden kann. In der Zwischenzeit scheint sich aber aufgrund weiterer Untersuchungen mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass Kindheitserinnerungen zwar fehlbar sein können, aber der Kern der Erlebnisse meist sehr genau erinnert wird, besonders bei belastenden und traumatischen Kindheitserfahrungen (Hardt u. Rutter, 2004; Fonagy, 2008; Leuzinger-Bohleber, 2008).

    Wie steht es aber ganz allgemein um Erinnerungen an Traumata, die sich vor dem dritten Lebensjahr ereigneten? Nach Terr (1988) ist der Zeitpunkt von 28 bis 36 Monaten der Wendepunkt, ab dem Kinder ihre Erfahrungen vollständig verbalisieren können, wobei bei Mädchen die Schwelle etwas früher liegt als bei Jungen. Lange Zeit gab es keine verlässlichen empirischen Daten zu Traumatisierungen in der frühen Kindheit. Zwar stießen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in der Folge von Freuds Behandlung des Wolfsmannes, der im Alter von 18 Monaten den sexuellen Verkehr der Eltern beobachtet hatte und sich daran erinnerte, immer wieder auf traumatische Ereignisse in der Frühzeit der Patienten, aber genaues Wissen über diese Ereignisse war nicht verfügbar. Dazu gehörte auch die Frage, ob, wie und wie genau solche sehr frühen Traumatisierungen erinnert werden können. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Forschungslage dazu verändert.

    Die kognitive Unreife von Kleinstkindern schließt nicht aus, dass sie Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis ausbilden. Zumeist sind es implizite Erinnerungen, die sich danach über längere Zeiträume hinweg im Verhalten niederschlagen und sich in Enactments oder im Spiel wiederholen. Es handelt sich dabei mehr um ein Wiedererleben als um ein Erinnern, meist ausgelöst durch Trigger aus der Umgebung des Kindes. Terr (1985, 1988) betont, dass in dieser Frühzeit ein traumatisches Ereignis sich am stärksten in einem visuellen Eindruck niederschlägt, der wie ins Gehirn »eingebrannt« sein könne und Bestand habe sowie die Tendenz, sich wieder aufzudrängen, wenn Stimuli an das traumatische Ereignis erinnern.

    Coates und Gaensbauer (2009), Gaensbauer (1995) sowie Gaensbauer und Jordan (2009) fanden bei Kleinkindern zwischen sieben und 15 Monaten weitere sensorische Repräsentationen eines traumatischen Ereignisses jenseits des Visuellen wie Geräusche, Berührungsempfindungen oder auch kinästhetische Eindrücke, die alle über einen gewissen Zeitraum Bestand hatten. Zwar muss man davon ausgehen, dass diese frühen Erinnerungen in späteren Entwicklungsphasen, dem Alter und den kognitiven Möglichkeiten entsprechend, überarbeitet oder auch verändert werden, doch bleibt darin die frühe Erinnerung in der einen oder anderen Form erhalten. In der Behandlung von solchen traumatisierten Kleinkindern fand Gaensbauer, dass diese Kinder in den Re-Enactments des Traumas im Spiel zielgerichtet versuchten, das zu kommunizieren, was ihnen zugestoßen war. Dabei scheint es auch keine absolute Trennung zwischen einer nonverbalen und einer verbalen Darstellungsweise zu geben. Das explizite Gedächtnis scheint also schon weit früher zumindest rudimentär verfügbar zu sein als allgemein angenommen. Sobald diese Kinder über Worte verfügten, war jedes von ihnen in der Lage, die nonverbalen Repräsentationen mittels Worten sozusagen zu überschreiben. Zur Zeit des traumatischen Geschehens muss also nicht unbedingt die Verbalisierungsfähigkeit gegeben sein, damit es später verbal zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Gründe dafür, weshalb traumatische Erinnerungen in dieser Weise behalten werden können, sind noch nicht klar. Gaensbauer vermutet einen Zusammenhang mit der Ausschüttung von Stresshormonen während des traumatischen Ereignisses. Pretorius (2009) hatte einen zu Beginn der Therapie sechsjährigen Jungen vier Jahre lang in psychoanalytischer Behandlung, der sich im Laufe der Behandlung erstaunlich genau daran erinnern und beschreiben konnte, wie sein Vater ihn, als er 18 Monate alt war, entführt hat, nachdem er im Beisein des Kindes die Mutter ermordet hatte.

    Kriegsneurosen

    Auf dem internationalen psychoanalytischen Kongress 1918 in Budapest fand ein Symposium zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen statt mit Beiträgen von Sándor Ferenczi, Karl Abraham, Ernst Simmel und Ernest Jones, die mit einer Einleitung von Sigmund Freud 1919 veröffentlicht wurden. Freud (1919d) spricht darin von einem Ichkonflikt zwischen dem friedlichen und dem neuen, kriegerischen Ich. Ersteres fühlt sich durch die Wagnisse des Letzteren in seinem Leben bedroht. Durch diese »Ichgestaltung« wird das Gefürchtete, das bei den traumatischen Neurosen eine äußere Gewalt ist, zu einem »inneren Feind«. Abraham Kardiner hat nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges seine Erfahrungen und Beobachtungen in der Behandlung von Kriegsveteranen aus dem Ersten Weltkrieg neu bewertet und 1941 veröffentlicht. Den Kern der traumatischen Neurose bildet danach eine Physioneurose mit einer chronifizierten extremen physiologischen Erregung. Weitere Kennzeichen sind eine Fixierung an das Trauma mit einer veränderten Konzeption des Selbst in der Beziehung zur Welt,

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