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Versöhnung: Soteriologische Fallstudien
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Versöhnung: Soteriologische Fallstudien
eBook721 Seiten9 Stunden

Versöhnung: Soteriologische Fallstudien

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Über dieses E-Book

Der neunte Band der Reihe "Studium Systematische Theologie" bietet historische und systematische Informationen zur Soteriologie. Der biblische Ansatz wird anhand einer Gegenüberstellung des adamitischen Sündenfalls und der Höllenfahrt Jesu Christi identifiziert und insbesondere am paulinischen und johanneischen Kerygma expliziert. Als exemplarische Repräsentanten altkirchlicher Soteriologie des Ostens fungieren Athanasius und Maximus Confessor; für die klassische Tradition des mittelalterlichen und reformatorischen Westens stehen Anselm und Abaelard, Luther und Calvin. Die Darstellung neuzeitlicher Kritik von Stellvertretung und Satisfaktion beginnt mit den Sozinianern, die den weiteren Gang der Entwicklung bis zu Kant und darüber hinaus entscheidend bestimmen. Der Band schließt mit einer Skizze von Grundzügen einer aktuellen theologia crucis und einer inkarnationstheologisch fundierten Erlösungslehre, welche in den rechten theoretischen und praktischen Umgang mit den Aporien von Übel und Bosheit einzuweisen vermag.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Aug. 2015
ISBN9783647997100
Versöhnung: Soteriologische Fallstudien
Autor

Gunther Wenz

Gunther Wenz ist em. Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU und Leiter der Wolfhart-Pannenberg Forschungsstelle an der Hochschule für Philosophie in München.

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    Buchvorschau

    Versöhnung - Gunther Wenz

    1. Adamitischer Sündenfall und Höllenfahrt Jesu Christi. Zum Ansatz biblischer Soteriologie

    Lit.: Chr. Auffarth / L. T. Stuckenbruck (Ed.), The Fall of the Angels, Leiden / Boston 2004. – V. Bachmann, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1 Hen 1–36), Berlin / New York 2009. – A. Bedenbender, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, Berlin 2000. – C. Breytenbach, Grace, Reconciliation, Concord. The Death of Christ in Greco-Romans Metaphors, Leiden / Boston 2010. – J. Ch. Edwards, The Ransom Logion in Mark and Matthew. Its Reception and Its Significance for the Study of the Gospels, Tübingen 2012. – J. Frey / J.Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen (2007) ²2012. – H. Gunkel, Genesis, Göttingen ⁹1977. – F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums; Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002. – S. Hegger, Sperare contra spem. Die Hölle als Gnadengeschenk Gottes bei Hans Urs von Balthasar, Würzburg 2012. – M. Herzog, „Descencus ad inferos." Eine religionsphilosophische Untersuchung der Motive und Interpretationen mit besonderer Berücksichtigung der monographischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. – Ders. (Hg.), Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos, Stuttgart 2006. – W. Klaiber, Jesu Tod und unser Leben. Was das Kreuz bedeutet, Leipzig 2011. – E. Koch, Art. Höllenfahrt Christi, in: TRE 15, 455–461. – D. Korsch, Das Kreuz Jesu Christi und das Heil der Menschen, in: Luther 84 (2013), 159–167. – A. Y. Reed, Fallen Angels and the History of Judaism and Christianity. The Reception of Enochic Literature, Cambridge 2005. – M. Rese, Die Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apostelgeschichte – ältestes Kerygma oder lukanische Theologumena?, in: NTS 30 (1984), 335–353. – R. M. Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. ⁶1993. – G. Rödding, Descendit ad inferna, in: W. Blankenburg u. a. (Hg.), Kerygma und Melos, Kassel u. a. 1970, 95–102. – J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen 1977. – M. Schrader, Rilke, Rainer Maria (1875– 1926), in: TRE 29, 208–214. – St. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, in: ZNW 97 (2006), 88–110. – J. Schröter, Der Heilstod Jesu – Deutungen im Neuen Testament, in: Luther 84 (2013), 139–158. – N. Slenczka, Wer sich selbst recht versteht, muss nach Sühne fragen, in: Luther 84 (2013), 168–178. – A. Weiß, Christus Jesus als Weihegeschenk oder Sühnemal? Anmerkungen zu einer neueren Deutung von hilasterion (Röm 3,25) samt einer Liste der epigraphischen Belege, in: ZNW 105 (2014), 294–302. – G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. 2 Bde., Berlin / New York 1996/98. – C. Westermann, Genesis I, Neukirchen-Vluyn 1974. – U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilband 1: Das Fundament, Neukirchen 2007. – A. T. Wright, The Origin of Evil Spirits. The Reception of Genesis 6.1–4 in Early Jewish Literature, Tübingen 2005.

    Wächterbuch des äthiopischen Henoch

    Dass es auf Erden zahlreiche schöne und reizvolle Geschöpfe von Evas Geschlecht gibt, entging auch den Söhnen des Himmels, den Engeln, nicht. Sie „sahen sie und begehrten sie und sprachen zueinander: ‚Auf, wir wollen uns Frauen aus den Menschenkindern wählen und uns Kinder zeugen!‘ (Äth. Hen. 6,1) So steht es geschrieben im Buch des sog. äthiopischen Henoch, näherhin in den Anfangskapiteln seines Wächterbuch genannten Teils (Äth. Hen. 1–36), das die meisten Fachleute in das 3. Jhd. v. Chr. datieren. Insgesamt zweihundert Himmelssöhne sollen unter Anführung ihres Obersten namens Semyaza alias Shemihazah (vgl. Wright, 118 ff.) vor Zeiten ihrer Begierde gefolgt, herabgestiegen oder zutreffender: abgefallen sein, um sich Frauen zu nehmen, „zu ihnen einzugehen und sich mit ihnen zu vermischen (Äth. Hen. 7,1). Aus der unzüchtigen und verunreinigenden „Vermischung" der verschworenen und durch Verwünschungen einander verpflichteten Engelsbande (vgl. Äth. Hen. 6,3 ff.) mit den reizenden Menschentöchtern gingen entartete Mischwesen hervor. Die Gier der abartigen Ungeheuer war riesig, und sie vermehrte sich immerzu. Sie fraßen zunächst den menschlichen Ernteertrag, den die Kultivierung der Erde erbracht hatte, dann die Menschen und schließlich sich gegenseitig auf.

    Das Oberste wurde zuunterst und das Unterste zuoberst gekehrt, so dass alles in ein chaotisches, ebenso kreatur- wie gottwidriges Durcheinander geriet: „Und die Welt veränderte sich (Äth. Hen. 8,1) fortschreitend zum Schlechten, ihre Bewohner „gingen in die Irre, und all ihre Wege wurden böse (Äth. Hen. 8,2). Die Schöpfung befand sich im „Ausnahmezustand (vgl. Bachmann), und die gute und gerechte Ordnung in ihr war in Auflösung begriffen. „Da klagte die Erde über die Frevler (Äth. Hen. 7,6), und die Schreie der Opfer des Unrechts drangen zum Himmel (vgl. Äth. Hen. 8,4). Sie blieben nicht unerhört. Die guten Engel, die im Himmel verblieben und ihn nicht verlassen hatten, allen voran die Erzengel Michael, Uriel, Rafael und Gabriel, bringen die Klagen vor Gott, der um alles weiß. Der Herr Himmels und der Erde befiehlt, dem Bösen Einhalt zu gebieten, seine satanische Macht zu bändigen und den Teufel in Ketten zu legen an einem Ort lichtloser Finsternis, um ihm am Tage des Gerichts den definitiven Garaus in der Glut eschatologischen Feuers zu bereiten. Der von seiner Gefolgschaft, den gefallenen Engeln, verdorbenen Menschenwelt aber wird Heil durch Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit verheißen, damit Gottlosigkeit, Sünde, Gewalttat etc. zu Ende kommen und Menschheit und Welt ihrer kreatürlichen Bestimmung zugeführt werden.

    Es ist nicht nötig, alle Details des protologischen und eschatologischen Dramas nachzuzeichnen, wie es das Wächterbuch schildert. Entscheidend ist, dass es im Kontext sowohl der Genese des Bösen als auch seiner schließlich erfolgenden Überwindung um ein Zusammenwirken von Macht und Unrecht bzw. Macht und Gerechtigkeit geht. Am Endsieg der göttlichen Macht der Gerechtigkeit ist nicht zu zweifeln. Er ist gewiss; auf die Bekräftigung dieser Gewissheit ist die gesamte Wächtergeschichte angelegt und zwar von Anfang an. Gleichwohl wird die Mächtigkeit des Bösen so stark gemacht, dass ihr alles Irdische verfallen und unterliegen müsste, würde Gott nicht mittels seiner himmlischen Heerscharen eingreifen und Recht und Ordnung wiederherstellen und zur Durchsetzung bringen.

    Man hat gesagt, dass in der Wächtergeschichte für den Einbruch des Bösen in die Welt und die folgenschwere Störung ihrer Ordnung die Untat der gefallenen Engel verantwortlich sei, wohingegen „die Menschen praktisch ausschließlich als Opfer der Engelstaten gezeichnet (Bachmann, 66 f.) würden. Richtig daran ist, dass die Initiative zum Bösen von Geistwesen ausgeht, die ihrer Bestimmung nach der überirdischen Sphäre zugehören. Alles Böse scheint in Verkehrung des geläufigen Sprichworts von oben und nicht etwa von unten zu kommen, wie man vermuten möchte. In der Tat lässt sich nur so seine Macht und abgründige Dimension erklären. Sein Unwesen besteht in einer geistigen Perversion, worauf seine himmlische Herkunft bzw. seine Rückführung auf einen Engelsfall verweist. Allerdings vollzieht sich der Fall der Söhne des Himmels nicht ohne Bezug auf Regungen, wie sie durch sinnliche Reize, im gegebenen Fall durch die reizenden Menschentöchter hervorgerufen werden. Dabei ist es zweitrangig, ob diese ihre Reize bewusst und willentlich zum Einsatz brachten, so dass von einer Verführung der Engel zu reden wäre, wie u. a. von der Stelle Äth. Hen. 19,2 („Frauen, die die Engel verführten) nahegelegt wird. Entscheidend ist, dass der Fall des Bösen durch eine in der geistigen Sphäre statthabende Beziehung von Geist und Sinnlichkeit motiviert ist und aus einer Gemengelage heraus entsteht, deren momentane Zweideutigkeit sich in dem Augenblick zum eindeutig Schlechten wandelt, in welchem der Reiz zu jener Begierde wird, welche Anlass gibt, unter Verwünschungen und der Beschwörung der Unumkehrbarkeit des eingeschlagenen Weges den Himmel hinter sich zu lassen.

    Abartige Paarung

    Was die Menschentöchter betrifft, so sind sie ob nun als Verführende, Verführte oder in ihrer Schwäche Überwältigte in den Fall der Engel distanzlos hineingezogen und auf unheilschwangere Weise von ihm ergriffen. Die verheerenden Folgen der abartigen Paarung treten alsbald zutage: scheußliche Wesen kommen auf die Welt, die Überirdisches und Irdisches auf widerwärtige Weise in sich vereinen und deren blinde und maßlose Gier ihren Geist und ihre Sinne gleichermaßen pervertiert mit der Konsequenz, dass sie nicht nur alles, was human zu nennen ist, sondern auch sich selbst zu destruieren trachten. Was es mit der Macht und dem Unrecht des Bösen in der Welt des Menschen auf sich hat, wird an den Missgeburten, die aus der falschen Verbindung von Göttersöhnen und Menschentöchtern hervorgingen, ersichtlich: ihre Unmenschlichkeit hat teuflische Ausmaße. Genau so verhält es sich mit dem, was die Hamartiologie Sünde nennt. Sie ist eine Ausgeburt des Menschen, die aus einer verkehrten Beziehung zwischen seinem Diesseits und seinem Jenseits hervorgeht. Dadurch wird alles durcheinandergebracht, die Ordnung der Schöpfung korrumpiert und das Unrecht mit einer Macht versehen, die Schuld und Verhängnis koinzidieren lässt.

    Zur Geschichte von Rebellion und Fall der Engel, die Menschenfrauen schwängern, so dass diese entartete Ungeheuer gebären, die wie ihre Erzeuger nichts als Böses und Unheil stiften, lassen sich im jüdischen Schrifttum aus hellenistischrömischer Zeit nicht wenige vergleichbare literarische Parallelen auffinden. „The story of the angels’ fall occurs in its most complete form in the literature of Jewish apocalyptic circles that popularised it during the Second Temple period. (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) In Erinnerung zu bringen ist ferner, ohne dass über traditionsgeschichtliche Zusammenhänge näher zu befinden wäre (vgl. im Einzelnen Wright; Reed), „one of the most cryptic and obscure narratives of the Hebrew Bible (Auffarth, Stuckenbruck [Ed.], 11), nämlich die eigentümliche Erzählung von der Verbindung zwischen Göttersöhnen und Menschenfrauen in Gen 6,1–4.

    Das Stück ist, wie H. Gunkel zu Recht vermerkt, „ein Torso (Gunkel, 59) und „kaum eine Geschichte zu nennen (ebd.). Es beginnt mit der lakonischen Feststellung: „Als sich die Menschen über die Erde hin zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen Frauen, wie es ihnen gefiel." (Gen 6,1 f.) Bezüge zu Äth. Hen. 6,1 f. drängen sich auf und das umso mehr, als in Gen 6,4 auch von nephilim, also Riesen, die Rede ist, ohne dass sie allerdings mit den Kindern identifiziert würden, die aus der gottmenschlichen Vereinigung hervorgingen. Fraglich ist ferner, ob die mit Menschenfrauen verkehrenden Gottessöhne mit Engeln gleichzusetzen sind. Folgt man der Auslegung von C. Westermann (vgl. Westermann, 491 ff.), dann handelt es sich bei ihnen nicht um geschaffene Engelwesen, sondern um vollwertige Götter. Als umso ungeheuerlicher und greulicher musste der aus paganer Umwelt stammende Mythos in Israel erscheinen.

    Rezipiert worden ist die schauderhafte Geschichte vom sog. Jahwisten gemäß Westermann überhaupt nur als Ätiologie der von Jahwe verfügten Befristung menschlicher Lebenszeit, die just mit jener als grundverkehrt qualifizierten Vermischung von Göttlichem und Menschlichem begründet werde. „Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen." (Gen 6,3) Um der Indifferenzierung von Göttlichem und Menschlichem, wie sie sich in der mythischen Ehe vollzieht, zu wehren und den unaufhebbaren Unterschied von Schöpfer und Geschöpf einzuschärfen, beschränkt Jahwe die Zeit des menschlichen Lebens auf ein Dutzend Jahrzehnte, was nicht zuletzt als Strafe für die vorangegangene Beziehung von Gottessöhnen und Menschentöchtern gedeutet werden kann. Wie immer es sich mit dem schwierigen Text im Einzelnen verhalten mag: Seine harmatiologische – wie im Äth. Hen. auf die Sintflutgeschichte ausgerichtete – Pointe besteht offenbar in der Aussage, dass die Schuld strafwürdiger Sünde mit einer verhängnisvollen Indifferenzierung des Unterschieds von Gott und Mensch bzw. mit einer abgründigen Verkehrung des Gott-Mensch-Verhältnisses zu tun hat.

    Die Sünde steht in einem Verhältnis sowohl zum Göttlichen als auch zum Menschlichen und hat, wenn man so will, an beidem Teil, jedoch auf dergestalt grundverkehrte Weise, dass die durch die Schöpfung vorgesehene Ordnung dieses Verhältnisses ins widrige Gegenteil gewendet wird. Eben dies macht die Abgründigkeit des Falls der Sünde aus, von der die Menschheit auf ebenso verhängnisvolle wie schuldhafte Weise ergriffen wird. Schuld und Schicksal sind in dem, was theologisch Sünde heißt, zwieträchtig verbunden, ohne dass diese Zwietracht nach einer Seite hin aufgelöst werden könnte. Es bedarf religiöser Wahrnehmung, um dies einzusehen, was für den Theoriestatus der Hamartiologie nicht folgenlos bleiben kann. Ihr kritisches Verständnis wird sich u. a. an dem Verhältnis zu mythologischen Überlieferungen wie demjenigen vom Engelsfall zu bewähren haben. „The fall of the angels was attractive because of the solution it offered for the problem of evil. Since the introduction of evil is attributed to rebellious angels, God is not directly blamed for the miseries of human life. Neither are human beings considered guilty in and of themselves." (Auffarth / Stuckenbruck [Ed.], 1) Eine rationalistische Behebung des Problems des Bösen und sei es in mythischer Form kann hamartiologisch nicht infrage kommen. Wenn sich die Sündenlehre des Mythos bedient, dann nur, um genau jenes grundverkehrte Verhältnis aufzuklären, das im Falle der Sünde durch selbst verschuldetes Verhängnis zwischen Göttlichem und Menschlichem waltet.

    Descensus ad inferos

    Wie die Hamartiologie hat sich auch die christliche Soteriologie mythologischer Vorstellungen bedient, um die unermessliche Tiefe der in Jesus Christus offenbaren, aus dem höllischen Abgrund des Sündenfalls errettenden Gnadenliebe Gottes zum Ausdruck zu bringen. Zu nennen ist hier vor allem die Annahme eines descensus ad inferos bzw. ad inferna, einer Höllenfahrt Christi, die auf ihre Weise derjenigen des sündenverfallenen Engelssturzes korrespondiert, freilich im Modus des Widerspruchs und der hilfreichen Entgegnung. Obwohl wesentlich älteren Datums und sowohl im Osten wie auch im Westen längst bekannt, findet sich die Vorstellung als expliziter Glaubensartikel erstmals in der sog. Vierten Symbolformel der Synode von Sirmium aus dem Jahr 359. Im Nizänokonstantinopolitanum und im altrömischen Symbol als der Vorform des Apostolikums fehlt das Bekenntnis zum Abstieg Christi ins Inferno noch; erst im Laufe des 4. oder 5. Jahrhunderts hat es Eingang ins apostolische Glaubensbekenntnis gefunden. Die Textvarianten ad inferna bzw. ad inferos begegnen zeitig und seit dem 16. Jahrhundert zumeist in konfessionsspezifischer Verteilung, sind aber inhaltlich kaum von Bedeutung. Schwerer wiegt das Problem ihrer angemessenen Übersetzung ins Deutsche. Lange Zeit wurde die Wiedergabe mit „niedergefahren bzw. abgestiegen zur Hölle bevorzugt. Inzwischen ist die Formel „hinabgestiegen in das Reich des Todes üblich geworden. Sie steht einerseits dem Ursprungssinn der Einfügung näher, in der man zunächst lediglich „eine Verstärkung und Auslegung des sepultus sah" (Rödding, 97), vorgenommen möglicherweise in antidoketischer Absicht. Andererseits ist sie blasser als die Rede von der Höllenfahrt, die ungleich abgründigere Dimensionen erschließt als die konventionelle Rede von einem Abstieg Christi ins Totenreich.

    Der Interpretationsvorgang, „der aus der ursprünglichen Hadesfahrt eine Höllenfahrt werden ließ (Rödding, 100), ist schwierig zu rekonstruieren. Wahrscheinlich ist die Entwicklung durch die für die jüdisch-christliche Tradition charakteristische Einsicht veranlasst, dass das Strafgericht über die Sünde schlimmer ist als der Tod; unter diesen Bedingungen bedurfte es abgründigerer Vorgänge als einer bloßen Fahrt ins Totenreich, wie sie in vielen paganen Traditionen überliefert ist. Wer sich für Unterweltsfahrten in außereuropäischen Religionen, für das Katabasismotiv in der vorchristlichen Mythenliteratur der europäischen Antike bei Homer, Vergil oder Cicero, für inszenierte Höllenreisen im geistlichen „Drama des Mittelalters oder für künstlerische Verarbeitungen des Themas in Neuzeit und Moderne interessiert, der greife zu dem von M. Herzog herausgegebenen Sammelband „Höllen-Fahrten", der eine Fülle von thematisch Wissenswertem einschließlich tiefenpsychologischer Reflexionen enthält. Für die Genese und Ausgestaltung der Descensuslehre in der Theologie des christlichen Abendlands ist insbesondere der Beitrag von W. Beinert einschlägig (vgl. Herzog [Hg.], 53–86).

    Zwischen Karfreitag und Ostern

    Terminiert wird der descensus ad inferos bzw. ad inferna zwischen Karfreitag und Ostern. In der Alten Kirche wurde das Geschehen häufig als militärische Expedition geschildert (vgl. Herzog, 97 ff.; ferner Koch). Christus führt einen Unterweltkrieg, um seine Macht über Tod und Teufel zu demonstrieren. Dabei tritt er entweder als Einzelkämpfer oder mit einem ganzen Engelheer auf, als dessen Feldherr er fungiert. Als Waffe setzt er vorrangig sein Kreuz ein, um den altbösen Feind und seine Teufelshorden zur Strecke zu bringen und aus der satanischen Festung die Gefangenen siegreich heraufzuführen. Neben dem Kampfmotiv begegnet das Gerichtsmotiv, demzufolge Christus in der Unterwelt der Gerechtigkeit Gottes Geltung verschafft und dem Unrecht seine Grenzen aufgezeigt hat. Die Vorstellungen darüber, wie dies geschah, gehen im Einzelnen auseinander. Mit einer Befreiung von den Rechtsfolgen unverschuldeten Unglaubens wird ebenso gerechnet wie mit Gnadenakten und Strafamnestien durch den Gerichtsherrn. Ob es in der Descensusfolge auch einen Erlass ewiger Höllenstrafen geben könne, war notorisch strittig. „Tendenziell hat die östliche Kirche den Aspekt der uneingeschränkten Barmherzigkeit und der absoluten Freiheit Gottes, die Sünder von Strafen zu amnestieren, stärker betont, während die lateinische Kirche größeres Gewicht auf die göttliche Gerechtigkeit im Sinne des Vergeltungsgedankens legte." (Herzog, 151)

    Kampf- und Gerichtsmotiv bilden in der altkirchlichen Descensusüberlieferung keinen Gegensatz; zielt die militärische Aktion doch stets auf die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit. Namentlich sie hat der gottmenschliche Held auf seine Fahne geschrieben. Auch für den zweiten Haupttyp der Descensusvorstellung bleibt der Gerechtigkeitsgedanke grundlegend, nun freilich so, dass der Gerechte nicht als Held und Richter, sondern als Gerichteter und als derjenige vorstellig wird, der stellvertretend die göttliche Strafe für die Sünde des Menschen bis hin zur resignatio ad infernum erduldet. In Luthers Kreuzestheologie steht die Descensusvorstellung für die unausdenkliche Abgründigkeit des Passionsgeschehens. Christus ist wirklich zur Hölle gefahren und hat in äußerster Konsequenz seines Strafleidens Höllenpein erlitten.

    Nach Maßgabe der Interpretation M. Herzogs unterscheidet sich Luthers Descensus-Ansatz „von der altkirchlichen und mittelalterlichen Tradition in zwei markanten Punkten: a) Jesus Christus erscheint als passiver Leidensknecht, nicht als in der Unterwelt souverän handelnder Triumphator und Befreier der Gerechten des Alten Bundes. b) Luther hat diese Höllen-,Fahrt‘ in die irdische Passion Jesu vordatiert und vom Ort der Hölle auf den Kalvarienberg verlegt; das Durchleiden der Höllenpein am Kreuz hat er einen ‚descensus ad inferos spiritualis‘, eine geistliche Höllenfahrt, genannt. Die Höllenfahrtslehre wird damit zu einem Thema der Kreuzestheologie. Diese Position hat", so Herzog, „der Reformator Johannes Calvin übernommen; sie wird fortan von der Genfer reformierten Theologie vertreten. Man könnte diese Position den strafleidenstheoretischen Spiritualismus in der Descensustheologie nennen. Sie hat den großen Vorzug, dass sie die Kosmologie des dreistöckigen Weltbildes der alten Kulturen nicht zur Voraussetzung hat. Zugleich hatte Luther aber auch einen Lehrtypus entwickelt, den man als den strafleidenstheoretischen Realismus bezeichnen könnte, der ebenso wie die mittelalterliche Theologie im Rahmen des dreistöckigen Weltbilds argumentiert. Diese Position unterscheidet sich von der erstgenannten durch folgende Akzentverschiebung: Jesus hat die Höllenpassion nicht nur am Kreuz auf Golgatha, sondern auch in der Unterwelt, am Ort der Hölle selbst, erlitten. Eben diese realistische Strafleidenstheorie der Höllenfahrt ist im 16. Jahrhundert zu einem Gegenstand verschiedener Lehrstreitigkeiten geworden: in Freising und Naumburg, in Hamburg, teils auch in Greifswald. Ihre Gegner auf katholischer Seite haben versucht, die Strafleidenstheoretiker als ‚Verzweifler‘ und ‚Höllen-Creutziger‘ in Verruf zu bringen." (Herzog [Hg.], 110)

    Ob die typologische Unterscheidung zwischen einem strafleidenstheoretischen Spiritualismus und Realismus der Descensustheologie Luthers angemessen ist, bleibe dahingestellt. In jedem Fall zutreffend ist Herzogs Bemerkung, wonach das Descensusmotiv nachgerade in seiner Gestaltung durch Luther „zur allerletzten Radikalität der Inkarnation und im gleichen Moment zu begründeter Grenzenlosigkeit der Hoffnung (Herzog [Hg.], 85) führt. Extremer inkarnatorischer Radikalismus findet sich im Übrigen nicht nur in der lutherischen Ausgestaltung des Descensusmotivs. Sein Kreuzestod, sagt Papst Gregor der Große, habe Jesus Christus nicht nur ins Grab sinken, sondern in Tiefen versinken lassen, „die noch unter der Hölle liegen: ‚Inferno profundior‘ sei er gewesen (Herzog [Hg.], 84 unter Verweis auf Gregor d. Gr., Moralia 10,9), wird gesagt. Auch Nikolaus von Kues spricht in Bezug auf die Leiden des Gekreuzigten von „dolores inferni (vgl. Herzog, 170). Vergleichbar argumentiert Luther, der „in einigen Vorlesungen die Höllenfahrt … als stellvertretende Übernahme der Höllenstrafen (Herzog [Hg.], 109) deutet. Dabei konnte er seine Auffassung dahingehend zuspitzen, „dass Christus in die existentiellen Tiefen der Höllenverdammnis hinabgestiegen sei, das heißt, dass er die Verzweiflung der Verdammten geteilt habe" (Herzog [Hg.], 109 f.).

    Erniedrigung und Erhöhung

    Das Descensusmotiv begegnet in der Christentumsgeschichte in zwei Varianten. Der zur Hölle fahrende Jesus Christus wird entweder als handelnder Triumphator vorstellig, der den Abgeschiedenen das Evangelium verkündet, um sie aktiv aus ihrem Verließ zu befreien, oder als Leidender, der Höllenqualen im Dienste stellvertretender Sühne in tiefster Erniedrigung passiv erduldet. Während das Christus-victor-Motiv das ältere ist und in der Geschichte der Thematik dominiert, ist die Deutung des descensus als abgründigste Form der Passion erst später und „vor allem in der ‚theologia crucis‘ Martin Luthers belegt" (Herzog, 5). Ein eindeutiger dogmatischer Entscheid für einen der beiden Haupttypen, die u. a. den Höllenfahrtsstreit um Johannes Aepinus in der Mitte des 16. Jahrhunderts bestimmten (vgl. FC IX; dazu Wenz II, 712 ff.), ist weder möglich noch nötig, da sie unbeschadet ihrer Unterschiedlichkeit auf keinen Gegensatz hinauslaufen müssen, sondern sich soteriologisch ergänzen können. Auch das Zeugnis der Hl. Schrift legt einen Alternativentscheid nicht nahe, ganz abgesehen davon, dass biblische Belege für einen descensus Christi ohnehin rar sind (vgl. Herzog, 37 ff.). Als dictum probante fungierte traditionell 1. Petr 3,18 ff. in Kombination mit 1. Petr 4,6 sowie Eph 4,8–10. Mag die erstgenannte Stelle als Beleg für die Descensusvorstellung auch nur bedingt geeignet sein, so gibt sie doch Hinweise für ihre rechte christliche Deutung.

    Der Text 1. Petr 3,18–22 gehört zu den zentralen soteriologischen Aussagen des auf den Apostel Petrus zurückgeführten Schreibens. Der Einsatz wird mit der an 1. Petr 2,21b anschließenden Feststellung genommen, dass Christus der Sünden wegen ein für allemal gelitten habe und gestorben sei und zwar als der Gerechte für die Ungerechten, „um euch hinzuführen zu Gott (18c). Der anschließende Zweizeiler bekennt: „Er wurde getötet dem Fleische nach und lebendig gemacht im Geist. (18d.e) Dann wird der universale Heilscharakter des Geschehens von Kreuzestod und Auferstehung geltend gemacht und gesagt, dass der gekreuzigte und auferstandene Herr hingegangen sei, um den, wie es heißt, Geistern im Gefängnis zu predigen (19). Gedacht ist, wie V. 20 zeigt, „an die als extrem sündig und verloren angesehene Sintflutgeneration (Hahn I, 415). Damit ist zum Ausdruck gebracht, „daß selbst die schlimmsten Sünder unter den Toten mit der Heilsbotschaft konfrontiert werden. In 4,6 wird dann ganz grundsätzlich gesagt, daß Christus ‚den Toten das Evangelium verkündigt hat‘ (ebd.).

    Was hinwiederum Eph 4,8–10 anbelangt, so ist die Stelle für die soteriologische Klärung des Descensusmotivs im Kontext von 1. Petr 3,18 ff. und 4,6 vor allem deshalb wichtig, weil sie die christologische Einheit von Katabasis und Anabasis klärt: „ho katabas autos estin kai ho anabas …" (10a). Der in die Tiefen der Erde Hinabgefahrene ist derselbe, der über alle Himmel erhoben ist, um das All zu erfüllen. Zur förmlichen Klärung der Identität Jesu Christi im Status der Deszendenz und der Aszendenz tritt die materiale Klarstellung hinzu, die sich aus dem Gesamtkontext ergibt: Die in den Kreuzestod und in höllische Abgründe führende Erniedrigung des Herrn geschah wie seine himmlische Erhöhung um gottmenschlicher Versöhnung willen und wegen der Rechtfertigung des Sünders vor Gott. Die Sendung Jesu Christi dient wesentlich dazu, das durch die Sünde schuldhaft verkehrte Verhältnis des Menschengeschöpfs zu Gott, Mitmensch und Welt von Grund auf zurecht zu bringen und auf diese Weise Gerechtigkeit des Sünders vor Gott zu wirken. In der Person des auferstandenen Gekreuzigten verwirklicht sich kraft des Hl. Geistes die Liebe Gottes, aber nicht in Form willkürlichen Beliebens, sondern in vollkommen gerechter Gestalt.

    Himmelssturz und Höllenfahrt

    Das eingangs zitierte Wächterbuch des äthiopischen Henoch mit seiner Erzählung von abtrünnigen Wächterengeln, die nach ihrem Himmelssturz in vorsintflutlicher Zeit auf Erden Menschenfrauen freien und mit ihnen Kinder zeugen, die sich zu ungeheuren, alles verschlingenden Riesen entwickeln und mit ihrem gottlosen Tun Sünde und Unheil in der Welt mehren, gibt – wie die gesamte Henochliteratur – zahlreiche Fragen auf, von denen diejenigen nach dem Verhältnis zur mosaischen Überlieferung und zur Thoratradition zu den sachlich wichtigsten gehören. Rechnen manche Forscher die Henochgruppen einer ursprünglich nicht mosaischen Richtung des Judentums zu, die sich, wenn überhaupt, erst im Zuge gemeinsamen Widerstands gegen den Hellenismus mit traditionell mosaischen Kreisen verbündet hätten (vgl. Bedenbender), deuten andere die Henochapokalyptik im Allgemeinen und das Wächterbuch im Besonderen „nicht als Alternativ-, sondern als Zusatzbotschaft zum bekannten, traditionellen Wissen" (Bachmann, 186). In neutestamentlich-gesamtbiblischer Perspektive ist zweifellos letzterer Deutung der Vorzug zu geben. Der Mythos vom Himmelssturz der Engel findet ebenso wie die Vorstellung einer Höllenfahrt Jesu Christi ihr Maß an dem, was in mosaischer Tradition über die Gerechtigkeit Gottes zu sagen ist, der die ihrem eigenen Abgrund verfallene Sünde richtet und zugleich im erniedrigten und erhöhten Jesus Christus kraft des Geistes der Liebe den Sünder mit sich versöhnt und rechtfertigt, der glaubt.

    Soteriologischer Grundansatz

    Die mythologischen Vorstellungen eines Höllensturzes abtrünniger Himmelswesen und des descensus ad inferos Jesu Christi enthalten wichtige Hinweise auf den grundlegenden Ansatz christlicher Soteriologie. Die Vorstellung eines Abfalls selbstsüchtig-begehrlicher Engel von Gott zeigt an, dass die Sünde nicht unmittelbar sinnlicher Herkunft, sondern der intelligiblen Sphäre entsprungen ist, mit der daraus sich ergebenden Folge einer abgründigen Verkehrung des geschöpflichen Verhältnisses von Intelligibilität und Sinnlichkeit in der Menschenwelt. Der Fall der Sünde ist transmoralisch und bodenlos. Nicht minder abgründig hat man sich den descensus vorzustellen, der dem sündigen Sturz in die Hölle kontraveniert. Die Gegenbewegung, welche die Höllenfahrt Jesu Christi zum Höllensturz der Sünde markiert, reicht ebenfalls in bodenlose Tiefen, die unermesslich sind. Die Heillosigkeit des Bösen in seiner gottwidrigen Unart kann nur überwunden werden durch den, der dem Unwesen der Sünde samt ihren höllischen Konsequenzen ausgeliefert war, ohne zu unterliegen: Durch den Gottessohn, der nicht auf die Welt kam, um Übermenschen zu zeugen, die sich als Unmenschen entpuppen sollten, sondern der selbst Mensch wurde, um gegen Tod und Teufel zu streiten und die Hölle dadurch zu überwinden, dass er sich in sie begab, um sie von innen heraus zu entmächtigen. Der christliche Glaube erkennt den Überwinder der Hölle im auferweckten Gekreuzigten, um das Kreuz des Auferstandenen als Grund und Wirkmittel des Heils zu bekennen.

    Im Crucifixus sind Erniedrigung und Erhöhung heilsam verbunden. Christi descensus ad inferos errettet aus dem abgründigen Fall der Sünde, und durch seinen Abstieg zur Hölle wird der Himmel all denen erschlossen, die sich die Rettung von Tod und Teufel gefallen lassen. „Endlich verlitten, entging sein Wesen dem schrecklichen / Leibe der Leiden. Oben. Ließ ihn. (Rilke, 843) Christi Höllenfahrt führt in Rainer Maria Rilkes gleichnamigem Gedicht hin zu jenem „wendenden Punkt (vgl. Schrader, 211 f.), der alles entscheidet: „Er, Kenner der Martern, hörte die Hölle / herheulend, begehrend Bewußtsein / seiner vollendeten Not: daß über dem Ende der seinen / (unendlichen) ihre, währende Pein erschrecke, ahne. / Und er stürzte, der Geist, mit der völligen Schwere / seiner Erschöpfung herein: schritt als ein Eilender / Durch das befremdete Nachschaun weidender Schatten, / hob zu Adam den Aufblick, eilig, / eilte hinab, schwand, schien und verging in dem Stürzen / wilderer Tiefen. Plötzlich (höher höher) über der Mitte / aufschäumender Schreie, auf dem langen / Turm seines Duldens trat er hervor: ohne Atem, / stand, ohne Geländer, Eigentümer der Schmerzen. Schwieg. (Rilke, 844) U. a. an Hans Urs von Balthasars Lehre vom descensus Christi als „Einstiftung von Gnade in die ewige Verdammnis (Hegger, 351) ließe sich erschließen, was mit den Dichterworten gemeint und gesagt ist.

    Mythos und Kreuzeslogos

    Christliche Soteriologie bedient sich mythologischer oder mythosähnlicher Vorstellungen. Ihren Ansatz aber sucht und findet sie nicht im Mythos, sondern in einem geschichtlichen Faktum, dem Kreuzestod Jesu von Nazareth, wie er sich im Lichte des Osterereignisses darstellt. Die Heilsbotschaft des Christentums ist das den Juden ärgerliche und den Heiden als töricht erscheinende „Wort vom Kreuz (vgl. 1. Kor 1,23), welches mit dem erwarteten Messias Leiden und mit der Epiphanie des Göttlichen Passion verbindet. Zwar ist nach christlichem Zeugnis dem als Logosinkarnation zu bekennenden Weltdasein Jesu Christi insgesamt Heilsbedeutung beizumessen. Die soteriologische Relevanz der Menschwerdung (vgl. Hahn II, 399 ff.) und des irdischen Wirkens Jesu Christi (vgl. Hahn II, 375 ff.) wird nicht nur in den Evangelien hervorgehoben. Dennoch hat man diese mit Recht als Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung bezeichnet (M. Kähler). Entsprechend ist die im Lichte Osterns erfolgende „Deutung des Todes Jesu … in den neutestamentlichen Texten am breitesten belegt (Hahn II, 399). In Verkündigung und Theologie der Urkirche stellen Tod und Auferstehung Jesu Christi zweifellos das „zentrale Heilsgeschehen" (Wilckens, 224) dar: Ohne Ostern kann vom Kreuz Jesu Christi nicht heilsam die Rede sein; doch gilt zugleich, dass das Osterereignis unveräußerlich bezogen ist auf das Kreuzesgeschehen, dessen theologische Bedeutung es konstituiert und offenbar werden lässt.

    In Bezug auf die christliche theologia crucis muss unterschieden werden zwischen der grundlegenden Bedeutung, die der österlichen Auferweckung und Auferstehung Jesu Christi für seinen Kreuzestod zukommt, und den einzelnen Deutungen, die diesem im Verlauf der urchristlichen Theologiegeschichte zuteil geworden sind. Die Einzeldeutungen setzen die Grundbedeutung, die Ostern dem Kreuz Jesu Christi gibt, allesamt zumindest implizit voraus. Durch die Auferweckung Jesu von Nazareth aus dem Tode ist theologisch offenbar, dass Gott ihn bestätigt und zu seiner Rechten erhöht hat, damit er durch den Geist als der Gottheit Gottes unveräußerlich zugehörig erwiesen werde. Dieser Geisterweis der ewigen Gottessohnschaft des Menschen Jesus geschieht nicht gesondert, sondern in differenzierter Einheit mit dem Selbsterweis des Auferstandenen, der sich in seiner österlichen Erscheinung selbst als der Gekreuzigte in Erinnerung bringt und als Subjekt des Gedächtnisses seines Todes fungiert. Ostern ist die Deutung des Kreuzestodes von Gott her und zugleich die Selbstdeutung, die Jesus Christus seinem Leiden und Sterben in der Kraft des göttlichen Geistes gibt. Es bedurfte einer expliziten Trinitätslehre, um den österlich-pfingstlichen Sinn des Kreuzesgeschehens in seiner theologischen Tiefendimension zu erfassen. Theologia crucis und Trinitätslehre fordern sich wechselseitig.

    Nach- und vorösterliches Kreuzesverständnis

    Das Osterereignis gehört konstitutiv zum Kreuzesgeschehen, dessen faktische Bedeutung es offenbart. „Der Sinn des Todes Jesu erschließt sich erst angesichts des Osterglaubens, erst auf dieser Grundlage ist es deshalb auch möglich, ihn als Heilstod aufzufassen." (Schröter, 147) Diese Feststellung schließt nicht aus, sondern ein, dass die österlich erschlossene Bedeutung des Kreuzestods in Beziehung steht zu derjenigen, die dem vorösterlichen, am Kreuz endenden Leben Jesu von Nazareth eignet. Zwar erscheint der österliche Herr anders als zu seinen irdischen Lebzeiten, was auch in kreuzestheologischer Hinsicht beachtet werden will; nichtsdestoweniger ist er kein anderer als der Irdische, sondern derselbe, auch wenn diese Selbigkeit in historischer Perspektive nur uneindeutig zu erfassen ist. Mit dieser Uneindeutigkeit mag es zusammenhängen, dass die Hintergründe des Prozesses, der Verurteilung und der Hinrichtung Jesu über weite Strecken im Dunkeln liegen und aus den Quellen nicht mehr sicher zu rekonstruieren sind. Immerhin lassen sich, wie an anderer Stelle ausführlich gezeigt (vgl. Bd. 5, 262 ff.), eine Reihe von Ursachen der Tötung historisch wahrscheinlich machen.

    Das Todesurteil der Römer gegen Jesus wird wegen angeblichen Aufruhrs gegen die Besatzungsmacht erfolgt sein. Möglicherweise wurde diese Anschuldigung von Seiten der Sadduzäer vorgebracht. Ihr Motiv, gegen Jesus einzuschreiten, dürfte in seiner Tempelkritik zu suchen sein, wie er sie in Wort und Zeichenhandlungen äußerte. Der Konflikt mit den Pharisäern hinwiederum hatte seinen wesentlichen Grund vermutlich in Jesu Gesetzesverständnis und seiner im Namen Gottes und des kommenden Gottesreiches erfolgten Hinwendung zu denen, deren Verhalten als ungerecht und manifest thorawidrig zu beurteilen war. Mag dieser Konflikt wegen des geringen pharisäischen Einflusses beim sog. Verhör im Hohen Rat zu Jerusalem offiziell keine Rolle gespielt haben, so ist er doch für das Gesamtgeschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutsam. Ob es einen förmlichen Prozess der jüdischen Behörden gegen Jesus gegeben hat, ist zweifelhaft. Vermutlich wird nur beschlossen worden sein, „Jesus unter einer Anklage, die ein Todesurteil nach sich ziehen würde, Pilatus zu übergeben. Man wird also gut daran tun, zwischen den Gründen, die die jüdischen Behörden zu diesem Vorgehen veranlasst haben, und der Anklage, mit der sie ihn der römischen Gerichtsbarkeit übergaben, zu unterscheiden." (Klaiber, 16) Am Ende steht ein Fehlurteil über einen politischen Aufrührer, der Jesus mit Sicherheit nicht war.

    Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seinem Todesgeschick lässt sich nicht rekonstruieren. Historisch betrachtet bleibt die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu von Nazareth uneindeutig. An diesem Befund kann grundsätzlich auch die bereits erörterte Annahme nichts ändern, wonach Jesus mit seinem gewaltsamen Ende gerechnet und sein bevorstehendes Sterben selbst gedeutet habe. Selbst wenn er sich so verhalten haben sollte, was historisch umstritten ist, hätte auch die vom „vorösterlichen" Jesus selbst gegebene Deutung seines Todes an der Uneindeutigkeit Anteil, die mit dessen Faktizität und mit den Tatbeständen verbunden ist, die ihn herbeiführten.

    Es ist häufig bemerkt worden, dass die jesuanische Verkündigung der nahen Königsherrschaft Gottes in Galiläa im Zusammenhang des Berichts der Jerusalemer Passion eigentümlicherweise „keine Rolle (Wilckens, 201) spielt und „nirgendwo auch nur erwähnt (ebd.) wird: „(A)uch seine pharisäischen Gegner in Galiläa sind nicht seine Ankläger in Jerusalem. (Ebd.) Dieser Befund ist, wie mit Recht festgestellt wurde, „sehr verwunderlich. War doch die Gottesherrschaft die Mitte all seines (sc. Jesu) Wirkens in Galiläa! Einen inneren Zusammenhang des Passionsgeschehens mit dieser Mitte muß es gegeben haben. (Ebd.) Aber er bleibt uneindeutig, weil den Texten selbst „nur Andeutungen zu entnehmen sind (ebd.). Ob sie zusammengenommen „ein hinreichend klares Bild (ebd.) ergeben, mag zweifelhaft sein; zweifellos richtig aber ist die Beobachtung, wonach die andeutende Form, in welcher im Neuen Testament von der Passion Jesu und ihrer Ursache die Rede ist, etwas mit der Eigenart der in Wort und Tat verkündigten Reich-Gottes-Botschaft Jesu zu tun hat, die gerade den Frommen im Lande als nicht nur uneindeutig, sondern als zweideutig erscheinen musste.

    Wesen des Konflikts

    Lenkt man die Aufmerksamkeit von der äußeren Betrachtung des Prozesses Jesu auf das „innere Wesen des Konfliktes (Roloff, 184; bei R. kursiv), dann wird dessen religiös-theologische Dimension offenbar, die ansonsten verborgen bleiben müsste. Der Konflikt „entstand daran, daß Jesus den Zöllnern und Sündern, den aus der Gemeinschaft der Frommen ausgestoßenen Gottlosen, die helfende Nähe Gottes zusagte (Roloff, 184). Diese mit dem Anspruch auf Vollmacht und Autorität vorgetragene Zusage musste gerade von den jüdischen Frommen als im Widerspruch mit der Gerechtigkeit Gottes stehend wahrgenommen werden und die „Anklage der notorischen Gotteslästerung und Gesetzesübertretung (Roloff, 182) nach sich ziehen (vgl. Mk 14,55 ff.). Es ist kein Falschzeugnis, sondern eine prägnante Zusammenfassung des inneren, religiös-theologischen Wesens des Konflikts, den Jesus durch seine Reich-Gottes-Botschaft bewirkte, wenn der vierte Evangelist die jüdischen Gegner Jesu sagen lässt: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben. (Joh 19,7) Nach Überzeugung seiner Gegner musste Jesus um Gottes willen sterben, „weil er sich durch sein ganzes Verhalten gegen den von ihnen vertretenen Willen Gottes im Gesetz aufgelehnt hatte (Roloff, 184 f.). Die österliche Deutung des Todes Christi „in seiner Heilsbedeutung ‚für unsere Sünden‘ (Wilckens, 230) und das christliche Zeugnis von seiner „rettende(n) Kraft" (Hahn I, 381) widerspricht diesem Urteil, schließt aber gerade im Widerspruch daran an und zwar dergestalt, dass ihm ein momentanes Recht nicht bestritten wird.

    Die reformatorische Lehre von Gesetz und Evangelium und die in ihrem Kontext explizierte theologia crucis wird seit geraumer Zeit historisch und systematisch eher ungünstig beurteilt. Die Kritik konzentriert sich vor allem auf Begriffe wie Sühne, Stellvertretung und Opfer, die auch innerhalb reformatorischer Theologie als traditionelle Deutekategorien des Leidens und Sterbens Jesu Christi fungierten (vgl. Frey / Schröter [Hg.], 51 ff.). Zu konstatieren ist zunächst, „dass die häufig zur Deutung des Todes Jesu verwendeten Begriffe ‚Sühne‘ und ‚Stellvertretung‘ – die auch in der Kombination ‚stellvertretende Sühne‘ begegnen können – im Blick auf ihr Verhältnis zu den neutestamentlichen Texten zu präzisieren sind" (Schröter, 145). Entsprechendes gilt für den Opferbegriff oder für Begriffe wie Satisfaktion und Strafleiden. Die Art und Weise ihres Gebrauchs ist häufig unklar, und ihre Bedeutung schwankt je nach kontextueller Verwendung. Sucht man einen kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer Bedeutung, wird man ihn in der Bezeichnung eines Vorgangs der korrigierenden Wiederherstellung und Zurechtbringung des menschlicherseits schuldhaft verkehrten Verhältnisses von Mensch und Gott finden.

    Wie unterschiedlich die durch Begriffe wie Sühne, Opfer, Satisfaktion etc. bezeichneten Vollzüge im Einzelnen auch sein mögen: In jedem Fall geht es in ihnen um die Beseitigung von Sünde bzw. von Sünden. Nun wird seit geraumer Zeit nicht nur in der alttestamentlichen Wissenschaft wiederholt betont, dass beispielsweise das kultische Sühnopfer im Tempel ein von Gott selbst gestiftetes und nicht etwa ein Geschehen sei, seinen Zorn über die Übeltaten des Einzelnen oder des Volkes zu stillen und ihn gnädig zu stimmen. Diese exegetische Beobachtung hat zweifellos ihre Richtigkeit; sie ändert aber nichts an der Tatsache, dass Versöhnung ohne Sühne, also ohne bestimmte Negation des Verkehrten gerechterweise nicht statthaben kann. Jahwe ist zwar nicht unversöhnlich, aber er ist um seiner in der Thora offenbaren Gerechtigkeit willen auch nicht bereit, das Böse einfachhin gut sein zu lassen. Opfer, Sühne, Strafe, Satisfaktion – oder was auch immer an Sündennegation – müssen sein. Dies bestätigen die juridischen und kultischen Bestimmungen des Gesetzes der hebräischen Bibel in der nötigen Deutlichkeit.

    Trinitarische theologia crucis

    Die zum exegetischen Allgemeinplatz gewordene Feststellung, dass Gott nicht Objekt, sondern Subjekt der im Kreuzestod erbrachten und im auferstandenen Gekreuzigten in der Kraft des göttlichen Geistes offenbaren gottmenschlichen Versöhnung sei, ist zu unterstreichen. Ihr Versöhntwerden mit Gott haben nicht die sündigen Menschen ermöglicht und ins Werk gesetzt, sondern Gott selbst und er allein. Indes bedarf diese richtige Grundannahme einer nicht zuletzt den theologischen Subjektbegriff betreffenden trinitätstheologischen Klärung, um bestehen zu können. Andernfalls bleibt die theologische Bedeutung des Kreuzes unterbestimmt mit der Folge einer unstatthaften Prinzipialisierung des Begriffs der Gnade und der Liebe Gottes, die zu Lasten der göttlichen Gerechtigkeit geht. Wo Gott in vermittlungsloser Unmittelbarkeit zum Subjekt der Versöhnung erklärt wird, verkommt deren Vollzug zur bloßen Behebung einer Täuschung, welcher der Mensch in der angeblich irrigen Meinung aufgesessen ist, seine Sünde trenne ihn tatsächlich von Gott. Die Rede von der das Unrecht strafenden Gerechtigkeit wäre sonach lediglich „eine Fehlinterpretation des Sünders" (Slenczka, 175). Eine sträfliche Verharmlosung von Sünde und Sündenschuld läge in der zwangsläufigen Konsequenz dieser Annahme.

    Einer Verharmlosung von Sünde und Schuld kann nur gewehrt werden, wenn man das Kreuzesgeschehen nicht zur bloßen Manifestation einer Gegebenheit erklärt, die auch ohne es in Geltung stünde, sondern mit konstitutiver Bedeutung für die Aussage versieht, dass Gott Liebe sei. Mit dieser konstitutiven Bedeutung ist der subjektivitätstheoretisch nicht aufzulösende objektive Charakter des Versöhnungsgeschehens am Kreuz aufs engste verbunden. Um nicht missverstanden zu werden: „Ein Verständnis des Todes Jesu, das diesen in seiner Beziehung zu Gott zu verstehen beansprucht, kann nur dann uns selbst betreffen, wenn sich dabei unser eigenes Verhältnis zu Gott verändert. (Korsch, 164) Ein „Objektivismus …, der mit dem modernen Bewusstsein einer moralisch verantwortlichen Personalität nicht zu vereinbaren ist (Korsch, 164), wirkt auch in staurologischer Hinsicht kontraproduktiv. Aber aus der zu Recht geforderten Vereinbarkeit von Staurologie und Subjektivitätstheorie muss keineswegs die Unhaltbarkeit der Annahme gefolgert werden, am Kreuz Jesu Christi sei „außerhalb von uns etwas vollzogen worden, das für uns von Relevanz sein soll" (Korsch, 163). Am Gedanken der Stellvertretung und zwar in ihrer exklusiven Form ist im Gegenteil staurologisch festzuhalten und zwar nicht zuletzt aus subjektivitätstheoretischen Gründen. Denn das Gewicht dessen, was die Theologie Sünde nennt, ist für den Sünder unerträglich (vgl. Slenczka, 176 ff.), zu welcher Einsicht er selbst gelangt, sobald er zum entwickelten Bewusstsein seiner Sündenschuld kommt.

    Im Schuldbewusstsein manifestiert sich das Problem der Sünde, ohne dadurch bereits einer Lösung zugeführt zu sein. Christliche Hamartiologie endet mit der Einsicht in eine Aporie, die es wahrzunehmen gilt, ohne auf moralistische oder fatalistische Weise verdrängt zu werden. Möglich ist diese Wahrnehmung indes nur dann, wenn ein Alter Ego in Sicht ist: Jesus Christus, der an meiner Stelle das Unerträgliche ertragen und durch den Kreuzestod, den er erlitt, Sühne für die Sündenschuld und gottmenschliche Versöhnung geleistet hat. Das Bewusstsein seiner Sünde bringt den Sünder an die Grenze seiner selbst. Über diese Grenze hinaus kann er nicht unmittelbar durch sich selbst, sondern nur mittels eines anderen gelangen, der sich ihm zu eigen gibt, damit er durch seine Gerechtigkeit gerechtfertigt werde vor Gott. Was damit gesagt ist, hat Paulus in seiner Lehre von der Christusgemeinschaft des Glaubens in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die, indem sie den Ertrag der vorpaulinischen Staurologie sichert und konstruktiv gestaltet, für jede christliche Versöhnungslehre Maßstäbe setzt.

    In der vorpaulinischen Staurologie lassen sich drei Deuteschemata des Kreuzesgeschehens unterscheiden: Das Kontrastschema, das sog. heilsgeschichtlich-kausale und das soteriologische Schema, wonach Christus „für uns bzw. „für die Vielen gestorben ist (vgl. Roloff, 185 ff.). Thematische Kontrastformeln, die dem von Menschen gewirkten Unheilsgeschehen des Kreuzestodes Jesu Christi dessen Auferweckung und Erhöhung durch die Tat Gottes entgegensetzen, finden sich beispielhaft in den Reden der Apostelgeschichte: „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt. (Apg 3,15; vgl. 2,23 f.36; 5,30; 10,39 f.; 13,27–30) Vermutlich handelt es sich bei den Kontrastformeln nicht erst um lukanische Theologumena (so z. B. Rese), sondern bereits um vorlukanisches Traditionsgut. Ob sie in staurologischer Hinsicht „das älteste Kerygma (Roloff, 185) darstellen, kann offen bleiben. Von einer spezifischen Heilsbedeutung des Kreuzestodes für Menschheit und Welt ist in ihnen noch nicht explizit die Rede. Dies gilt auch für das sog. heilsgeschichtlich-kausale Schema, demzufolge Jesus aufgrund eines göttlichen Vorsehungsplans mit Notwendigkeit leiden und sterben musste, um schließlich in die himmlische Herrlichkeit einzugehen. Der vormarkinische Passionsbericht ist nach diesem Schema gestaltet und zwar mittels des Schriftbeweises unter besonderer Berücksichtigung der Leidenspsalmen 22 und 69. Er „deutet Zug um Zug Jesu Sterben als ein Geschehen, das unter dem unabweisbaren, von Gott gesetzten ‚Muß‘ steht" (Roloff, 187). Auch andere Texte heben die Notwendigkeit des jesuanischen Weges vom Tod zum ewigen Leben hervor (vgl. Schröter, 148).

    Vorpaulinische Staurologie

    Antworten auf die Frage, warum Jesus leiden und sterben musste, werden in der vorpaulinischen und vorsynoptischen Tradition nach Maßgabe des soteriologischen Schemas gegeben. In ihm wird der Für-Bezug des Todes Jesu Christi eigens benannt und die Heilsbedeutung des Kreuzes ausdrücklich hervorgehoben. Deutungen des Kreuzestodes Jesu als eines Heilsgeschehens und namentlich als eines Geschehens zum Heil der Sünder „begegnen bereits in sehr alten Überlieferungen wie etwa 1 Kor 15,3b-5 (Schröter, 149), wo eingangs ausdrücklich gesagt ist, „dass Christus gestorben ist für unsere Sünden (vgl. Gal 1,4) und zwar gemäß der Schrift, wie hinzugefügt wird. Weitere Beispiele für sog. Sterbeformeln aus recht altem Traditionsgut lassen sich unschwer anführen (vgl. etwa Röm 4,25; 5,8). Sie heben stets die heilvolle Wirkung von Jesu Leiden und Sterben hervor, „ohne diese auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen. Es wäre deshalb irreführend, die Formulierungen ‚für uns‘ oder ‚für unsere Sünden‘ als sühnetheologische oder opferkultische Deutung des Todes Jesu aufzufassen." (Schröter, 149 unter Verweis auf Breytenbach, 95 ff.) Diese Aussage ist zutreffend; doch wird man nicht leugnen können, dass durch den expliziten Sündenbezug der Sterbeformeln bereits eine bestimmte Deutung vorgegeben ist. Diese Vorgabe wird offenbar durch die Verbindung des Todes Jesu mit dem Begriff hilasterion in Röm 3,25 eigens unterstrichen.

    Um zu der schwierigen Stelle Röm 3,25 und verwandten Passagen vorerst nur dieses anzumerken: In der Septuaginta wird das substantivierte Nomen hilasterion als terminus technicus für die Abdeckung der Bundeslade, hebr. kapporaet, gebraucht. Danach wäre hilasterion, was wörtlich übersetzt „das Sühnende heißt, mit „Sühnedeckel, „Sühneort oder „Sühnemal wiederzugeben. Allerdings ist unklar, ob Paulus direkt auf die kapporaet Bezug nehmen wollte. Der Versuch, hilasterion nicht aus dem jüdischen, sondern aus dem griechisch-paganen Sprachkontext abzuleiten und als Synonym des Wortes anathema, Weihegeschenk oder Weihegabe zu verstehen (vgl. Schreiber), ist philologisch abwegig (vgl. Weiß). Man wird daher unabhängig von dem Problem, ob ein direkter Bezug auf das hebräische kapporaet vorliegt, an der sühnetheologischen Deutung von hilasterion in Röm 3,25 festzuhalten haben.

    Eine sühnetheologische Deutung liegt auch für die Abendmahlsparadosis in 1. Kor 11,23 ff. und für das Kelchwort Mk 14,24 nahe, in dem Jesus von seinem Blut des Bundes spricht, das für viele vergossen wird. Welche Bedeutung für die Entstehung der soteriologischen Formeltradition des Neuen Testaments dem Gottesknechtskapitel Jes 53, der Vorstellung eines heilswirksamen Märtyrersterbens oder anderen Überlieferungsbeständen aus dem palästinischen Judentum oder auch dem Hellenismus darüber hinaus zukommt, kann dahingestellt bleiben. Die Meinungen der Exegeten hierzu gehen zum Teil sehr weit auseinander. Doch muss man sich darüber dogmatisch nicht allzu sehr grämen. Denn wichtiger als das Problem der traditionsgeschichtlichen Genese des soteriologischen Schemas der Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi ist die Frage, welche kanonische Geltung es etwa im Corpus Paulinum erlangt hat.

    Generell darf neben der Traditions- die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte die Frage nicht vernachlässigt werden, welche Aufnahme sie in unterschiedlichen kanonischen Kontexten gefunden haben. Einen speziellen Anlass für rezeptionsgeschichtliche Studien dieser Art bietet beispielsweise das Logion Mk 10,45 par Mt 20,28, wonach der Menschensohn nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. Varianten dieser Aussage finden sich in Gal 1,4 und 2,20, Eph 5,2.25, 1. Tim 2,6 und Titus 2,14 sowie Joh 10,11.15, 15,13 und 1. Joh 3,16 (vgl. Edwards, 30 ff.). Wer Stellen wie die genannten im Einzelnen studiert, wird einen ersten Eindruck sowohl von kanonischer Intertextualität als auch von der Weite des Horizonts gewinnen, in dem die neutestamentlichen Aussagen über den Kreuzestod Jesu ihre staurologische Bedeutung angenommen haben: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserm Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, daß er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen Gottes, unseres Vaters. Ihm sei Ehre in alle Ewigkeit. Amen." (Gal 1,3–5)

    2. Versöhnung und Rechtfertigung im Gekreuzigten. Von Jesus zur gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung des Paulus

    Lit.: G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006. – A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002. – F. Chr. Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie. Hg. v. F. F. Baur. Mit einer Einführung zum Neudruck von W. G. Kümmel, Darmstadt 1973. – R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchgesehen u. erg. v. O. Merk, Tübingen 1984. – Chr. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970. – B. Byrne, Interpreting Romans in a Post-„New Perspective Perspective, in: HThR 49 (2001), 227–241. – Chr. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie, Neukirchen 1985. – J. D. G. Dunn. The New Perspective on Paul. Collected Essays, Tübingen 2005. – Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, München o. J. (= EG). – D. Finkelde, Streit um Paulus. Annäherungen an die Lektüre von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Zizek, in: PhR 53 (2006), 303–331. – A. Fürst u. a., Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, Tübingen 2012. – M. Hengel, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, Tübingen 2002. – F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, Berlin / New York 2001. – W. Klaiber, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Herrschaft. Ernst Käsemann als Ausleger des Neuen Testaments, in: J. Adam u. a. (Hg.), Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag, Neukirchen 2008, 59–82. – M. Köckert, „Glaube und „Gerechtigkeit in Gen 15,6, in: ZThK 109 (2012), 415–444. – E. Maurer, Kreuzestheologie, in: GlLern 27 (2012), 3–15. – E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums. Erster Band. Die Evangelien, Stuttgart / Berlin 4. u. 5. Aufl. 1925. – R. Mohr, Art. Gellert, Christian Fürchtegott (1715–1769), in: TRE 12, 298–300. – V. Nicolet-Anderson, Constructing the Self. Thinking with Paul and Michel Foucault, Tübingen 2012. – H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, Berlin / New York 2002. – E. Rehfeld, Relationale Ontologie bei Paulus. Die ontische Wirksamkeit der Christusbezogenheit im Denken des Heidenapostels, Tübingen 2012. – E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. – Ders., Paul, the Law, and the Jewish People, Philadelphia 1983. – Ders., Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995. – R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie, Tübingen 2004. – A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 4, München 1974, 15–510. – Ders., Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Hildesheim 2004 (Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1911). – R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989. – K. Stendahl, Paul among Jews and Gentiles and other Essays, Philadelphia ²1978. – M. Theobald, „… und er schickte seine Heere aus (Mt 22,7). Der Gott des Gekreuzigten – ein Gott auch der Gewalt?, in: ThQ 191 (2011), 304–314. – A. Wechsler, Geschichtsbild und Apostelstreit. Eine forschungsgeschichtliche und exegetische Studie über den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14), Berlin / New York 1991. – A. J. M. Wedderburn, Eine neuere Paulusperspektive?, in: E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, Tübingen 2005, 46–64. – G. Wenz, Old Perspectives on Paul. Forschungsgeschichtliche Epilegomena zum Paulusjahr, in: KuD 56 (2010), 121–164. 225–255. – S. Zizek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003.

    Paulus unter den Philosophen

    „Seneca Paulo salutem; Annaeo Seneca Paulus salutem: mit diesem Grußwort beginnen – abgesehen davon, dass einmal ein gewisser Lucilius, das andere Mal ein Theophilus eingeschaltet wird – stereotyp die jeweiligen Briefe einer Korrespondenz, die zwischen dem Apostel Paulus und dem stoischen Philosophen stattgefunden haben soll. So jedenfalls will es ein anonymer Autor, der den Briefwechsel im 4. Jahrhundert angefertigt hat (vgl. Fürst u. a., 3). Viel zu sagen haben sich die beiden angeblichen Freunde nicht. Der Inhalt ihrer „kurzen Schreiben ist … an Dürftigkeit kaum zu überbieten (ebd.). Erst als der verheerende Großbrand im neronischen Rom angesprochen und die Frage nach den machinatores incendii (Brief XI), den mutmaßlichen Brandstiftern, aufgeworfen wird, kommt etwas Spannung auf. Ansonsten ist der „apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus … ein ausgesprochen nichtssagender Text" (Fürst u. a., VII).

    „Mir fällt nichts ein, schreibt Erasmus von Rotterdam im Jahr 1515 (Brief 2092), „was man sich Steiferes und Alberneres als diese Briefe ausdenken könnte. Und doch hat ihr Verfasser, wer immer es gewesen sein mag, dies getan, um uns zu überzeugen, Seneca sei Christ gewesen. (Zit. n. Fürst u. a., 75) Auszuschließen ist diese erasmische Annahme nicht. Als Fehlinterpretation lässt sie sich jedenfalls nicht schon durch den zutreffenden Hinweis erweisen, dass von „einer Bekehrung Senecas zum Christentum … im Briefwechsel … nicht die Rede" (Fürst u. a., 19) sei. Wie immer es sich mit Seneca und seinem Verhältnis zu Paulus verhalten haben mag; neuerdings zieht der Apostel echtes Interesse von Philosophen bzw. Schriftstellern auf sich, die für Philosophen gehalten werden wollen. Dies zeigen die vielbeachteten Bücher von Giorgio Agamben (vgl. Agamben), Alain Badiou (vgl. Badiou) oder Slavoj Zizek (vgl. Zizek).

    Die Werke der drei Autoren erörtern Themen, die das Verhältnis von Sein und Ereignis, von Universalität und Partikularität sowie von Identität, Nichtidentität und unbestimmbarer Kontingenz betreffen, und sie diskutieren Sinn bzw. Unsinn einer Theorie von Anderssein, die sich jeder Form von Einheit entzieht.

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