Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Judenhass: Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart
Judenhass: Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart
Judenhass: Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart
eBook1.165 Seiten12 Stunden

Judenhass: Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Geschichte des Judenhasses war lang, brutal und gipfelte in der Vernichtung von über sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten. Nach der Schoah war der Antisemitismus in Europa tabu, verschwand aber nicht aus den Denkmustern. Vielmehr zeigte er sich in seiner stereotypen Gestalt recht bald wieder. Das Buch behandelt in chronologischer Form die verschiedenen Ausprägungen und Entwicklungen des Judenhasses in Europa. Sie reichen von Vertreibung, Gettoisierung, Pogromen und der Schoah bis zum alltäglichen Antisemitismus. Die Ereignisse werden dabei im jeweiligen historischen, ideologischen und literarischen Kontext verortet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Okt. 2019
ISBN9783647999487
Judenhass: Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart

Ähnlich wie Judenhass

Ähnliche E-Books

Moderne Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Judenhass

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Judenhass - Trond Berg Eriksen

    1. Juden, Griechen und Römer:

    A

    blehnung und Bewunderung

    Was ist »Antisemitismus«, und worum handelt es sich, wenn man ihn unter dem Blickwinkel der Geschichte betrachtet? Die Antwort darauf ist alles andere als einfach. Die gewählten Definitionen repräsentieren oft einen zentralen ideologischen Aspekt des Phänomens Judenhass. Einige schreiben breitgefächerte, nahezu allumfassende Darstellungen, deren Ziel es häufig ist, historische Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen – aller Unterschiede zum Trotz. Andere liefern enger gefasste Definitionen des Begriffs und setzen voraus, dass im Laufe der Zeit viele verschiedene Formen des Antisemitismus einander abgelöst haben.

    Antisemitismus und Rassismus

    Die Rekonstruktionen sind oft von dem jeweils aktuellen Ausgangspunkt gefärbt: Die Dreyfus-Affäre, der Rassismus der Zwischenkriegszeit, nationalromantische Fantasien von der »Volksseele« oder religiöse Kontroversen über Verwandte und Konkurrenten des Christentums haben zu verschiedenen Begriffen von »Antisemitismus« und somit zu verschiedenen Versionen der Geschichte geführt.1

    Liegt der Antisemitismus an den Juden oder am jeweiligen Umfeld? Die von uns untersuchten Geschehnisse weisen augenscheinlich sowohl reale machtpolitische als auch mehr imaginär mythologische Elemente auf. Dabei haben sich die Legenden als widerstandsfähiger erwiesen als die machtpolitischen Realitäten. Nicht derart, dass das eine veränderbar und das andere unveränderbar ist. Beide Aspekte haben sich von Generation zu Generation verändert. Voraussetzung für die real machtpolitischen wie auch für die mehr imaginär mythologischen Elemente war, dass die Juden als Kollektiv für all das verantwortlich gemacht wurden, was man an einzelnen Vertretern der Gruppe auszusetzen haben konnte.

    Betrachtet man blutige Auseinandersetzungen und Gewalthandlungen in der älteren Geschichte, ist es wichtig zu bedenken, dass in der vormodernen Welt in allen Beziehungen zwischen verschiedenen Reichen, Klassen und Volksgruppen Gewalt eher die Regel als die Ausnahme war. Nirgendwo in der Literatur der vorchristlichen Antike sind hingegen Spuren von etwas zu finden, das dem späteren Antisemitismus gleicht. Kriegerische Aus­einandersetzungen oder Gewalt hatten die Juden bereits im zweiten Jahrhundert vor Christus in alle Himmelsrichtungen verstreut. Man geht davon aus, dass zu Beginn unserer Zeitrechnung eine Million Juden in Palästina und vier Millionen im übrigen Gebiet rund um das Mittelmeer lebten. Bereits im letzten Jahr des Bestehens lebten Juden im gesamten römischen Reichsgebiet verstreut. Dabei gingen Juden allen möglichen Berufen und Handwerken nach, und die meisten von ihnen waren relativ arm.

    In der Tat finden sich – so zum Beispiel beim römischen Historiker Tacitus – herabsetzende Bemerkungen über Juden. Diese entfalteten eine unverhältnismäßig starke Wirkungsgeschichte, weil Renaissance und Neuhumanismus diese Aussagen als autoritativ auffassten. Keine antike Quelle benennt Juden in erster Linie als Kaufleute. Keine antike Quelle misst ihnen beneidenswerten Reichtum oder ein besonderes Verhältnis zu Geld bei. Kein antiker Autor thematisiert das Aussehen der Juden und schreibt ihnen sichtbare ethnische Kennzeichen zu. Als hervorstechendstes Merkmal wurde nur ihr Monotheismus genannt. Skepsis gegenüber Fremden hat es immer gegeben – und wird es immer geben. Die Begründungen dafür haben sich jedoch geändert. Rassismus ist dabei nur eine von vielen und als Begründung für Fremdenhass relativ neu. Ein mit Rasse begründeter Antisemitismus tauchte erstmals in der Napoleonzeit auf. K. W. Fr. Grattenauers Schrift Wider die Juden aus dem Jahr 1802 gilt hierbei als erster dokumentarischer Beleg. Selbst innerhalb des modernen Rassismus gibt es eine Reihe ideologischer Variationen.2

    Die spanische Ideologie hinsichtlich der »Reinheit des Blutes« (limpieza de sangre) aus dem Spätmittelalter unterscheidet sich beispielsweise stark von der Idee von Fremden als Feinden des eigenen Volks in der Romantik oder von faschistischen und sozialdarwinistischen Ideologien, die im Daseinskampf zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidet. Heutige Feindschaft gegenüber Juden wird nicht mehr maßgeblich von der ­Dreyfus-Affäre oder dem Rassismus der Zwischenkriegszeit bestimmt. Die Geschichte der Schoah und die Kämpfe – insbesondere die ideologischen Ausein­andersetzungen – rund um den Staat Israel spielen eine große Rolle. Ein weiterer Aspekt ist die Fülle an Literatur, die in den vergangenen 30 Jahren über den Antisemitismus als Teil des Sündenregisters der Kirche erschienen ist.

    Alle diese Kontroversen sind hermeneutisch unumgänglich, das heißt, sie färben unseren Blick auf die Geschichte, ob wir wollen oder nicht. Daher ist es so schwer, den Antisemitismus der Antike, des Mittelalters, der Reformation, der Aufklärung oder der Romantik isoliert voneinander zu betrachten. Stets ist die Versuchung groß, spätere Ereignisse in frühere hineinzuprojizieren, so als seien sie die tieferliegenden, versteckten Absichten der früheren Geschehnisse. Oft wirken die Projektionen auch wie ein Filter, der bestimmt, was man in der Vergangenheit sehen kann. Nur was als Analogie zur aktuellen Situation dargestellt werden kann, wird unmittelbar entdeckt. All das andere zu entdecken, erfordert etwas Mühe.

    Einer der faszinierendsten Aspekte der Geschichte des Antisemitismus ist die Temperatur der Kontroversen. Es ist nicht schwer herauszufinden, welche Ansichten auf den jeweiligen Seiten vorherrschen. Faktisch gehört die verwendete Sprache zu den emotionalsten und wirklichkeitsfremdesten der gesamten Ideologiegeschichte des Westens. Aber wir wollen nicht nur wissen, wer was gesagt hat. Wir wollen auch versuchen zu verstehen, warum sich der Hass gegen die Juden so entwickelt hat, dass sowohl im Gebrauch von Sprache als auch im Einsatz von Gewalt alle Normen der Zivilisation missachtet wurden.

    Die Vergangenheit und die Gegenwart

    Wir gehören der Schule an, die innerhalb der Geschichte des Antisemitismus gern Brüche und Mutationen hervorhebt. Diese Geschichte häufte aber auch ein sprachliches Arsenal an, das von vielen Generationen genutzt wurde, die die ideologischen und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen der ursprünglichen Erzeuger dieser Argumente eigentlich nicht teilten. So übernahmen zum Beispiel die Nazis einige Argumentationsweisen aus den alten theologischen Kontroversen und profilierten sich auf diese Weise als Verteidiger des Christentums, obwohl sie der christlichen Tradition in vielerlei anderer Hinsicht eher ablehnend gegenüberstanden. Ideologien können Ausdruck von Gefühlen und Wahrnehmungen sein, sie können Gefühle und Wahrnehmungen aber auch maskieren. Als Historiker ist es notwendig, einen Blick dafür zu entwickeln, wann das eine beziehungsweise das andere zutrifft.

    Ein weiterer hermeneutischer Aspekt, der gern der Gegenwart entnommen und auf die Vergangenheit projiziert wird, ist das Verhältnis westlicher Kulturen zu den Anderen und den Fremden. Das Befremdliche im Verhältnis der modernen westlichen Zivilisation zu Randgruppen, Außenseitern und kolonialisierten Völkern haben Kritiker dieser Kultur, wie Frantz Fanon, Edward W. Said, Michel Foucault und Martin Bernal, in den vergangenen 60 Jahren hervorgehoben. Erfahrungen aus der Begegnung mit fremden Völkern in Amerika, Afrika und dem Osten haben bei vielen Autoren neuere Darstellungen der Geschichte des Antisemitismus gefärbt. Ebenso haben ideologische und kulturelle Gegensätze zwischen der muslimischen und der westlichen Welt auf die Deutung des Antisemitismus als Phänomen Einfluss gehabt.

    Auf der einen Seite zeigt die heutige Auseinandersetzung mit der mus­limischen Welt, wie zentral das Thema im Verhältnis zum westlichen Selbstverständnis platziert werden kann. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, nicht alles auf eine Erklärung zurückzuführen. Historische Erklärungen müssen in gewissem Maße immer einzigartig und spezifisch sein, weil jedes historische Ereignis etwas Einzigartiges und Spezifisches aufweist. Das bedeutet indessen nicht, dass es keine sinnvollen Übertragungen oder fruchtbaren Analogien von dem einen auf das andere Feld, von dem einen auf das andere Jahrhundert gibt.

    Die Debatte über den einzigartigen Charakter des Holocaust ist vom Standpunkt eines Historikers aus betrachtet hingegen vollkommen überflüssig. Selbstverständlich war das Ereignis einzigartig – wie alle historischen Ereignisse es sind. Das bedeutet nicht, dass das Ereignis nicht zur Geschichte gehört, sondern bekräftigt gerade, dass es das tut. Notwendige Bedingungen für ein spezifisches Geschehen können äußerst allgemein sein. Die hinreichenden Gründe jedoch sind besonders, speziell und in letzter Instanz nicht wiederholbar.

    Das gilt sowohl für die Ideologie als auch für die Ereignisse. Jede Generation und jede Situation drückt Fremdenhass in eigenständigen ideolo­gischen Mustern aus. Auch dort, wo wir auf alte Wörter und wohlbekannte Bildmotive treffen, ist deren volle Bedeutung von der besonderen Situation und den aktuellen Nutzern abhängig. Es gibt somit keinen ewigen und unveränderbaren Antisemitismus. Aber die religiös motivierte Judenfeindschaft erfährt selbstverständlich eine größere Kontinuität über die Generationen hinweg als der politisch motivierte, da die religiösen Gegensätze weniger zeitabhängig sind als die politischen.

    Juden und ihre Umwelt

    Selbstverständlich wurden nicht nur die Juden, abhängig von Ort und Kontext, von der einen Generation zur anderen unterschiedlich beurteilt. Im selben Takt änderte sich auch die Einstellung von Juden zu ihrem jeweiligen Umfeld. Antisemitismus bedingte ein Wechselverhältnis, allerdings ohne jegliches Gleichgewicht. Die winzig kleine Minderheit reagierte auf Signale und Aktionen der Mehrheitsgesellschaften. Daher gibt es keinen Zweifel daran, dass es hauptsächlich die Aktionen der christlichen Mehrheit und nicht die Reaktionen der jüdischen Minderheit waren, die die Entwicklung in die Bahnen lenkte, die sie nahm. Dennoch sind die Reaktionen der Minderheit auf ihren Opferstatus ein Studium wert. Jacob Katz hat eine der aufschlussreichsten und übersichtlichsten Darstellungen der Geschichte des Antisemitismus aus Sicht der Opfer verfasst.3 Wie erlebten die Juden ihr ständig bedrohlicher werdendes Umfeld?

    Alle Unterschiede zwischen Juden und denen, die in ihren Augen »Heiden« waren, wurden in alten Zeiten aus religiösen Unterschieden heraus verstanden. Juden hegten ebenso stereotype Vorstellungen darüber, was man von »Heiden« erwarten konnte, wie Christen stereotype Vorstellungen von »jüdischen« Eigenschaften hatten. Indessen waren Christen in den Ländern Europas die »Eingeborenen«, während die Juden die »Fremden« waren. Christen verfügten außerdem über die politische Macht. Die Reibungen zwischen Christen und Juden hatten daher frühzeitig neben religiösen auch politische und später auch nationale Untertöne.

    Die prinzipielle religiöse Haltung der beiden Parteien bestand in gegenseitiger Ablehnung. Beide bestanden auf ihrem Wahrheitsmonopol, wie es der Struktur monotheistischer Religionen entspricht. In den Augen von Christen standen Juden außerhalb des Bundes, den Gott mit dem neuen Gottesvolk – der Kirche – geschlossen hatte. Nicht nur das: Indem sie sich weigerten, den Messias anzuerkennen, hatten die Juden selbst ihren einst bestehenden Bund mit Gott gebrochen.

    Nach Meinung der Juden standen die Christen außerhalb des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hatte. Die Christen gehörten jedoch dem Bund an, den Gott mit Noah und daher mit der gesamten Menschheit eingegangen war. Nach Ansicht der Christen war Gottes Bund mit Israel mit der Ankunft Jesu erloschen. Die gegenseitige religiöse Ablehnung musste also durch ökonomische Vorteile oder praktische Notwendigkeiten aufgewogen werden, wenn erträgliche Bedingungen für eine friedliche Koexistenz entstehen sollten.

    Die Juden im Römischen Reich

    In der neueren Forschung ist besonders das zweideutige Verhältnis unterstrichen worden, das man in der Antike zu den Juden als Volksgruppe hatte.4 Während es zum einen seitens verschiedener Behörden eine regelrechte Diskriminierung und Verfolgung von in der Fremde lebenden Juden gab, fand sich andererseits auch eine Bewunderung für das Alter des jüdischen Volkes, für Mose als die ideale Führungsgestalt sowie für den strengen Monotheismus, und zwar sowohl vor als auch nach der Entstehung des Christentums.

    Diejenigen, die auf der Suche nach »Antisemitismus« in der Zeit vor dem Römischen Kaiserreich und vor dem Christentum sind, müssen mit einem so weit gefassten Begriff operieren, dass er ohne historischen Informationswert bleibt. Die Konflikte, mit denen sich die Juden in der Zeit des frühen Hellenismus konfrontiert sahen, unterschieden sich nicht von den Konflikten, die den Kampf anderer Gruppen ums Überleben als kulturelle oder religiöse Identitäten kennzeichneten. Erst in Verbindung mit der Kaiserverehrung und dem Christentum nahm das Ganze eine neue Wendung. Dort, wo der Monotheismus der Juden Konflikte erzeugte, sehen wir die ersten Keime dessen, was sich später zum »Antisemitismus« entwickelte. Durch die jüdischen Aufstände gegen die Herrschaft der Römer in den Jahren 38 und 67 n. Chr. verschärfte sich der Ton wesentlich.

    Die Juden waren die einzige religiöse Gruppe im Römischen Reich, die strenge Monotheisten waren. Außerdem stellten sie ihren Gott im Kultraum nicht bildlich dar. Nicht einmal im Tempel in Jerusalem gab es ein Bild von Jahve. Deshalb wurden die Juden – wie später die Christen – von ihrem polytheistischen und bilderfreudigen Umfeld oft als »Atheisten« oder Gottlose betrachtet. Das Römische Reich war ein Freiraum für alle möglichen Religionen, Philosophien und Lebensformen. Und dennoch wurden die Juden schon früh der Absonderung und Menschenfeindlichkeit angeklagt.

    In der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts behauptete der bedeutende stoische Philosoph Poseidonios aus Apameia, dass sich die Juden nicht mit anderen Volksgruppen umgeben wollten, und betrachtete sie als Feinde. Ausgangspunkt solcher Charakterisierungen war immer die Religion. Der jüdische Gott dulde, so der Vorwurf, keine anderen Götter neben sich. Als Juden sich weigerten, den vergöttlichten römischen Kaisern Opfer darzubringen, wurde den Juden in diesem Punkt jedoch eine Ausnahme eingeräumt. Römische Bürokraten waren nämlich praktisch veranlagt und verstanden umgehend, dass man viele merkwürdige und unerklärliche Einstellungen exotischer Völker tolerieren musste, wenn es gelingen sollte, das große Reich zusammenzuhalten.

    Viele antike Autoren merken an, dass sich die Juden weigerten, an Samstagen zu arbeiten und dass sie sich als Zeichen des besonderen Bundes mit ihrem Gott beschneiden ließen. Einige römische Provinzgouverneure unternahmen den Versuch, ihre Bräuche zu ändern, fanden jedoch schnell heraus, dass es bei solchen Eingriffen mehr zu verlieren als zu gewinnen gab. Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen sind aus allen großen Städten des Römischen Reiches bekannt, da jede Volksgruppe gern ihre Viertel und Stadtteile für sich behauptete.

    Rivalität mit anderen

    Im hellenistischen Alexandria kam es bei mehreren Anlässen zu heftigen Rivalitäten zwischen Griechen und Juden. Dabei brachten die beiden Parteien selbstverständlich das Schlimmste vor, was sie übereinander sagen konnten. In seinem Werk Contra Apionem (Gegen Apion) zitiert der römische Historiker Flavius Josephus einige dieser feindlichen Angriffe gegen die Juden. Im Maßstab der Zeit betrachtet, waren solche Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen jedoch nicht ungewöhnlich. Die Juden wurden nicht durchweg schlechter behandelt als andere Minoritäten. In einer multikulturellen Weltstadt wie Alexandria zu leben, stellte in Sachen Toleranz an alle Parteien große Anforderungen.

    Über lange Zeiträume hinweg lebten die Gruppen jedoch in Frieden und Toleranz Seite an Seite. Nur selten ereigneten sich Angriffe auf die Juden als Gruppe. Diejenigen, die in der vorchristlichen Antike »Antisemitismus« finden, projizieren Momente der späteren historischen Entwicklung unbefangen auf die Vergangenheit. Der antike »Antisemitismus« wurde erst entdeckt, als der moderne Antisemitismus seine Form fand.

    Ganz im Gegenteil scheint es, als seien die Juden durchaus auch sowohl für ihren Monotheismus, ihre familiäre Solidarität wie auch für ihre langen kulturellen Traditionen bewundert worden. Tatsächlich machten sie in allen Lagern Proselyten. Die römischen Satiriker zu Beginn unserer Zeitrechnung – Horaz und Juvenal – spotteten gewohnheitsmäßig über jene, die sich zum Judentum bekehrten. Das lässt darauf schließen, dass derartige Bekehrungen ein bekanntes Phänomen waren. Der Ton in ihren Satiren ist den Juden gegenüber jedoch nicht schärfer als gegenüber vielen anderen Gruppen.

    Diejenigen, die sich bekehrten, wurden ebenso wie jene, die bereits Teil der jüdischen Gemeinden waren, in diese integriert. Die Anschuldigung sozialer und religiöser Absonderung ging auf Elemente der jüdischen Religion zurück, die sich nicht so einfach mit anderen religiösen Identitäten vereinen ließen. Der Monotheismus war nicht nur eine andere Religion als die polytheistischen, sondern auch ein anderer und bis dahin unbekannter Typus von Religion. Viele schlossen aus der strengen Bewahrung der religiösen Eigenart durch die Juden, dass diese alle anderen religiösen Gruppen verachteten oder ihnen gegenüber feindlich eingestellt seien. Dem römischen Historiker Tacitus zufolge hegten die Juden einen unerbittlichen Hass auf den Rest der Menschheit. Sie äßen und schliefen für sich, und sie verzichteten auf den Umgang mit fremden Frauen, obwohl sie ziemliche Wollüstlinge seien, schreibt er.

    Polytheismus und Monotheismus

    Der Unterschied zwischen dem antiken Polytheismus und dem jüdischen Monotheismus liegt nicht nur darin, viele Götter zu haben versus einen einzigen Gott zu verehren. Die Götter des Polytheismus waren immer lokale Götter sowohl in geografischer als auch in sozialer Hinsicht, das heißt, sie beschützten bestimmte, konkrete Interessen in einer Region oder in einer Gesellschaftsgruppe. Der Gott des Monotheismus hingegen war im Prinzip universell.

    Der Gott der Juden wollte keinen anderen Gott neben sich haben – nicht weil er jüdisch war, sondern weil er der einzige war. Innerhalb des Polytheismus war die Bekehrung Ungläubiger vollkommen sinnlos. Man konnte sich nicht zu der griechischen oder der römischen Religion »bekehren«. Im Polytheismus konnte man sich über den Schutz der verschiedenen, lokalen Götter freuen, je nachdem, für welche Reiseroute man sich entschied und womit man sich beschäftigte. Innerhalb der polytheistischen Religion als Bezugssystem hatten alle ihre eigenen Vorstellungen und Praktiken.

    Den Gott des Monotheismus hat man immer bei sich, egal wo auf der Welt man sich befindet. Im Monotheismus teilen die Glaubensgenossen Vorstellungen in einer ganz anderen Weise. Dort gibt es eine rechte Lehre und entsprechend Ketzer. Es handelt sich also nicht nur um verschiedene Religionen, Polytheismus und Monotheismus sind vielmehr, wie bereits erwähnt, vollkommen verschiedene Religionstypen. Im Polytheismus kann der Kaiser ein Gott unter vielen anderen sein. Im Monotheismus kann der Kaiser nur göttlich sein, indem er sich zum Werkzeug macht und den Willen des einzigen Gottes praktiziert. Es ist ein zentrales Paradox des Monotheismus, dass er in der Beziehung zwischen den Gläubigen und einem nicht monotheistischen Umfeld isolierend wirkt, und dennoch – potenziell – alle Menschen ohne Unterschied umfasst. Nach und nach hoben die Missionstätigkeit und die militärische Expansion dieses Paradox in der Praxis jedoch auf.

    1

    Über die Geschichte des Antisemitismus gibt es umfassend Literatur, sowohl für die einzelnen Epochen als auch Gesamtübersichten. Das Standardwerk ist noch immer Léon Poliakov: The History of Antisemitism. Bd. 1–4. London 1965–77. Mein Beitrag zu diesem Buch war ursprünglich eine Vorlesungsreihe über dieses große Werk und in vielerlei Hinsicht von Poliakovs Darstellung abhängig. Zur ursprünglichen Version gehörte auch Stoff aus Friedrich Heers inspirierenden Büchern: Gottes erste Liebe. München 1967, und Der Glaube des Adolf Hitler. München 1968.

    2

    Bzgl. der Schwierigkeiten siehe Langmuir, Gavin: Towards a Definition of Antisemitism. Berkeley 1996. Ausgezeichnete ideengeschichtliche Behandlung bei Mosse, G.: Towards the Final Solution. A History of European Racism. New York 1978. Man könnte den religiös begründeten Judenhass selbstverständlich als »Anti-Judentum« bezeichnen (entsprechend dem englischen anti-judaism), das würde jedoch eine künstliche Grenze zwischen Person und Religion erschaffen, die in der historischen Wirklichkeit nicht existierte.

    3

    Katz, Jacob: Exclusiveness and Tolerance. Studies in the Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times. Oxford 1961. Wertvoll, weil es die Kontroversen aus der Sicht beider Seiten wiedergibt. Neben Léon Poliakov war Katz eine Hauptquelle für diese Darstellung.

    4

    Eine gute, aber weit entfernt von umfassende Textsammlung liefert Bartlett, John R.: Jews in the Hellenistic World. Cambridge 1985. Das Standardwerk ist nunmehr der komplette Feldman, Louis H.: Jew & Gentile in the Ancient World. Princeton 1993. Das Neueste auf dem Gebiet ist Schäfer, Peter: Attitudes towards the Jews in the Ancient World. Cambridge, MA 1997.

    Trond Berg Eriksen

    2. Der alte und der neue Bund

    Der prinzipielle Antisemitismus entstand mit dem Christentum, das die Forderung stellte, den alten Bund zu ersetzen. Der Begriff einer Kirche, wie er sich unter den Kirchenvätern entwickelte, trug sozusagen immer einen Stachel gegen jene in sich, die den lebendigen Heiland nicht erkannt hatten und die dadurch Gottes Wohlwollen verloren hatten. Der theologische Antisemitismus beschäftigte sich selten mit den »Christusmördern«, war jedoch umso stärker daran interessiert, dass das neue Gottesvolk, nämlich die christliche Gemeinde, das alte Gottesvolk letztlich zu Lügnern machte.1

    Von Gott auserwählt

    Jüdischer Auffassung nach war Israel das von Gott auserwählte Volk, weil es das Gesetz empfangen hatte. Die Vorstellung vom Auserwähltsein erzeugt eine Dichotomie im jüdischen Denken, die alle Aspekte des jüdischen Selbstverständnisses bestimmt. Auch die Christen verfügten in der Idee von der Kirche als dem neuen Bundesvolk über eine Lehre der Auserwählung, eine religiöse Mehrheit mit politischer Übermacht hat es jedoch nicht nötig, das Denken von diesem Bewusstsein dominieren zu lassen. Das Thema der Auserwählung der Juden wurde so stark hervorgehoben, weil die Juden über lange Zeiträume hinweg kaum etwas anderes hatten, auf das sie sich stützen konnten. Jüdische Theologen wehrten sich auch gegen die christliche Theologie und bestritten ausdrücklich und heftig, dass Jesus der Messias gewesen sein soll.

    Kein christliches Symbol stimmte die Juden verdrießlicher als das Bild von Christus am Kreuz. Einen Menschen zu Gott zu machen, so wie die Christen es getan hatten, stellte ihren monotheistischen Glauben fundamental in Frage.

    Jüdische Theologen kontrastierten besonders ab dem 10. Jahrhundert ihren bildlosen, reinen Glauben mit der christlichen Bilderverehrung. Das Bilderverbot wurde auch als Grund der Ablehnung von Christus als Abbild Gottes interpretiert. Denn in jüdischen Traditionen lässt Gott sich nicht abbilden. Deshalb kann er auch keinen Sohn haben, der sein exklusives Abbild ist.

    Die Charakterisierung der Christen als »Götzendiener« erlegte dem Umgang mit Christen im Mittelalter von jüdischer Seite aus prinzipielle Beschränkungen auf: Das Eheverbot, das Verbot gemeinsam mit Christen zu speisen – ja, Wein zu trinken oder gekochtes Essen zu sich zu nehmen, das »Heiden« (das heißt Christen) zubereitet hatten – oder auf dem Weg zur oder von der Kirche irgendwelchen Umgang mit »Heiden« (das heißt Christen) zu pflegen, waren Verbote, die sich in vielen Varianten fanden. Für eine kleine Minderheit in einem christlichen Land ist die Fülle solcher Regeln selbstverständlich schwer zu praktizieren. Erst theologische Interpretationsräume und Auslegungen ermöglichten einer jüdischen Minderheit, solche Verbote gehorsam zu befolgen und gleichzeitig in fremden Umgebungen zu überleben. Streng genommen, konnten Juden vor christlichen Gerichten keinen Eid ablegen oder den Schwur von Christen als bindend anerkennen. Dadurch konnten die Juden mit ihren christlichen Handelspartnern keine rechtsverbindlichen Verträge eingehen. In der Praxis fand man jedoch auf beiden Seiten Umwege, so lange man einsah, dass allen damit gedient war. Von dem Augenblick an, in dem man die theologischen Prinzipien nicht mehr von der Aussicht auf gegenseitige Vorteile besänftigen ließ, rückte indessen die Katastrophe näher.

    Dies geschah in dem Augenblick, als man die idealen Vorstellungen des Wahrheitsmonopols auf beiden Seiten zu verwirklichen trachtete, ohne Rücksicht auf den praktischen Nutzen und gegenseitige Vorteile zu nehmen. Dort, wo die jüdischen Gruppen klein waren – in den Dörfern des Mittelalters bestanden die jüdischen Gemeinden oft nur aus etwa 20 Personen – und sie nicht überleben konnten, ohne Fleisch, Wein, Brot, Milch oder Käse zu verzehren, die »Heiden« (das heißt Christen) berührt hatten, waren die Konsequenzen vernichtend. Am größten war die Angst vor dem Wein der »Heiden«, weil dieser eine zentrale Rolle im christlichen Gottesdienst spielte.

    Hier waren religiöse Tabus wichtig. Denn andere alkoholhaltige Getränke, ausgenommen Wein, kaufte man gern von den »Heiden«. Im gesellschaftlichen Umgang mit »Heiden« zusammen zu trinken, war und blieb im religiösen Sinne jedoch verboten. Dass die Verbote überhaupt formuliert wurden, bedeutet wohl, dass es in der Praxis etwas lockerer zuging. Juden konnten im Prinzip auch nicht mit Bildern oder Gegenständen handeln, denen im christlichen Kult eine Rolle zufiel. Eine Methode der Juden, religiöse Tabus zu neutralisieren, bestand darin, die Gegenstände ausschließlich unter ihrem Geldwert zu betrachten und die Unreinheit zu vergessen oder von dieser abzusehen, die der Berührung oder dem Gebrauch durch die »Heiden« folgte.

    Die Ausbreitung des Christentums

    Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sah der römische Historiker Sueton keinen Unterschied zwischen Juden und Christen.2 Das Christentum verbreitete sich anfangs als eine sektiererische Bewegung innerhalb des jüdischen Diasporamilieus. Starke ideologische Mittel waren vonnöten, um die Eigenart der neuen Religion zu begründen. Jesu eigene Verkündigung wich nicht in vielen Punkten vom Judentum ab. Die Verkündigung von Jesus als Messias erforderte jedoch, dass einige neue Trennlinien gezogen wurden.

    Die Erzählung von den Ostergeschehnissen im Markusevangelium macht die Juden zu den Hauptverantwortlichen für die Hinrichtung Jesu. Vieles deutet darauf hin, dass diese Erzählung bereits ein Beitrag im Streit zwischen den beiden Glaubensrichtungen war. Die Juden wurden zu den Hauptverantwortlichen gemacht, weil man sie im Duell der Religionen hier und jetzt bezwingen wollte.

    Bei der Gestalt des Judas Iskariot und den mit ihr verbundenen Legenden, wie etwa seines aus vermeintlicher Geldgier begangenen Verrats an Jesus, kann es sich um ein Produkt desselben polemischen Interesses handeln. Die neue, christliche Religion profilierte sich auf Kosten der alten, jüdischen. Erst nachdem Titus im Jahr 70 n. Chr. den Tempel in Jerusalem zerstört hatte, wurde der christliche Glaube ernsthaft ins Ausland befördert. Paulus vollendete die Trennung des Christentums vom Judentum, indem er neu bekehrte Christen von den Forderungen des jüdischen Gesetzes ausnahm, vor allem von der Pflicht zur Beschneidung. Von diesem Augenblick an war es nicht mehr notwendig, zunächst Jude und dann Christ zu sein. In jüdischer Perspektive wurden die Christen sowohl Ketzer als auch Abtrünnige. In christlicher Perspektive waren die Juden Opfer ihrer eigenen Untaten sowie ihrer eigenen Blindheit. Gott hatte sie fürchterlich dafür gestraft, den Messias nicht erkannt zu haben, als dieser erschienen war.

    Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 war in den Augen der Christen ein Beleg dafür, dass Gottes Geduld mit den Juden zu Ende war, und die Christen inszenierten ihre Identität als das neue Gottesvolk, das einen neuen und exklusiven Bund mit dem einzigen und höchsten Gott geschlossen hatte.

    So begann das Christentum seinen Siegeszug als ein Monotheismus ohne dieselben starken Bindungen an eine bestimmte Kultur, wie das Judentum sie hatte. Wer sich für das Judentum entschied, erhielt eine umfassende kulturelle Identität als Zugabe. Wer sich für das Christentum entschied, bekam eine Religion, die mit vielen verschiedenen kulturellen Identitäten vereinbar war. Die christliche Bekehrungstätigkeit hatte innerhalb des Römischen Reiches großen Erfolg, jedoch schlossen sich dem neuen Bund äußerst wenige Juden an. Die Irritation über den Widerstandswillen der traditionsbewussten Juden verstärkte das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Religionen, die derselben Wurzel entsprangen.

    Die Position Augustinus’

    Bei Augustinus (354–430) erhielten die Juden allerdings auch eine positive Rolle im christlichen Weltbild sowie in der christlichen Geschichtsdarstellung. Unter Verweis auf den Römerbrief des Paulus (Röm 11,26) bezeichnete er die Juden als Zeugen und Beweis für die Wahrheit der christlichen Lehre (Civ. Dei 28,46). Die Juden brächten ihre Bücher überall mit hin und stützten die christliche Verkündigung, indem sie die Echtheit der Schriften garantierten, die die Prophezeiungen über Christus enthielten. Sie hätten diese Prophezeiungen allerdings falsch verstanden und damit ein Anrecht auf sie verloren. Sie belegten jedoch zumindest, dass die Christen diese Voraus­sagen nicht selbst erfunden hätten. Das Gesetz sei nicht ungültig geworden, müsse jedoch als Vorzeichen der Kirche und ihrer Lehrsätze gelesen werden. Der Sinn des Passahlamms sei Christus. Augustinus verband die Juden mit der Apokalypse, indem er sich am Tag des Jüngsten Gerichts eine Bekehrung der Juden erhoffte (Civ. Dei 18,46; 20,29).

    Deshalb sollten die Christen die Juden mit Respekt behandeln: Am Ende würden sie sich bekehren. Paulus zufolge besteht der neue Bund Gottes mit Israel im Versprechen der am Ende eintretenden Bekehrung. Die Juden hätten also durchaus noch einen Platz in Gottes Heilsplan. Aber auch bei Augustinus sind die Juden ein Symbol für alle Ketzer. Auch Augustinus macht die Juden für den Tod Christi alleinverantwortlich (Civ. Dei 20,20). Die Heiden haben Christus nicht gesehen. Daher sei es vielleicht nicht so verwunderlich, dass es ihnen schwerfällt, an ihn zu glauben. Die Juden jedoch haben Christus gesehen und wollen dennoch nicht glauben. Wieder und wieder wird gesagt, dass die Juden »starrköpfig« und »blind« seien. Für Augustinus wie für die anderen Kirchenväter ist der Glaube an Christus die Eintrittskarte in »das wahre Israel«, das jetzt die Kirche ist (Adv. Jud. 5,6).

    Augustinus verwendet die Erzählung über Ham und Sem, Esau und Jakob, um den Wechsel des Bundes aus der jüdischen Überlieferung selbst zu belegen. Ham und Esau symbolisieren dabei die Juden, Sem und Jakob hingegen die Kirche. Spätere einflussreiche christliche Theologen wie Gregor der Große, Innozenz III., Bernhard von Clairvaux und auch Thomas von Aquin verwendeten Augustinus’ Auslegung bezüglich des Verhältnisses zwischen den beiden Religionen, wenn sie begründen, warum die Juden beschützt werden müssen. Auch Martin Luther bediente sich Augustinus’ Theologie über die Juden, kommt jedoch zu Schlussfolgerungen, die auf brutale Weise anders sind.

    Beide Gruppen beriefen sich auf dasselbe heilige Buch, die Tora und die Propheten – das »Alte Testament«. Beide beanspruchten den Gott Abrahams zu repräsentieren. Die Rivalität zweier monotheistischer Religionen ist etwas vollkommen anderes, als wenn eine oder beide Parteien polytheistisch gewesen wären. Die Römer übernahmen mehr oder weniger die Götter der Griechen als Teil einer größeren kulturellen Erbschaft. Zwei monotheistische Religionen können jedoch nicht in vollkommener Eintracht zusammenleben. Für mehr als einen universellen Gott ist kein Platz. Daher wurde der Kampf zwischen Judentum und Christentum zu einem ideologischen Kampf darüber, wer das wahre Kind Gottes ist.

    Aus christlicher Perspektive musste der Anspruch der Juden mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass sie ihre Chance verspielt hätten – und das gründlich. Sie hätten es nicht nur versäumt, den Messias zu erkennen, sie hätten ihn auch noch getötet. Deshalb habe Gott sie zurückgewiesen und sich eine neue Gemeinde auserwählt. Der Exklusivitätsanspruch und der Universalitätsanspruch, die dem strengen Monotheismus folgen, machten die beiden Religionen unvereinbar. Das bedeutet nicht, dass der deutsche Historiker Ernst Nolte recht hatte, als er das Christentum in einem Spiegel-Interview (1994) als eine »antisemitische« Religion bezeichnete.3 Jedoch ist das Christentum eine Religion, die das Judentum notwendigerweise auf eine Teilwahrheit oder eine Halbwahrheit reduzieren muss. Nur so können das Christentum und die Kirche ihre eigenen Ansprüche erklären.

    Das wahre Kind Gottes

    Die beiden Gruppen kämpften nicht nur darum, den Gott Abrahams zu repräsentieren, es ging auch um das Recht, dieselben Texte ihren unterschied­lichen Traditionen entsprechend auszulegen. Das Christentum wollte eine lange religiöse Tradition als eigene Vorgeschichte konfiszieren. Der alte Bund, das »Alte Testament«, offenbare seinen vollen Sinn erst im »Neuen Testament«, in dem neuen Bund, hieß es.

    Nach dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135 wurde es für die Christen noch wichtiger, sich von den Juden zu distanzieren, um nicht den Zorn der Römer auf sich zu ziehen. Erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts begann das offizielle Rom zu verstehen, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gab. Die christliche Propaganda war weitaus effektiver als die jüdische, weil sie ein besseres Angebot zu einem niedrigeren Preis offerierte, die Juden fuhren jedoch bis zur Zeit Konstantins des Großen mit ihrer Missionierungstätigkeit in der hellenistischen Welt fort.

    Faktisch zogen die Juden viele Heiden an, die zuvor Christen geworden waren. Das trug keineswegs zu einer Entspannung des Verhältnisses zwischen den Gruppen bei. Ein wichtiger zusätzlicher Grund, das christliche Osterfest demonstrativ zu feiern, lag bereits in den ersten Jahrhunderten darin, dass gerade diese Feier die Unterschiede zwischen den beiden Religionen betonte. Man gedachte der Leiden Christi in einer ganz bestimmten Weise. Nicht nur sollten die Qualen Christi in Erinnerung gerufen, sondern gleichzeitig auch die Schuld der treulosen Juden an dem Geschehen unterstrichen werden. Die Judas-Legende rechtfertigte die Zurückweisung des alten Gottesvolkes und wurde als eine Wesensbeschreibung für die Juden verwendet.

    Bereits die hebräischen Buchstaben nährten im Umfeld Misstrauen. Die geheimnisvollen Zeichen rochen angeblich geradezu nach Beschwörungen und schwarzer Magie. Über andere Meinungen oder ein anderes Glaubensbekenntnis zu sprechen, war zu abstrakt. Worauf es ankam, war, dass sich die Juden mit anderen Bräuchen, Riten und Zeichen umgaben. Sie repräsentierten eine umfassende und eigenständige Kultur mit allem, was dazugehörte.

    In vormoderner Zeit waren die sichtbaren Unterschiede immer wichtiger als die unsichtbaren. An verschiedenen Orten kamen der (Juden-)Hut, der (gelbe) Ring und das Stück Stoff hinzu, damit die (jüdische) Identität der betreffenden Person für alle erkennbar war und alle rechtzeitig gewarnt waren. Denn mit den Ungläubigen stimmte angeblich etwas nicht. Sie weigerten sich, sich taufen zu lassen, obwohl sie doch wissen mussten, dass der größte vorstellbare Gewinn auf die Getauften wartete. Eine solche Ablehnung konnte nach Ansicht der Christen nur reiner Bosheit oder dem Umstand geschuldet sein, dass sie von Dämonen besessen waren.4

    1

    Bzgl. dieser Auseinandersetzung siehe Dahl, Nils Alstrup: Das Volk Gottes: eine Untersuchung zum Kirchenbewusstsein des Urchristentums. Oslo 1941, und Davies, A. T. (Red.): Antisemitism and the Foundations of Christianity. New York 1979. Siehe auch Schreckenberg, Heinz: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. Frankfurt/Main 1982.

    2

    Siehe Gager, John G.: The Origins of Anti-Semitism. Attitudes towards Judaism in Pagan and Christian Antiquity. Oxford 1985. Aufschlussreich ist auch Wilcken, R. I.: The Christians as the Romans Saw Them. New Haven und London 1984.

    3

    Zu Ernst Nolte siehe Charny, Israel W. (1997): »L’intolerable perversion des universitaires négateurs du génocide Armenien ou de l’Holocauste« in: Revue du monde Armenien moderne et contemporaine. 3, S. 123–141.

    4

    Siehe zum Beispiel Trachtenberg, Joshua: The Devil and the Jews. New Haven 1943.

    Trond Berg Eriksen

    3. Diaspora

    Bereits in der vorchristlichen Zeit gab es in allen größeren Städten rund um das Mittelmeer jüdische Viertel. Das große Schwellenereignis war selbstverständlich die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 durch den späteren Kaiser Titus, das im Titusbogen in Rom dargestellt ist. Damit erhielt das Diaspora-Dasein einen anderen Charakter, und die Juden verloren ihr Zentrum im Heiligen Land. Für die Verbreitung des Christentums im Mittelmeerraum waren die jüdischen Diaspora-Viertel enorm wichtig. Nach dem Verschwinden des Gravitationszentrums in Jerusalem breiteten sich die jüdischen Gemeinden über die ganze Welt aus und entwickelten eigene kulturelle Traditionen.1

    Die Skepsis der Kirche

    Über die Lebensbedingungen der Juden in Europa vom frühen Mittelalter bis zur Zeit Karls des Großen ist wenig bekannt. Auch für andere Aspekte des Lebens in diesem Zeitraum sind die Quellen spärlich. Aus dem 6. Jahrhundert ist aus dem französischen Raum jedoch eine Reihe von Konzilbeschlüssen bekannt, die Christen die Tischgemeinschaft mit Juden sowie Mischehen untersagten und den Juden in der Osterzeit Ausgangssperre erteilten. Letztgenanntes kann mit etwas Wohlwollen als ein Versuch auf­gefasst werden, die Juden vor gut inszenierten christlichen Aggressionen zu schützen.

    Im frühen Mittelalter betrachteten die Männer der Kirche das Judentum häufig als eine Ketzerbewegung. In seinem Werk Historia Francorum (Geschichte der Franken) ist der Bischof und Hagiograf Gregor von Tours (538–594) sehr deutlich in seiner Ablehnung der Juden als treulose und boshafte Lügner. Aus Gregors Tiraden ist zu erfahren, dass die Juden im 6. Jahrhundert alle Berufe ausübten und in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden waren. Auch das Tragen von Waffen war ihnen nicht untersagt. Kirchliche Beamte übten beständig Druck auf Könige und Fürsten aus, die ihrer Ansicht nach beim Schutz des religiösen Konkurrenten viel zu weit gingen.

    Während der karolingischen Renaissance verfasste Erzbischof Hagbart von Lyon (779–840) eine Serie von Briefen, um vor den Privilegien der Juden zu warnen. Bei Hagbart bildet noch immer die Konkurrenz zu dem alten Bundesvolk das Hauptthema. Seinen Aussagen zufolge verbreiteten die Juden Lügen über Jesus, die Jungfrau Maria sowie die Apostel. Sie hielten sich christliches Dienstpersonal, das sie mit ihren eigenen Überzeugungen indoktrinierten. Mancherorts seien die Juden so mächtig, dass sie die Markttage ändern lassen konnten, um am Sabbat frei zu haben, klagt er.

    Der Angriff des Erzbischofs war theologisch begründet. Er wollte die Gemeinde der Gläubigen vor der von den Juden angeblich verbreiteten Verwirrung retten. Es drehte sich nicht um »Antisemitismus« im strengen Sinne, sondern um normale religiöse Rivalität. Ein religiöses Konkurrenzverhältnis zum Glauben der Juden kann allein kaum als »Antisemitismus« bezeichnet werden. Erst wenn sich Vorstellungen über eine beständige Minderwertigkeit der Juden entwickeln – Vorstellungen, die summarische Übergriffe auf die Volksgruppe auslösen und legitimieren –, kann man mit Recht von »Antisemitismus« sprechen.

    Vorläufig keine Dämonisierung

    Weltliche Herrscher haben in Bezug auf die Juden nicht immer auf den Rat der Bischöfe gehört. Gegen Hagbarts Ermahnungen bestätigte Ludwig der Fromme (778–840) die Privilegien der Juden. Wäre die Kultur ausschließlich und monolithisch christlich geworden, hätte das die Freiheit der weltlichen Herrscher gegenüber der Kirche eingeschränkt. Die Herrscher mussten zeigen, dass sie auch Könige für die Nichtgläubigen waren. Solche Konflikte trugen dazu bei, eine relative Unabhängigkeit der politischen Führung von der Kirchenleitung sichtbar zu machen.

    Im frühen Mittelalter begegnete man nirgends einer Dämonisierung der Juden als Giftmischer, Kindermörder und Religionsfrevler, wie sie dann im Hochmittelalter üblich wurde. Es finden sich auch keine Spuren von vom gemeinen Volk ausgehenden Aggressionen. Der Judenhass wurde von oben gesteuert. Die Männer der Kirche wollten Bekehrungen zum Judentum und Ehen zwischen Juden und Christen verhindern. Sie waren empört darüber, dass Juden sich noch immer als das einzige Gottesvolk betrachteten. Ihre bloße Existenz stelle die christliche Verkündigung von Jesus als dem Messias auf böswillige Weise in Frage. Nichts deutet darauf hin, dass sich Juden im frühen Mittelalter im Westen im sozialen Raum sichtbar von ihren christlichen Nachbarn unterschieden. Mischehen hatten eventuelle sichtbare Eigenarten längst verwischt.

    Abb. 1: Nachdem der römische General, und spätere Kaiser, Titus im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem geplündert hatte, bringen römische Soldaten die Tempelschätze aus Jerusalem nach Rom. Vom Titusbogen am Forum Romanum in Rom.

    Sowohl in Frankreich als auch andernorts lebten die Juden in hohem Maße als eine sich selbst verwaltende Bevölkerungsgruppe mit eigenen Regeln und Gesetzen. In den größeren Städten Frankreichs und entlang des Rheins gab es jüdische Stadtteile, die jedoch noch nicht von den Stadt­teilen der christlichen Mehrheit abgegrenzt waren. Erst im 11. Jahrhundert kam es zu großen Veränderungen in der rechtlichen Stellung der Juden. Nach der Ermordung des Patriarchen von Jerusalem und einer angeblichen Zerstörung des heiligen Grabs entstanden Gerüchte, Juden hätten sich an dem Angriff der Muslime beteiligt. Das war der Startschuss für eine Reihe antijüdischer Ausschreitungen in mehreren französischen, deutschen und italienischen Städten. Auf den nun beginnenden Kreuzzügen kam es massenhaft zu antijüdischen Morden und Raubzügen, die unter Hinweis auf die Gerüchte nun ungestraft blieben und religiös entschuldigt wurden.

    In allen Berufen

    Im frühen Mittelalter waren Juden in allen Berufen zu finden, besonders aktiv und damit sichtbar waren sie jedoch als Kaufleute. Ein bedeutender Anteil des internationalen Handels ging durch ihre Hände, vor allem der Handel im Osten. Sie verfügten sowohl über Kontakte in den Städten des Ostens als auch über Stützpunkte in den jüdischen Siedlungen entlang des Weges. Ab dem 11. Jahrhundert übernahmen jedoch unter anderem die Venezianer einen größeren Anteil jenes Handels. Auch andere Gruppen entdeckten nun diesen mit der sich entwickelnden Geldwirtschaft wachsenden Wirtschaftszweig. Juden wurden zunehmend verdrängt und allzu oft in die Kredittätigkeit hineingetrieben. Die zunehmend unsicheren Lebensbedingungen hatten bereits dazu geführt, dass viele Juden sich auf mobile Werte konzentrierten. Vielerorts wurde ihnen untersagt, Land zu besitzen und christliche Bedienstete anzustellen. Daher mussten sie andere Überlebensstrategien wählen oder neue entwickeln.

    Auf diese Weise standen die Juden außerhalb des sich entwickelnden Feudalwesens und mussten auf Gewerbe und Eigentumsformen setzen, die mit der neuen Stadtkultur aufblühten. Der Geldverleih gegen Zinsen war eine gefragte und einträgliche Tätigkeit. Die Kirche widersetzte sich diesem Gewerbe und setzte Christen hier enge Grenzen. Juden befanden sich jedoch außerhalb der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Sie liefen nicht Gefahr, exkommuniziert oder bei der Inquisition angezeigt zu werden, wenn sie Geld gegen Zinsen verliehen. Die Tätigkeit war verboten, sozial und ökonomisch jedoch erforderlich. Daher war nichts naheliegender, als diese Tätigkeit den Juden zu überlassen. Schließlich waren sie ohnehin verloren. Nach und nach umgingen auch Teile der christlichen Bevölkerung das Verbot der Kirche, aber in einer Übergangsphase hatten Juden auf diesem wachsenden Markt einen Vorteil.

    Geldverleih ist allerdings riskant, wenn der Kreditgeber keinen vollen rechtlichen Schutz genießt.2 Kreditnehmer werden immer nach Möglichkeiten suchen, sich der Rückzahlung des Geliehenen zu entziehen. Als am äußeren Rand der christlichen Gesellschaft und ihrer Sanktionssysteme Lebende waren Juden besonders gefährdet. Sie benötigten einen besonderen Schutzstatus durch die Herrschenden. Könige und Feudalherren wie die deutschen Kaiser, französischen Feudalherren oder der englische König waren bereit, diesen gegen einen großen Anteil vom Verdienst zu vergeben. Die im Geldverleih tätigen Juden wurden so gezwungenermaßen zu Steuer­eintreibern für ihre Beschützer.

    Kreditgeber sind bei den Kreditnehmern nie beliebt. Der Geldverleih gegen Zinsen unter den Bedingungen der Schutzbriefe der Herrschenden führte dazu, dass Juden von den Schuldnern zudem als Männer des Kaisers, des Fürsten oder des Königs dargestellt wurden. In den Vorstellungen der Schuldner wurden sie in gewisser Weise mit den Herrschenden identifiziert, mit denen sie sich angeblich gegen das Volk verschworen hatten. Minderheiten wurden auch früher meist mit denjenigen ihrer Vertreter identifiziert, die eine exponierte Position bekleideten. Obwohl die europäischen Juden abgesehen vom England des 12. Jahrhunderts niemals ein Monopol im Geldverleih hatten und nur eine Minderheit der Juden im Kreditwesen tätig war, setzte sich das Bild des jüdischen Wucherers im Bewusstsein vieler Zeitgenossen als ein Archetyp fest. Dieses findet sich in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig (1598) vollständig ausgeformt. Dieser Archetyp wurde von der Erinnerung an Judas Iskariot genährt, der Christus für 30 Silberlinge verkauft hatte. Die Übereinstimmung zwischen der legendären Gestalt und einem vorherrschenden Bild festigte die Aufmerksamkeit auf den Juden als Geldverleiher.3

    Seit der Zeit Karls des Großen standen die Juden unter dem besonderen Schutz der jeweiligen Könige. Das beinhaltete auch, dass sie mit ihnen machen konnten, was sie wollten. Die Juden mussten stets unter bestimmten, definierten Bedingungen leben. Nur unter diesen Bedingungen waren sie Rechtssubjekte wie die »Eingeborenen«, die Christen, es waren. Dennoch hatten die Juden sowohl auf deutschem als auch auf französischem Gebiet bis weit in das 13. Jahrhundert hinein das Recht, Waffen zu tragen.

    1

    Eine große und aufschlussreiche Artikelsammlung, in der genau das die Hauptperspektive bildet, liegt jetzt vor mit Biale, David (Red.): Cultures of the Jews. A New History. New York 2002.

    2

    An Detailkenntnissen über die Wirtschaft des Mittelalters fehlt es in der gesamten Literatur. Erst wenn wir zum 15. Jahrhundert und dem Zeitraum kommen, den Werner Sombart in: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911, behandelt, werden die Detailkenntnisse etwas konkreter.

    3

    In Cecil Roths Büchern: A History of the Jews in England. Oxford 1941, und The History of the Jews of Italy. Philadelphia 1946, wird die Tätigkeit der Geldverleiher im Mittelalter in ihren sozialen Kontext gesetzt. Was Deutschland betrifft, siehe Caro, G.: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden. 2 Bde. Berlin 1908–20, das noch immer die beste Übersicht liefert.

    Trond Berg Eriksen

    4. Kreuzzugbegeisterung

    Der Kreuzzuggedanke des 11. Jahrhunderts entsprang einem Traum, das Heilige Land gewaltsam von den Heiden zurückzuerobern. Juden und Muslime wurden in einen Topf geworfen, sodass die Kreuzzugbegeisterung in den europäischen Städten auch zu Ausschreitungen auf jüdische Viertel führte. Die Dämonisierung der muslimischen Gegner brachte eine ent­sprechende Dämonisierung der Juden mit sich.1 Die Theologen der Kreuzzugzeit hatten – mit Ausnahme von Pierre Abaillard (1079–1142) – nur undeutliche Vorstellungen davon, dass Islam, Judentum und Christentum historisch betrachtet verwandte, biblische Religionen waren.

    Kreuzzüge außerhalb und zu Hause

    Sowohl politische als auch kirchliche Anführer widersetzten sich den barbarischsten Formen der Kreuzzugbegeisterung – oft mit erheblichem persönlichen Risiko. Aber ebenso oft mussten sie sich der mächtigen Mischung aus Gier und religiöser Aufruhr ergeben. Bei den Massakern an Juden entlang des Rheins und in Frankreich wurde niemand verschont, weder Frauen noch Kinder. In Mainz, Worms und Köln wurden die jüdischen Kolonien im 12. Jahrhundert mehr oder weniger ausgelöscht. Viele Juden begingen kollektiven Selbstmord, bevor sie sich zwangstaufen ließen. Die gewalttätigen Ereignisse verstärkten den Hass.

    Juden und Christen lebten in unmittelbarer Nähe zueinander. Daher konnte es vorkommen, dass jemand die Grenze überschritt und sich der anderen Religion zuwandte. Mit einigen Abtrünnigen musste man auf beiden Seiten rechnen, zudem gab es eine gewisse Missionstätigkeit. Auf jüdischer Seite war die Angst vor Zwangstaufen groß und wohlbegründet.

    Einige Juden nahmen das Christentum jedoch aus Überzeugung an, andere wiederum nach Kontroversen mit ihren Glaubensgenossen oder Eltern. Die Bekehrung zum Christentum bedeutete eine Anpassung an die vorherrschenden Sitten und Werte. Der Christ, der zum Judentum übertreten wollte, musste das ganze Gesetz (Tora) aus persönlicher Überzeugung anerkennen. Viele mussten sich vorher warnende Worte anhören, und viele Stimmen innerhalb der jüdischen Kultur lehnten Proselyten völlig ab. Das Ausmaß der Übertritte in die eine oder andere Richtung ist für keinen Ort im Mittelalter zahlenmäßig dokumentiert.

    In der Kreuzzugzeit ging der Judenhass in eine neue Phase über. Der deutsche König und Kaiser Heinrich IV. (1050–1106) betrachtete sich als Schutzherr für alle seine Untertanen. Den zwangsgetauften Juden billigte er ausdrücklich das Recht zu, zu ihrem alten Glauben zurückzukehren. Dem wollte Papst Clemens III. (1084–1100) jedoch nicht ohne Weiteres zustimmen. Die Kirche könne, argumentierte der Papst, nur dann etwas als »Zwangstaufe« anerkennen, wenn der Getaufte an Ort und Stelle protestiert hatte. In der Praxis gab es dafür keine Beispiele. Denn die Juden, die gegen die Zwangstaufe protestierten, wurden an Ort und Stelle getötet.

    Neue Anschuldigungen

    Dem Ersten Kreuzzug (1095–1100) folgten einige friedliche Jahre für die Juden in Europa. Nach dem Fall des infolge des Ersten Kreuzzuges gegründeten Kreuzfahrerstaates Edessa in Kleinasien im Jahre 1146 riefen der König von Frankreich, der deutsche Kaiser, Papst Eugen III. und Bernhard von Clairvaux zu einem neuen Kreuzzug auf. In Teilen des Volkes richtete sich der Hass jedoch erneut zunächst gegen die Juden in den europäischen Städten. In der Zeit rund um den Zweiten Kreuzzug wies die Propaganda gegen die Juden jedoch auch einige neue Motive auf: die Anschuldigung des Ritualmordes an christlichen Kindern sowie die Beschuldigung der Hostienschändung.

    Die Anschuldigung der Hostienschändung stand in enger Verbindung mit der Charakterisierung der Juden als Christusmörder. Angeblich verachteten sie den Leib Christi – die Hostie. Auch die Anklage der Ermordung christlicher Jungen war eine Wiederholung eines neutestamentlichen Er­eignisses – nämlich des Kindermordes in Bethlehem. Die neue Qualität dieser Vorwürfe im Jahr 1146 bestand darin, dass Juden vorgeworfen wurde, solche Grausamkeiten nicht nur bereits vor langer Zeit ausgeführt zu haben – das »wussten« alle –, sondern, dass sie noch immer die gleichen Untaten begehen würden. Somit trugen sie nicht nur die Schuld für etwas, das sich zum Beginn der Zeitrechnung zugetragen hatte, ihnen wurde auch ein Wesen zugeschrieben, das sich seit dem Mord an den unschuldigen Jungen in Bethlehem und dem Mord an Christus in Jerusalem nicht verändert hatte. Hierin lag die ideologische Voraussetzung für die Angriffe im 12. Jahrhundert.

    Abb. 2: Drei gekrönte Kreuzfahrer – einer nachdenklicher als die beiden anderen – töten zwei an ihren Hüten leicht zu erkennende Juden, während zwei Heilige für ihre Seelen beten. Bibelillumination aus Frankreich, ca. 1250.

    Viele haben auf die Radikalisierung der antisemitischen Propaganda im 12. Jahrhundert hingewiesen.2 Eine Erklärung hierfür sind die Kreuzzüge. Eine andere Erklärung verweist auf die veränderte soziale und ökonomische Rolle der Juden – ihre Spezialisierung auf Finanzgeschäfte und Steuereintreibung. Eine dritte Erklärung weist darauf hin, dass die Juden in Nordeuropa, wo die Auseinandersetzungen besonders bitter waren, relativ neue Einwanderer waren. Auf jeden Fall ist unverkennbar, dass die häufigsten und größten Judenmassaker zeitlich mit den Kreuzzügen zusammenfallen. Sowohl der Dritte Kreuzzug 1183 als auch der Kampf gegen die Katharer 20 Jahre später brachten die Juden in England, Deutschland und Frankreich in eine äußerst bedrängte Lage.

    Auch in Spanien wurden die Kreuzzüge mit Überfällen auf die jüdischen und die muslimischen Minderheiten eingeleitet. Fürsten, Könige und Bischöfe griffen nicht selten resolut ein, um den Zorn des Volkes zu dämpfen, oftmals jedoch ohne Erfolg. Kirchenvertreter hatten schließlich selbst viele der ideologischen Voraussetzungen für die Dämonisierung der Fremden geliefert. Das Grauen der Leiden Jesu wurde in der kirchlichen Festtagsliturgie dramatisiert, und die Abweisung des alten Bundesvolkes bildlich durch Fresken, Reliefs und Skulpturen in gleicher Weise wie das Verstoßen einer untreuen Ehefrau dargestellt.

    Die Ritualmordbeschuldigung

    Die Juden wurden mit Judas, der den Heiland für 30 Silberlinge verkauft hatte, identifiziert.3 Judas personifizierte und veranschaulichte den Verrat der Juden. All das wurde in Dramen, bildlichen Ausschmückungen und Predigten wiederholt. Auch wenn wenige Kirchenvertreter an den Plünderungen und Massakern aktiv beteiligt waren, forderte deren Propaganda doch unmissverständlich zur Ablehnung der jüdischen Religion auf und wies unermüdlich auf die angebliche historische und religiöse Schuld der Juden hin.

    Die Anklagen wegen Ritualmord, durch den Juden sich das Blut der Christen sicherten, waren vor dem 12. Jahrhundert vollkommen unbekannt. Dann tauchten sie plötzlich an mehreren Orten gleichzeitig auf. Der Enzy­klopädist Thomas von Cantimpré (1200–1270) behauptete, die Juden täten etwas Dummes, wenn sie jedes Jahr einen Christen töteten, um sein Blut für magische Zwecke zu verwenden. Das sei dumm, so Cantimpré, weil nur Christi eigenes Blut helfen könne. Am Karfreitag des Jahres 1144 wurde in einem Wald bei Norwich die Leiche eines jungen Lehrlings gefunden. Angeblich hätten Juden sich entschieden, auf diese Weise die Leidens­geschichte des Heilands zu parodieren. Den Gerüchten zufolge war die Untat auf einem geheimen Treffen von Rabbinern in Narbonne in Frankreich beschlossen worden.

    Die Behörden glaubten den Gerüchten nicht und beschützten die Juden in der Region, die dennoch angegriffen wurden. Die Überreste des unglückseligen Lehrlings wurden später von der lokalen Kirche als Heiligenreliquien verehrt. Derartige Kulte entstanden an mehreren Orten Europas rund um die Gräber christlicher Jungen, die angeblich von Juden getötet worden waren. 1473 wurde in Trentino in Tirol die Leiche eines Jungen gefunden. Zwei Jahre später wurden neun Juden als angebliche Täter für den Mord an ihm hingerichtet. Eine komplette jüdische Gemeinde wurde ausgelöscht. Unter Folter hatten sie die Untat gestanden. Der Junge bekam eine eigene Kapelle und wurde 1582 offiziell zum Heiligen ernannt, nachdem an seinem Grab angeblich mehrere Wunder geschehen waren. In Italien waren es allen voran die Franziskaner, die diesen Glauben verbreiteten. Im Fall des kleinen Simon von Trient waren viele der treibenden Kräfte Humanisten, die sich im Prozess auf Tacitus als Zeugen der Wahrheit über die Juden beriefen.

    Im 13. Jahrhundert nahmen die Ritualmordbeschuldigungen immens zu und die Gerichtsverfahren endeten so blutig, dass sowohl Kaiser Friedrich II. (1236) als auch Papst Innozenz IV. (1247) die Angelegenheiten gründlich untersuchen ließen und ihren Untertanen verboten, derartige Gerüchte zu verbreiten.4 Häufig spielten ökonomische Motive eine wichtige Rolle. So konnten die christlichen Ankläger die Juden loswerden, von denen sie Geld geliehen hatten. Später kam es auch nicht selten vor, dass christliche Kinder versteckt wurden und Juden mit der Androhung, wegen Mordes an den Kindern angeklagt zu werden, erpresst wurden. Die Praxis wurde dermaßen üblich, dass Papst Gregor X. im Jahr 1272 eine eigene Bulle verfasste, in der er diese bizarre Geschäftsidee verurteilte.

    Das gelbe Stück Stoff

    Im 13. Jahrhundert wurde es in mehreren europäischen Ländern üblich, Juden durch bestimmte Kleidung oder Stofffetzen zu kennzeichnen. Einen diesbezüglichen Beschluss fasste 1215 das Vierte Laterankonzil. Papst Innozenz III. wünschte, dass der Unterschied zwischen Christen, Muslimen und Juden ersichtlich war, sodass jeder wusste, welchen Gefahren er sich aussetzte. Solche Vorschriften fanden sich auch schon im mosaischen Gesetz. Darin war die Kennzeichnung jedoch positiv als eine sichtbare Auszeichnung derer gedacht, die dem Bundesvolk angehörten. In der Sichtweise des Papstes war der Sinn jedoch ein anderer. Für die bedrängte Minderheit wurde die Auszeichnung allerdings ein aufgezwungener Schandfleck. Dasselbe Konzil forderte, dass sich Juden in der Osterwoche ausschließlich in ihren Häusern aufhalten sollten. Ihnen wurde streng verboten, sich in Festkleidern zu zeigen, während die Christen die Leiden des Heilands betrauerten.

    Letztlich zeigen solche Verordnungen, wie weit die Assimilation sowohl ethnisch als auch sozial geglückt war.

    Dass es notwendig wurde, die Juden mit gelben Stoffstücken auszustatten, bedeutete, dass Unterschiede zwischen Juden und Christen ansonsten nicht sichtbar waren. Beide Gruppen sprachen zudem dieselbe Sprache. Deshalb war eine Kennzeichnung notwendig. Die Bestimmungen galten nicht nur für Juden, sondern auch für Muslime. Später erhielten auch Ketzer, Aussätzige und Prostituierte eigene Kennzeichen, um vor ihnen zu warnen.

    In Frankreich war das Juden-Abzeichen anfangs gelb und rund. Ab 1361 war es rot und weiß. Die Behörden verkauften solche Stoffstücke für teures Geld.

    Auf diese Weise erlegten sie den Randgruppen eine Extrasteuer auf. In Deutschland, Österreich und Polen mussten die Juden spezielle Hüte tragen. Im 13. und 14. Jahrhundert verschärfte eine Reihe von Konzilen sowohl in Frankreich als auch in Zentraleuropa diese Regelungen noch. Natürlich missfiel den Trägern die aufgezwungene Kennzeichnung. Dem Tragen des Judenflecks oder Judenhutes konnten sie jedoch entgehen, wenn sie zum Christentum übertraten. Das Symbol markierte im Prinzip also eine religiöse und nicht eine ethnische Zugehörigkeit. Illuminatoren und Maler des 14. Jahrhunderts stellten daher auch Juden aus dem Alten und dem Neuen Testament mit den zeitgenössischen Kennzeichnungen dar.

    Öffentliche Auseinandersetzungen

    Die starken Aggressionen zwischen den Gruppen erschwerten eine Begegnung auf Augenhöhe. In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums hatte man im Rahmen theologischer Dispute die jeweiligen Vorzüge des Judentums und des christlichen Glaubens diskutiert. Auch im Mittelalter gab es solche großen, öffentlichen Diskussionen zwischen bedeutenden Vertretern der beiden Religionen. Aber die Dämonisierung von Juden sowie die Ausrottungskriege gegen die Albigenser und Waldenser beendeten theoretische Diskussionen. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtete der Dominikanerorden die Inquisition. Diese verkörperte die Wahrheit des Monotheismus. Man duldete keine Abweichung von der Kirchenlehre und definierte alle Meinungsgegner als Feinde, Betrüger und Lügner.

    Die theologischen Idealtypen »Christ« und »Jude« spielten praktisch eine geringere Rolle, waren jedoch ganz entscheidend für das Selbstverständnis der Gruppen sowie für die stereotypen Auffassungen der anderen von ihnen. Man achtete nicht darauf, was Juden und Christen wirklich taten, sondern wandte sich auf beiden Seiten an die Schriften, um herauszufinden, was einen »Juden« und einen »Christen« in seinem Wesen ausmachte. Bei den großen Disputationen des 13. Jahrhunderts über die Vor- und Nachteile der beiden Religionen handelte es sich um Diskussionen über Stellen in der Schrift – die in der Praxis für die Gläubigen keine Bedeutung hatten – und nicht um Diskussionen über soziale und historische Realitäten. Die Aus­einandersetzungen zwischen den Religionen fanden in einer eigenen idealisierten Sphäre statt, wo die Stereotype über die anderen dazu beitrugen, die Ideale der eigenen religiösen Identität zu bekräftigen.

    In keinem einzigen Fall nahm man tatsächliche Erfahrungen zum Ausgangspunkt. Daher konnten die Anschuldigungen auf beiden Seiten so extrem werden: Man verfügte über eine angebliche Wesenseinsicht in die Natur des anderen, und Gerüchte spezifizierten oder konkretisierten diese. Dass die Christen oder die Juden, die man im wirklichen Leben kannte, sich nicht dem Wesen eines Christen beziehungsweise dem eines Juden gemäß benahmen, konnte die Schablonen nicht stören. Das bedeutete wohl nur, dass sie ihre wirkliche Natur verbargen und dadurch eine noch größere Bedrohung darstellten. In aller vormodernen Wissenschaft waren die Bücher eine wichtigere Wahrheitsquelle als die Erfahrung. Wenn etwas mit Dokumenten belegt werden konnte, war es auf eine Weise wahr, dass keine Erfahrung es widerlegen konnte. Diese Wahrheitsauffassung erwies sich für das Verhältnis zwischen den beiden Buchreligionen als äußerst schädlich. Eine Disputation in Paris endete 1242 beispielsweise mit der Verbrennung des Talmud.5

    Die Christen verfügten über die politische Macht, eine solche Säuberung angeblich gefährlicher und zweifelhafter Schriften durchzuführen. Viele Rabbiner beneideten sie um diese Möglichkeit. Sie hätten selbst gern Hand an ihre eigenen Ketzer angelegt. Die Rabbiner wirkten daran mit, dass Maimonides’ Schriften 1234 sowohl in Montpellier als auch in Paris von der Inquisition verbrannt wurden. Auf diese Weise wurde jedoch auch das Interesse der Inquisition am Talmud, das heißt, an den heiligen Schriften der Juden außerhalb des biblischen Kanons geweckt. Ein Dominikaner reiste nach Rom und berichtete Papst Gregor IX., dass der Talmud Ketzereien enthalte. Der Papst bat eine Gruppe von Königen und Bischöfen, die Angelegenheit näher zu untersuchen. Die Folge war, dass Ludwig IX. von Frankreich alle Exemplare der heiligen Schriften der Juden, deren er habhaft werden konnte, aus dem Verkehr ziehen ließ.

    1240 wurde in Paris eine große Anhörung arrangiert, bei der die Dominikaner die Fragen stellten und bedeutende Juden sich verteidigten. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Diskussion zwischen Gleichen. Das Ergebnis stand bereits fest. Der Talmud wurde verdammt und alle Exem­plare feierlich verbrannt. Bei der Diskussion handelte es sich nicht um einen theologischen Meinungsaustausch, sondern um ein Gerichtsverfahren. Das Urteil war endgültig. Zwar ließ Papst Innozenz IV. den gelehrten Dominikaner Albertus Magnus (1206–1280) das Urteil 1248 neu bewerten, dieser kam jedoch zu demselben Schluss. Von diesem Zeitpunkt an gehörte der Talmud zu den verbotenen Schriften. Dem jüdischen Buch wohnte angeblich ein Gift inne, vor dem christliche Seelen geschützt werden sollten.

    Zweifelhafte Privilegien

    Die üblichste Regelung bestand darin, dass Juden durch ein Zugeständnis (Privilegium) eines Königs oder eines lokalen Fürsten Zugang zu einem Territorium erhielten. Diese Erlaubnis war kostenpflichtig. Dennoch gab es keine Alternativen, und die Juden waren in der Regel loyale Untertanen, auch wenn die Behandlung, die sie durch ihre eigenen Fürsten erfuhren, häufig zweifelhaft war. Rechtsstreitigkeiten zwischen Juden und Nicht­juden wurden immer an nichtjüdischen Gerichten ausgetragen. In Fragen der Moral sorgte das Verhältnis zwischen den zwei Religionen oft für einen doppelten Standard. Geldverleih gegen Zinsen war sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition verboten.

    Juden konnten jedoch Geld an Christen verleihen, und Christen konnten, in Gesellschaften, in denen das ansonsten verboten war, Juden Geld verleihen lassen. Denn das geistige Bedürfnis und Schicksal der Juden spielte für sie keine Rolle. Sowohl Christen als auch Juden beteiligten sich an etwas, das im religiösen Sinne eigentlich beiden Gruppen untersagt war, aber eben für sie beide von Nutzen war. Die Gesetze galten nur gegenüber den jeweils eigenen Glaubensgenossen. An diesem doppelten Standard ist erkennbar, dass die beiden Gemeinschaften – die jüdische und die christliche – kaum miteinander verflochten waren. Erstaunlicherweise war es auf beiden Seiten so, dass die Regeln, die Gott selbst vorgegeben hatte, leichter zu umgehen waren, als die Regeln, die das weltliche Gesetzbuch beherbergte.

    Abb. 3: Jüdischer Geldverleiher mit christlichem Kunden. Aus einem Manuskript der Cantigas de Santa Maria vom Hof Alfons X. des Weisen, Spanien 1281–84, aufbewahrt in der Bibliothek des Escorial.

    In England waren die Juden im indirekten Sinne die Steuereintreiber des Königs und wurden im Falle von Geldnot vom König systematisch ausgesaugt. Die Könige forderten beständig größere Anteile von den Einnahmen der Juden. Auf diese Weise konnten sie die neue Geldwirtschaft besteuern. Widersetzten sich die Juden den Wünschen eines Königs, konnten sie jederzeit aus dem Land vertrieben werden. Das passierte faktisch unter Philip II. in Frankreich (1182) und später in England (1290). Dort, wo es nur um Geldstreitigkeiten mit dem König ging, wurde den Juden bald wieder Einlass gewährt – gegen Zahlung einer zusätzlichen Summe. Dort aber, wo die Kirche mit theologischen und ideologischen Argumenten das Feuer weiter am Brennen hielt, konnten die Vertreibungen über viele Generationen hinweg andauern.

    Vonseiten der Fürsten und Könige bestand der Zweck der Vertreibungen ausschließlich in den neuen Abgaben, die man den Juden auferlegen konnte, um ihnen wieder Zutritt zu gewähren. Nicht nur jene, die im Geldverleih tätig waren, sondern die komplette jüdische Bevölkerung wurde gern unter Verwaltung des Königs gestellt, wie es 1223 in Frankreich unter Ludwig VIII. geschah. So wollte er sich in die Steuereintreibung der Fürsten einmischen und seine Rolle als zentraler Beschützer der fremden Bevölkerung ausnutzen.

    Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurden die Juden jedoch sowohl in England als auch in Frankreich und Deutschland derart von der Obrigkeit unter Druck gesetzt, dass sich ihre Tätigkeit in immer höherem Maße auf kleine Leihgeschäfte mit dem weniger wohlhabenden Teil der Bevölkerung konzentrierte. Lombarden, Venezianer, Sienesen und später die Florentiner übernahmen nach und nach den überwiegenden Teil der großen Verleihgeschäfte mit Königen, Fürsten und wohlhabenden Bürgern.

    Die Aggression der Armen gegenüber jenen, denen sie Kleinstbeträge schuldeten, war allerdings nicht geringer als die Aggression der Reichen gegen jene, denen sie große Summen schuldeten.

    Sich zum Christentum zu bekehren, war aber auch keine akzeptable Lösung. Seitens der Juden wurden Kinder, die konvertierten, enterbt. Das Eigentum der Konvertiten konfiszierten in der Regel die Fürsten. Die Kirche widersetzte sich einer solchen politischen Praxis, weil sie die Juden nicht gerade dazu ermunterte, Christen zu werden. Einen einfachen Ausweg aus der bedrängten Lage der Juden gab es also nicht. Das Ergebnis war, dass sie an ihrer gefestigten Weltsicht festhielten. Hass zwischen zwei Volksgruppen entwickelt sich häufig symmetrisch. Die Aggressionen der Juden gegenüber den Christen waren vermutlich nicht geringer als die Aggressionen der Christen gegenüber den Juden. Letztgenannte waren jedoch machtlos und in der Unterzahl.

    Die Anfeindungen der Außenwelt

    Laut Léon Poliakov, der das Standardwerk zur Geschichte des Antisemitismus verfasst hat, führte eben jene Situation dazu, dass sich eine besondere jüdische Mentalität entwickelte. Die Juden verfluchten ihre christlichen Feinde und überhäuften die konkurrierende Religion mit Schimpfwörtern. Die Wut veränderte jedoch nicht ihr Umfeld. Sie veränderte allen voran sie selbst. Mit erneuerter Energie wandten sich die Juden ihren religiösen Traditionen zu und suchten in ihren heiligen Schriften Rat hinsichtlich ihres Schicksals. Als Verfolgte verstärkte sich ihre Frömmigkeit. Die Anfeindungen der Außenwelt fokussierte ihre Aufmerksamkeit auf die innere Welt. Gelehrtheit und Buchstudien waren in der jüdischen Tradition immer wichtig, jetzt wurde ihre Bedeutung jedoch noch einmal unterstrichen.

    Die jüdische Theologie erneuerte ihre Lehre über das Martyrium und betrachtete getötete Glaubensbrüder als Gefallene in Gottes Heer im Krieg gegen »die Heiden«, das heißt die Christen. In den Zeiten vor der Pest handelte es sich bei Ausbrüchen des Judenhasses zwar um heftige, aber dennoch um Einzelereignisse. Die Juden waren noch kein vollständig ausgeschlossener oder gebrandmarkter Teil der Gesellschaft. Abgesehen von den Kennzeichnungen trugen sie die gleiche Kleidung und sprachen die gleiche Sprache wie die Christen.

    Die Brutalität in den Berichten sollte uns aber nicht dazu verführen zu glauben, dass es den modernen Antisemitismus bereits im Hochmittelalter gab. Generell betrachtet, unterlagen die gegenseitigen Charakterisierungen der Volksgruppen im Mittelalter nicht denselben Zivilisationsregeln, wie es später der Fall wurde. Hemmungslose Herabwürdigungen durch konkurrierende Gruppierungen trafen nicht allein die Juden. Festzuhalten ist, dass Juden bis zur Pest vielerorts als freie Bürger leben konnten und dementsprechend sowohl in militärischen wie auch in juristischen Zusammenhängen behandelt wurden.

    Dem kanonischen Recht der Kirche zufolge waren sie selbstverständlich Außenstehende, Fremde. Der theologische Begriff von der »ewigen Knechtschaft« als Strafe für die Ermordung und die Zurückweisung des Heilands (Thomas von Aquin) wurde durch das kanonische Recht dem allgemeinen, ideologischen Markt vermittelt, wo er nach und nach großen Schaden anrichtete.6

    1

    Hinsichtlich der Dämonisierung siehe Trachtenberg, Joshua: The Devil and the Jews. New Haven 1943, und Carmichael, Joel: The Satanizing of the Jews. New York 1992.

    2

    Hier besonders Chazan, Robert: Medieval Stereotypes and Modern Antisemitism. Berkeley 1997.

    3

    Die Judas-Gestalt wird gründlich behandelt von MacCoby, Hyam: Judas Iscariot and the Myth of Jewish Evil. New York 1992.

    4

    Ernst Kantorowicz schreibt in seiner klassischen Darstellung von Frederick the Second 1194–1250. New York 1957, eine Reihe interessanter Abschnitte über Ju­den, Muslime und Christen auf Sizilien. Außerdem beinhaltet das Buch Abschnitte über die Kreuzzüge, die zu dem Besten gehören, was darüber geschrieben wurde.

    5

    Siehe MacCoby, Hyam: Judaism on Trial. Jewish-Christian Disputations in the Middle Ages. London 1982.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1