Von der Bewegung zur Organisation und wohin weiter?: 25 Jahre Systemische Gesellschaft
Von Ludger Kühling, Gisela Klindworth und Ulrike Borst
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Buchvorschau
Von der Bewegung zur Organisation und wohin weiter? - Ludger Kühling
Einleitung
Die Gründung der Systemischen Gesellschaft (SG) vor 25 Jahren – ein wegweisendes, aufregendes und innovatives Projekt. Heute sehen wir einen großen Verband mit ca. 3.000 Einzelmitgliedern und 50 Mitgliedsinstituten. Die SG hat einen Beitrag dazu geleistet, dass der systemische Ansatz in vielen Bereichen der Gesellschaft erfolgreich angekommen ist.
Vieles im Verband verändert sich mit hoher Geschwindigkeit. Anlass genug, sich Fragen zu stellen, zu rekonstruieren und Blickrichtungen in die Zukunft zu wagen: Welche Visionen und Interessen leiteten die Gründungsmitglieder? Was ist aus diesen geworden? Wie hat sich der Verband entwickelt, von welchen Visionen haben sich die Mitglieder verabschiedet? Welche Ideen, Energien und Haltungen haben die Systemische Gesellschaft geprägt? Welche davon wollen wir bewahren? Wie können diese auch heute Menschen in Bewegung bringen, sie beflügeln und begeistern?
Viele der Gründungsmitglieder und der langjährigen Akteurinnen und Akteure der ersten Jahre haben sich schon aus der aktiven Verbandsarbeit zurückgezogen, einige tun es gerade oder werden es in den nächsten Jahren tun. In der SG vollzieht sich ein Generationenwechsel.
2017 wurden in Heidelberg, Köln, Hannover und Berlin Gesprächsrunden mit Gründungsmitgliedern und jüngeren SG-Mitgliedern durchgeführt. Die Gründungsmitglieder erzählten und reflektierten, die Jüngeren fragten und diskutierten. Diese Gesprächsrunden sind in diesem Band dokumentiert. Ihre chronologische Reihenfolge wurde aufgegeben und die vier Gespräche wurden zu einem Text um thematische Schwerpunkte angeordnet. Dieser Band dokumentiert Erzählungen, Selbstbeschreibungen und Analysen zur Entstehung und Entwicklung der SG. Er bietet der jetzigen und nachfolgenden Generationen Ideen und Erfahrungen – wohl wissend, dass es sich hier immer auch um subjektive Rekonstruktionen der bisherigen Geschichte handelt. Ihr Bild von der SG wird der Band hoffentlich bereichern, verändern oder vielleicht auch nur bestätigen.
Gleichzeitig wird in den Gesprächen die Entwicklung der SG zu einer Organisation rekonstruiert. Es wird deutlich, wie idealistische, aber auch ökonomische Beweggründe sich verschränken und kulturprägend wirken.
Wir danken allen Mitwirkenden ganz herzlich: Klaus Deissler, Andrea Ebbecke-Nohlen, Kristina Hahn, Jürgen Hargens, Thomas Hegemann, Tom Levold, Wolfgang Loth, Karin Martens-Schmid, Cornelia Oestereich, Kurt Pelzer, Monika Schimpf, Hans Schindler, Arist von Schlippe, Walter Schwertl, Maria Staubach und den vielen SG-Mitgliedern, die sich an den Diskussionen beteiligten. Da wir nicht alle Namen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen, die Beiträge geleistet haben, wurden alle Namen der Teilnehmenden anonymisiert.
Gisela Klindworth und Ludger Kühling
Chronologie der Ereignisse
Kurzinfos zur Systemischen Gesellschaft
Gremien:
Vorstand mit sieben Mitgliedern
fünf Weiterbildungsgremien (Systemische Beratung, Therapie, Supervision, Kinder- und Jugendlichentherapie, Systemisches Coaching)
ein Aufnahmegremium für die Aufnahme der SG-Institute
ein Visitationsgremium
ein Gremium für das SG-Qualitätssiegel
daneben
Ethik-Rat
Stelle für verzwickte Fälle
Hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Geschäftsstelle:
Geschäftsführerin und Stellvertretende Geschäftsführerin
Assistentin der Geschäftsführung, eine Sachbearbeiterin, eine Auszubildende
Vorstandsbeauftragter Berufspolitik und Vorstandsbeauftragte Jugendhilfe
Bisherige Vorstandsvorsitzende:
Dr. Kurt Ludewig (1993–1999)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (1999–2005)
Dr. Cornelia Oestereich (2005–2013)
Dr. Ulrike Borst (seit 2013)
Erteilte Weiterbildungsnachweise jährlich:
2000–2007: 300–500
2008–2011: 700–800
2012–2017: 900–1.000
Das geht so nicht!
LUDGER KÜHLING: Wie würdet ihr die damaligen Kontextbedingungen, unter denen sich die SG gründete, beschreiben?
HANS SCHINDLER: Es ist relativ schwierig, sich von heute aus in die damalige Situation hineinzuversetzen. Heute gibt es die SG als gut organisierten Dachverband. Schwierig war es damals, aus einer Situation der Unorganisiertheit überhaupt Strukturen zu entwickeln. Als sich die DAF (Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie) 1978 in Deutschland gründete, gab es noch keinen systemischen Ansatz. Die DAF war eine lose familientherapeutische »Organisation«: Zu der Zeit bestand sie aus den Gießenern um Horst-Eberhard Richter und den Heidelbergern – die aber erst am Anfang ihrer Entwicklung waren. Helm Stierlin kam gerade aus den USA zurück und hatte noch einen Lehrstuhl für Analytische Therapie und Grundlagen der Familientherapie. Die DAF hatte keine Organisationsstruktur, sie war ein Diskussionsforum, das sich einmal im Jahr traf und mit Referaten und Arbeitsgruppen überlegte: Wie kann man Familientherapie machen und verbreiten? Die andere Organisationsebene war die der ersten Ausbildungsinstitute, und das Weinheimer Institut ist das älteste. Das hatte seine ganz eigene Dynamik, die sich zum Beispiel dadurch ausgezeichnete, dass die »Urmutter« entmachtet werden musste, sonst hätten die Kinder ihre Ideen gar nicht weiter in die Welt bringen können. Und diese Dynamik im Team des Weinheimer Institutes führte zur Gründung des DFS (Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten) 1987, denn der war als alternative, erste Organisation gedacht, die unabhängig von einem einzelnen Institut eine Struktur für zukünftiges Arbeiten ermöglichen sollte.
TOM LEVOLD: Die DAF war ein Sammelbecken für alle, die sich für Familie und Familientherapie interessiert haben. Es gab keinerlei berufliche oder inhaltliche Einschränkungen. Es war ein Forum, in dem alle Leute mit einem großen Enthusiasmus eingestiegen sind. Aber es hat auch dazu geführt, dass die DAF extrem breit aufgestellt war, dass es kein klares inhaltliches Profil gab – was Mitte der achtziger Jahre auch dazu führte, dass sie sich fast aufgelöst hätte. Und ein Problem in der DAF war, dass Institute dort keinen Ort hatten. Das war auch klar, denn als die DAF 1978 gegründet wurde, gab es gar keine Institute außer dem Weinheimer Institut von Maria Bosch. Wir haben hier in Köln 1980 mit der APF eines der ersten Institute in Deutschland gegründet. Es gab so etwas wie familientherapeutische Zentren, die dann eher an Universitäten angesiedelt waren – also Heidelberg mit Helm Stierlin, in Göttingen Eckhard Sperling, in Gießen Horst-Eberhard Richter. Das waren relativ bedeutsame Zentren, aber sie hatten keine organisatorische Struktur, und am Anfang auch überhaupt kein Interesse daran weiterzubilden. Dann sind im Laufe der achtziger Jahre relativ schnell überall Institute gegründet worden, die aber keine organisatorische Basis hatten, um ihre eigenen Interessen zu vertreten. Das war 1986 eine große Debatte auf einem DAF-Treffen in Köln, nach der dann eine Gruppe den Dachverband für Familientherapie und Systemisches Arbeiten (DFS) gegründet hat. Aber wichtige Institute haben nicht mitgemacht: Die Heidelberger hatten die IGST gegründet, es gab das Berliner Institut für Familientherapie und das Institut in Köln. Die hatten schon ein etwas besseres Standing im Markt und auch eine gewisse Eingebildetheit, um zu sagen: »Das ist etwas für kleine Institute, schließt ihr euch zusammen, wir brauchen das nicht.« Dann hatten wir 1987 zwei Verbände: den DFS als relativ kleinen Institute-basierten Verband und die DAF weiterhin als ein diffuses Sammelbecken, das sie vorher auch war.
KLAUS DEISSLER: Als Gründungsmitglied der DAF war ich mit einigen vorherrschenden Ideen nicht einverstanden, zum Beispiel sollte man eine Lehranalyse machen, um (psychoanalytischer) Familientherapeut zu werden.
Es gab auch dieses paternalistische Expertentum der Psychopathologen: »Du hast diese oder jene Krankheit, du musst etwas für dich tun, du musst diese Krankheit heilen« oder so etwas. Es war diese Haltung, die mir nicht gefallen hat.
GISELA KLINDWORTH: 1982 haben Sie in Marburg die DAF-Tagung ausgerichtet, Helm Stierlin hat den Eröffnungsvortrag gehalten und amerikanische Kolleginnen und Kollegen haben ihre Konzepte vorgestellt. Wie kam das an bei der DAF? Ich habe gelesen: »Es kam zu einem notwendigen Eklat.«
KLAUS DEISSLER: Mit Kollegen zusammen habe ich innerhalb der DAF die Zeitschrift »Kontext« gegründet, sie ist heute noch die Verbandszeitschrift der DGSF. Damals war sie analytisch orientiert. Wir waren also drei Redaktionsmitglieder – Wolfgang Dierking und Norbert Spangenberg analytisch orientiert und ich systemisch orientiert. In diesem »Kontext« habe ich zum Beispiel ein Interview mit Frau Selvini veröffentlicht, dabei hatte ich das Gefühl, das wurde so gerade einmal toleriert, aber es wurde nicht sehr wertgeschätzt. So fühlte ich mich mehr und mehr an den Rand gedrängt. Und mit der Tagung »Familientherapie – Wissenschaft oder Kunst?« 1982 war das dann der nächste Schritt. Diese Tagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Familientherapie war analytisch dominiert mit einem Großteil analytisch orientierter Workshops. Wir – die Organisatoren vom Marburger und Frankfurter Institut – haben auch systemische Leute aus dem Ausland eingeladen, was einige Wellen geschlagen hat. Ich weiß nicht, ob es einen Eklat gegeben hat – nur empfand ich keine Unterstützung für systemische Ideen von offizieller Seite. Da habe ich einfach gesagt: »Nein, da kann ich nicht mehr mitmachen.« Und dann habe ich mit Gunthard Weber zusammen die IGST in Heidelberg initiiert.
TOM HEGEMANN: Während der Gründungszeit der SG Anfang der neunziger Jahre fand ein Prozess statt, dass die DAF und die DFS sich auf die Reise machten, ein gemeinsamer Verband zu werden. Das führte bereits zu Differenzierungsprozessen: Eine ganze Reihe von Mitgliedern der DAF, die eine eher tiefenpsychologisch orientierte Form von Familientherapie vertraten, verließen diesen neuen Verband, sodass der sich stärker auf die systemische Arbeit fokussierte, aber immer noch sehr stark familientherapeutisch geprägt war. Auch die Institute stützten sich in ihrer großen Mehrheit theoretisch-konzeptionell auf den Satir-Ansatz¹ und auf die Arbeit mit Kindern und Familien. Und dann gab es eine ganze Reihe Institute, die für sich gesagt haben: »Das ist nicht unser Schwerpunkt. Wir möchten nicht auf Einzelmitglieder fokussieren, sondern wir möchten einen Verband gründen, in dem Institute mit einem hohen – auch theoretisch-konzeptionellen – Anspruch in einen Austausch über systemische Denk- und Arbeitsmodelle treten, und das deutlich breiter, als das der Satir-Ansatz anbietet.« Dazu gehörten Konzepte der Mailänder Schule, konstruktivistische Modelle, narrative Modelle etc. Und diese Institute haben gesagt: »Wir finden in den bisherigen Verbänden kein ausreichendes Forum, wo wir uns auf diesem Niveau unterhalten können.«
JÜRGEN HARGENS: Ich habe durch die Gründung der »Zeitschrift für Systemische Therapie« 1983 ganz viele Kontakte bekommen zu Leuten, die vor Ort arbeiteten und die faszinierende Dinge machten. Dadurch bin ich irgendwie außen geblieben, konnte von außen gucken: Was da passiert, entspricht das noch meinen Vorstellungen von systemischer Theorie? Für mich ist jeder Verein oder jeder Verband irgendwie ambivalent, auch die Systemische Gesellschaft: Inhaltlich-fachlich wird da etwas bewegt, denn da sind Leute, die ein Interesse haben. Der andere Aspekt ist: Man will sich zugleich positionieren, auch politisch oder gesellschaftlich etwas erreichen, und das ist dann ein anderer Kontext. Da dachte ich: »Da muss man doch reflektieren: Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?« Und irgendwann bin ich dann doch eingetreten.
HANS SCHINDLER: Wenn du diese Ambivalenzen in die eine Richtung ausgelebt hast, fand ich es umso wichtiger, dass es auch genügend Leute gab, die die Ambivalenz in die andere Richtung auslebten. Und für mich passte das damals in die Zeit dessen, was sich insgesamt im therapeutischen Bereich bewegt hat, nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich. Nach der Antipsychiatrie und der Idee: »Man muss die Psychiatrie nur auflösen, dann ist allen geholfen«, ist man