Erkunden, erinnern, erzählen: Interviews zur Entwicklung des systemischen Ansatzes
Von Wolf Ritscher, Tom Levold, Petra Bauer und
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Über dieses E-Book
Die Interviews wurden über einen Zeitraum von beinahe vierzig Jahren von den Herausgeber/-innen der Zeitschrift Kontext geführt und zuletzt unter der Rubrik »Im Gespräch« in größeren Abständen dort veröffentlicht. In diesem Buch werden die Gespräche nun zusammengestellt und mit einführenden Rahmentexten der Interviewer/-innen versehen. In einem einleitenden und einem bilanzierenden Beitrag wird die Relevanz des Blicks auf Lebensgeschichten und Lebenswerke reflektiert.
Für alle, die beraterisch und therapeutisch tätig sind, bietet der Band einen verständlichen Zugang zu den Wurzeln systemischer Theorie und Praxis und regt zum Nachdenken über das eigene professionelle Selbstverständnis an.
Corina Ahlers
Dr. Corina Ahlers, Psychologin, Dozentin, Systemische Familientherapeutin und Lehrtherapeutin für Systemische Therapie an der ÖAS (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien) und Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, ist derzeit zu den Themen Patchworks, Gender und kultureller Bindung tätig (www.familieneu.at).
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Buchvorschau
Erkunden, erinnern, erzählen - Wolf Ritscher
Tom Levold und Wolf Ritscher
Geschichte und Geschichten: Systemische Therapie wird historisch
Mit den Interviews aus fast 40 Jahren, die in diesem Band versammelt sind, stellen wir der Leserschaft Persönlichkeiten vor, die zur Entwicklung der Familien- und systemischen Therapie vor allem hierzulande, aber auch in Italien und den USA wichtige Beiträge geliefert haben. Ihre individuellen Lebensgeschichten sind dabei nicht nur von biografischem Interesse, sondern bieten auch einen aufschlussreichen Einblick in die vielfältigen persönlichen, konzeptuellen, professionellen und institutionellen Wurzeln des familientherapeutischen und systemischen Feldes.
In manchen dieser Interviews werden die Begriffe Familientherapie und Systemische Therapie synonym verwendet. Unter dem Label Familientherapie haben sich vor allem seit den 1970er Jahren vielfältige Ansätze der Arbeit mit Mehrpersonensystemen entwickelt, eine explizit »systemische Therapie«, die sich auch gegen familientherapeutische Ansätze anderer Verfahren abgrenzt, gibt es dagegen erst seit etwa 1980, und zwar in erster Linie im deutschsprachigen Raum. Während die systemische Therapie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches vor der sozialrechtlichen Zulassung als psychotherapeutisches Verfahren steht, bezeichnet der Begriff der Familientherapie heute nur noch ein Setting. Hinzu kommt, dass der systemische Ansatz seine Breitenwirkung nicht nur seiner psychotherapeutischen Anwendung (mit der alles begann) verdankt, sondern mittlerweile die wichtigste Grundlage für die Praxis von Beratung sowie von Supervision und Coaching darstellt: In vielen Bereichen gilt er heute als State of the Art.
Nach mehr als dreieinhalb Jahrzehnten seiner Existenz hat der systemische Ansatz mittlerweile ein Stadium der Geschichtswürdigkeit erreicht, das heißt, seine Ursprünge sind für die meisten Zugehörigen des Feldes nicht mehr als Gegenstand eigener unmittelbarer Erfahrung präsent, sondern nur noch über die Auswertung von Quellen wie Texten, Dokumenten und Interviews mit Zeitgenossen zugänglich. Viele bedeutsame Persönlichkeiten, ohne welche die Entwicklung systemischer Theorie und Praxis nicht denkbar gewesen wäre, leben bereits nicht mehr. In diesem Band sind von ihnen Mara Selvini Palazzoli, Paul Watzlawick, Ivan Boszormenyi-Nagy, Virginia Satir und Rosmarie Welter-Enderlin vertreten. Andere die Entwicklung systemischer Ansätze stark prägende Vertreter wie Helm Stierlin oder Joseph Duss-von Werdt befinden sich in hohem Alter. Aber auch die zweite Generation systemischer Therapeutinnen und Therapeuten, die in den späten 1970er und 1980er Jahren den Impuls der Gründergeneration aufgenommen und zum gegenwärtig anerkannten systemischen Modell weitergeführt haben, sind heute bereits jenseits des Berentungsalters oder stehen kurz davor.
Geschichtswürdigkeit heißt in diesem Zusammenhang: Die genannten Personen können ebenso wie bestimmte Konzepte und Vorgehensweisen einen bedeutsamen Platz in der Geschichte des systemischen Ansatzes beanspruchen, selbst wenn sie im aktuellen Diskurs aus Altersgründen keine herausgehobene Rolle mehr spielen. Oft sind aber ihre Ansätze und Arbeiten gerade jüngeren Kolleginnen und Kollegen nicht mehr als Orientierungspunkte gegenwärtig, auch scheint in den Weiterbildungsgängen der Ausbildungsinstitute der Platz für eine Reflexion der systemischen Geschichte sehr begrenzt zu sein – kurz: Ereignisse, Konzepte und Personen, die die Entwicklung der 1970er und 1980er Jahre geprägt haben, laufen Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Schon allein aus diesem Grund lohnt sich die Anstrengung, die Geschichte lebendig zu halten – zumal in Hinblick auf ein Feld, das sich nie sonderlich für die Vergangenheit, auch die eigene, interessiert hat, liegt doch der Fokus systemischer Arbeit immer in der Zukunft, in Lösungen und Veränderungen – und weniger auf dem Aspekt des Gewordenseins.
Insofern ist uns als Herausgeberinnen und Herausgebern die Beschäftigung mit der Geschichte unseres Feldes ein Herzensanliegen. In diesem Band »schreiben« wir Geschichte in Form von erzählten Lebensgeschichten, ein Zugang, der keineswegs selbstverständlich ist. Daher gehen wir am Ende dieses Kapitels auf die einer über Interviews erhobenen Sicht auf die Geschichte der systemischen Therapie (selbst-)kritisch ein. Es geht uns mit diesem Band nicht darum, eine lineare »Geschichte der systemischen Therapie« bzw. des systemischen Ansatzes aus den Interviews zu destillieren. Zwar hat sich das systemische Feld insbesondere in dem Zeitraum, der von den Gesprächen abgedeckt wird, konsolidiert und stabilisiert, dennoch verstehen wir die Geschichte des systemischen Ansatzes keineswegs als Fortschrittsgeschichte, in der das »Alte« schrittweise durch »Neues« ersetzt und abgelöst wird. Die Interviews zeigen vielmehr, dass Ideen und Konzepte ihren eigenen Weg gehen und unterschiedliche Konjunkturen durchlaufen, abhängig von Trends, Publikations- und Zitationsnetzwerken, von Institutionalisierungen und der Weitergabe durch Nachfolgegenerationen.
Viele Gedanken und Modelle aus der Frühzeit von Familien- und systemischer Therapie sind auch heute noch inspirierend und aktuell, wenngleich ihnen kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch wenn der systemische Ansatz in seinem Verständnis von Kontext, Zirkularität und Konstruktivität von Problemen (und Lösungen) durchaus einer Revolution im Psychotherapiebetrieb gleichkam, war nicht alles Gold, was »neu« glänzte. Die Vielzahl der Konzepte, die sich auf systemisches Gedankengut berufen und seit den 1980er Jahren oft eher unverbunden nebeneinander stehen, lassen sich also wenig in eine Fortschrittslinie einfügen, allenfalls in ein zeitliches Nacheinander. Nicht alles, was in der frühen Zeit des Experimentierens diskutiert, ausprobiert und aufgegeben wurde, wurde durch Besseres, weil »Neueres« ersetzt. Andererseits haben klassische Themen der Psychotherapie, die in der Frühzeit des systemischen Diskurses gewissermaßen auf den »Misthaufen der Geschichte« geworfen wurden, zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt wieder Akzeptanz gefunden, so etwa die Beschäftigung mit Affekten und Gefühlen. Die Vielfalt an Gedanken, Modellen und Praktiken, verbunden durch Personen, Gruppen und Organisationen, lässt sich also besser als ein nichtlineares Netzwerk denn als lineare Entwicklung verstehen.
Dennoch lassen sich Trends erkennen, die typisch für die Etablierung eines neuen Paradigmas sind. Während die Anfangsjahre von – zum Teil wilden – Experimenten und theoretischen Suchbewegungen gekennzeichnet waren, lässt sich seit circa zwanzig Jahren eine Schließung des Feldes beobachten, die zu stärkeren Institutionalisierungen und Verregelungen führt, die mit allen vergleichbaren Professionalisierungsprozessen einhergehen. Für die konzeptuelle Offenheit und Lebendigkeit, die im Selbstverständnis systemischer Therapie und Beratung immer noch einen zentralen Platz einnehmen, ist das freilich ein Problem – und die bevorstehende sozialrechtliche Anerkennung systemischer Therapie als Kassenleistung und die damit verbundene Eingliederung in das Gesundheitssystem wird diesen Schließungsprozess weiter vorantreiben.
Auch aus diesem Grund verstehen wir die Geschichten, die in unseren Interviews einen Blick auf die Geschichte des systemischen Ansatzes erlauben, als ein Plädoyer für die systemische Vielfalt, die uns auch in der heutigen Zeit des Mainstreamings als eine der wichtigsten Ressourcen für die Gestaltung und Veränderung von sozialen und psychischen Systemen erscheint.
Angesichts der Offenheit und Vielfalt der systemischen Perspektiven, die in den Interviews sichtbar werden, stimmt die gegenwärtige Entwicklung des Psychotherapiesystems eher pessimistisch: Manualisierung und Standardisierung sind das Gebot der Stunde, die Mainstream-Psychotherapie wird zunehmend medikalisiert bzw. einem biomedizinischen Paradigma unterworfen, die berufspolitische Einengung, die mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes einherging, sorgt dafür, dass in nächster Zukunft wahrscheinlich nur noch Diplom-Psychologen mit Einser-Abitur als Psychotherapeuten praktizieren werden.
Viele unserer Gesprächspartner in diesem Band hätten – wie auch viele andere Pioniere der Psychotherapie – heutzutage keine Chance, zu einer psychotherapeutischen Ausbildung zugelassen zu werden. Insofern ist dieses Buch auch ein starkes Argument gegen eine durchregulierte Psychotherapie als Sozialtechnologie und für einen Diskurs der Unterschiede. Die Wege zur Psychotherapie sind bei unseren Gesprächspartnern vielfältig gewesen und die Unterschiede der beruflichen, disziplinären, professionellen, konzeptuellen und wertebezogenen Ursprünge haben erst in ihrem Aufeinandertreffen ermöglicht, was heute systemische Therapie ausmacht. Wenn man aus den Interviews und den darin zum Ausdruck kommenden Verbindungen von eigener (familiärer) Biografie und bedeutsamen theoretischen, praktischen, politischen und diskursiven Beiträgen der Gesprächspartner in der systemischen Landschaft etwas lernen kann, dann die Einsicht, dass der systemische Ansatz ein multidisziplinäres und multiprofessionelles Projekt ist!
Im Gespräch: Der KONTEXT als Kontext
Die Zeitschrift KONTEXT ist natürlich selbst – nicht direkt, sondern als Kontext – ein Teil der Geschichte, um die es in diesem Buch geht. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind (mit Ausnahme von Petra Bauer) selbst seit Beginn an der Entwicklung des systemischen Feldes beteiligt, an ganz unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Interessen und Praxisfeldern. Insofern sind die Gespräche in diesem Buch, die sämtlich von KONTEXT-Redakteuren (der Frühzeit) bzw. -Herausgebern und -Herausgeberinnen (seit 2006) geführt wurden, nicht aus der Außenperspektive von Historikern entstanden. Auch wenn es um Geschichte (und Geschichten) geht, erhebt dieser Band keine geschichtswissenschaftlichen Ansprüche. Die Geschichte des systemischen Ansatzes ist (mit wenigen Ausnahmen) ein wissenschaftlich weitgehend unbearbeitetes Feld, das hoffentlich bald auch für Historiker interessant wird. Die Gespräche dieses Bandes dokumentieren kollegiale, manchmal freundschaftliche Begegnungen von Menschen, die jeweils in der systemischen Landschaft ihren eigenen Platz einnehmen und miteinander auf unterschiedliche Weise verbunden sind.
Nach der »Familiendynamik«, die 1976 von Helm Stierlin und Joseph Dussvon Werdt als erste deutsche familientherapeutische Zeitschrift gegründet wurde, ist der KONTEXT das älteste Periodikum im systemischen Feld. Als Verbandszeitschrift der »Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie« (DAF), die 1978 in Göttingen als ein Sammelbecken für alle an Familientherapie Interessierten gegründet wurde, erschien die erste Ausgabe 1979, herausgegeben von Klaus G. Deissler als verantwortlichem Redakteur. Von einem professionellen Zeitschriftenmanagement war der KONTEXT in seiner Gründungsphase noch weit entfernt. Neben einigen wenigen programmatischen Texten ging es inhaltlich in erster Linie um Termine, Protokolle und Verbandsdokumente, alles schreibmaschinengetippt und – mit handschriftlich eingefügten Seitenzahlen – fotokopiert. Die DAF war ein äußerst heterogener Verband, dessen innere Konflikthaftigkeit in Hinblick auf konzeptuelle (psychoanalytisch vs. systemisch) wie praktische Perspektiven (Professionalisierung der Praxis und Weiterbildung vs. Selbsthilfe- und Gruppendynamikkonzepten sensu Horst Eberhard Richter) schon bald zu einer Zerreißprobe führen sollte.
Diese innere Zerrissenheit zeigte sich auch darin, dass es in den 1980er Jahren viele redaktionelle Wechsel gab, die die Entwicklung einer klaren publizistischen Linie nicht gerade erleichterten. Ende der 1980er Jahre kam es dann zur Zusammenarbeit mit einem Verlag (»modernes lernen« in Dortmund), in der die Zeitschrift ein professionelleres Layout und eine klarere inhaltliche Struktur erhielt. Seit 1995 erscheint die Zeitschrift im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, im Jahre 2000, nach der Fusion der DAF mit dem Dachverband für Familientherapie und Systemisches Arbeiten (DFS) zur Deutschen Gesellschaft für Familientherapie und Systemisches Arbeiten (DGSF), wurde der KONTEXT die wissenschaftliche Zeitschrift der neu entstandenen Gesellschaft. Die Qualität der Zeitschrift, die ein obligatorisches, anonymisiertes Peer-Review-Verfahren für die wissenschaftlichen Originalbeiträge betreibt, wurde und wird bis heute durch ein unabhängiges Herausgebergremium gesichert, das der DGSF verbunden ist, aber keinen Weisungen oder inhaltlichen Beeinflussungen unterliegt.
Von 2005 bis 2016 bestand das Herausgebergremium aus Dörte Foertsch, Tom Levold, Günter Reich (der 2013 ausschied und von Petra Bauer abgelöst wurde) und Wolf Ritscher, der 2016 seine Funktionen niederlegte. Aus dieser Zeit stammen die meisten der in diesem Band abgedruckten Gespräche.
Interviews haben im KONTEXT schon ganz zu Anfang eine besondere Rolle gespielt. Da die DAF ein Sammelbecken von Personen ganz unterschiedlicher beruflicher, professioneller und konzeptueller Provenienz darstellte, bot sich der KONTEXT als Forum an, die Verbandsmitglieder mit unterschiedlichen familientherapeutischen Konzepten und Schulen bekannt zu machen.
Die Gespräche, die Klaus G. Deissler, Peter Gester, Günter Reich und Gisela Baethge mit Mara Selvini Palazzoli, Paul Watzlawick, Ivan Boszormenyi-Nagy und Virginia Satir führten, fokussierten dementsprechend stark auf die konzeptuellen und programmatischen Inhalte, die diese »Stars« der damaligen familientherapeutischen Szene vertraten. Sie wurden gewissermaßen als Meister des Faches adressiert, die ihren Schülern Einblicke in ihr Denken und Tun vermittelten.
Wir haben uns entschieden, auch diese frühen Gespräche in diesem Band mit aufzunehmen, weil sie einerseits aufschlussreiche Dokumente aus der Frühzeit der Entwicklung zur systemischen Therapie darstellen und andererseits eben auch zur Geschichte des KONTEXT selbst gehören.
Nach 1982 sind dann für lange Zeit keine Interviews mehr im KONTEXT erschienen. Das mag mit den genannten Schwierigkeiten einer publizistischen Identitätsfindung zu tun haben, vielleicht auch mit dem erheblichen Aufwand, der mit der Aufnahme, Transkription und Edition von gesprochenem Material verbunden ist.
Erst 2005 überlegten wir uns in der genannten Herausgeberkonstellation (Dörte Foertsch, Tom Levold, Günter Reich und Wolf Ritscher), an diese Tradition wieder anzuknüpfen. Die Idee der Geschichtsträchtigkeit des systemischen Ansatzes und der Wunsch, vorhandenes, personales Wissen um Geschichte ebenso wie die persönlichen Geschichten der Protagonisten zu sichern, so lange die Möglichkeit dazu besteht, waren ein wichtiger Motor für dieses Projekt. Gleich im Jahre 2006 erschienen dann die ersten Interviews mit Helm Stierlin (Wolf Ritscher) und Wilhelm Rotthaus (Tom Levold). In den Folgejahren wurde die Rubrik »Im Gespräch« zu einer festen Institution im KONTEXT, die auch in Zukunft Bestand haben wird.
Wie angedeutet, hat sich die Funktion und der Charakter der Gespräche im Vergleich zu den ersten Interviews Anfang der 1980er Jahre sehr verändert. Interviewer und Interviewte sind sich zum Teil seit langem bekannt, durch ihre Beiträge auf Kongressen und Veröffentlichungen ohnehin, oft auch durch persönliche, kollegiale oder freundschaftliche Beziehungen. Das spielt eine große Rolle für die Durchführung der Interviews, da die persönliche Beziehung der Gesprächspartner einen Filter darstellt, mit dem selektiert wird, was angesprochen, was ausgeblendet wird, was interessant oder irrelevant erscheint. Es werden also nicht nur Geschichten, Meinungen und Haltungen der interviewten Personen offenbar, sondern teilweise auch die ihrer Gesprächspartner. Das sind nicht nur unvermeidbare Konsequenzen dieser Interviewkonzeption, sondern durchaus in Kauf genommene Aspekte der Gespräche, die sie auf diese Weise selbst zu Dokumenten der systemischen Szene machen.
Erfreulicherweise konnten wir alle Interviewer, auch die der frühen Jahre, dafür gewinnen, einen kleinen Einleitungstext zu ihren Interviews zu schreiben, durch den das Interview noch einmal zeitlich und persönlich kontextualisiert wird. Es wird deutlich, dass die Geschichten, die in den Interviews zum Vorschein kommen, bis heute nichts von ihrer Lebendigkeit verloren haben. Sie bieten einen nach wie vor aktuellen Einblick in die Entwicklung unseres Feldes, den wir gern mit einer breiten Leserschaft auch über die Abonnenten des KONTEXT hinaus teilen möchten.
Gedächtnis, Erinnerung und biografisch orientierte Interviews
Das Projekt der KONTEXT-Interviews war, wie deutlich geworden sein dürfte, von Anfang an durch die Idee gekennzeichnet, einen Zugang zur Geschichte durch das Sprechen über Geschichten zu legen. Freilich wirft die Herstellung von und der Umgang mit diesem Material einige theoretische und methodische Fragen auf, die wir abschließend an dieser Stelle behandeln möchten.
Das, was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine besondere, komplexe Möglichkeit der Gedächtnisbildung, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen entstehen durch die Bezugnahme auf vergangene Erfahrungen, das darin gebildete Wissen und Verhaltensrepertoire Orientierungen, Werkzeuge, Theorien und Begriffe für die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungssituationen. Zum anderen – und dies ist sicherlich spezifisch für das Gattungswesen Mensch – ist es die reflexive und bewusste Bezugnahme auf sich selbst: Ich bin es, der dies tut und jenes nicht, der sich für oder gegen etwas entscheidet, der einen Plan entwickelt und diesen erfolgreich oder ohne den gewünschten Erfolg umgesetzt hat. Diese Bezugnahme auf sich selbst als eine die gesamte Lebensspanne zwischen Geburt und Tod durchlaufende Person, die sich verändert und doch sie selbst bleibt, die sich als mit sich selbst identisch erlebt und doch in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich denkt und handelt, ist verknüpft mit dem Wissen um die eigene Geschichte und die Möglichkeit, auf diese zurückzugreifen. Zentral ist also für uns Menschen und unsere Lebenspraxis das »autobiographische Gedächtnis«, »jene Instanz unserer Persönlichkeit, die uns hilft, uns über alle lebensgeschichtlichen Brüche und Veränderungen hinweg als ein kontinuierliches Ich zu erleben« (Welzer, 2011, S. 207). In persönlichen Gesprächen wie den hier versammelten Interviews, die in einem bestimmten Kontext geführt worden sind, aber keinem Fragenkatalog unterlagen, bekommen diese Aspekte den ihnen zustehenden Raum.
In der Gedächtnisforschung besteht weitgehend Konsens, dass es fünf Gedächtnisbereiche gibt (hier nach Markowitsch, 2009), die vom handelnden Subjekt genutzt und koordiniert werden:
–Das episodische Gedächtnis ermöglicht die Erinnerung an erlebte Situationen mit den darin handelnden Menschen, ihren Motiven, Intentionen, Zielen, Bewältigungsmustern, Themen, Beziehungen und Handlungsresultaten.
–Das semantische Gedächtnis schließt an das sprachlich verfügbare Wissen an, das wir im Laufe unserer Geschichte erwerben, und stellt die Brücke zwischen individueller Erfahrung und geteilten Wissensbeständen dar – wir filtern unsere Erinnerungen durch soziale Wissensstrukturen und ordnen sie in gesellschaftlich geteilte kulturelle Rahmen ein. Dreh- und Angelpunkt für die Begegnung im Gespräch ist die gesprochene Sprache, die im Transkript der Dialoge den Leserinnen und Lesern zugänglich wird.
–Das prozedurale Handlungsgedächtnis ist im Gegensatz dazu unbewusst und nicht sprachlich verfasst, es erlaubt uns weitgehend von Reflexion entbundenes automatisiertes Handeln.
–Das perzeptuelle Gedächtnis ermöglicht das (Wieder-)Erkennen und die Einordnung von Wahrnehmungsinhalten in schon vorhandene kognitivaffektive Schemata (Ciompi, 1998). Es kann »deklarativ« funktionieren, wenn wir eine ganz bewusste Erkennungsleistung vollbringen, zum Beispiel eine Person wiedererkennen, und uns an ihren Namen, biografische Grunddaten, besondere Verhaltensmerkmale erinnern. Es kann aber auch unbewusst funktionieren, indem in einer Situation ein ganz bestimmtes Gefühl entsteht, das uns vor etwas warnt oder zu etwas verlockt. Ein Gespräch bietet viele Möglichkeiten der Mobilisierung dieser perzeptuellen Schemata zur Rekonstruktion von Erinnerungen an Personen, Situationen, Räume, Gedanken und Gefühle, die erst im dialogischen Moment selbst entstehen.
–In seiner »Theorie der Erinnerung« schlägt Harald Welzer (2011) vor, das autobiografische Gedächtnis als ein diesen einzelnen Gedächtnisbereichen übergeordnetes System zu betrachten. Es stellt den Kontext und Rahmen für die unterschiedlichen Gedächtnisleistungen her, die an der Konstruktion von Geschichte und Geschichten beteiligt sind.
Wir wollten gern wissen, durch welche biografisch wichtigen Ereignisse und Begegnungen mit bestimmten Menschen bei unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern Haltungen, Skripte, Bewertungssysteme, Wahrnehmungsraster entstanden sind, die ihr Interesse an der Familien- und systemischen Therapie geweckt und weiter befördert haben. Welche der von ihnen entwickelten Theorien und Handlungskonzepte, welche ihrer »Karriereschritte« lassen sich mit persönlichen biografisch thematisierbaren Erfahrungen verbinden? Welche Motive, beispielsweise des Helfens, des Abgrenzens, des Begreifens (und damit der Befähigung zur Kontrolle des eigenen Handelns) sind in der Herkunftsfamilie als damals nützliche Handlungsstrategien entstanden, die später professionell hilfreich oder auch behindernd sein können? Welche Kommunikationsstrategien wurden gelernt? Ist man heute eher ein »Teamplayer« und kann damit vielleicht auf eigene Muster in der Herkunftsfamilie zurückgreifen, in der man es mit vielen Geschwistern zu tun hatte? Hat mich das systemische Denken besonders angezogen, weil es mich befähigt hat, aus dem traditionell sozialisierten »Entweder-oder-Muster« auszusteigen, zugunsten eines Musters des »Sowohl-als-auch«? Für den Interviewer bringt das die Aufgabe der Hypothesenbildung und deren Umsetzung in Fragen mit sich – ganz so, wie wir es auch für den therapeutischen Kontext gelernt haben.
Die Gedächtnis- und Wahrnehmungsforschung hat mit dem Konzept des Priming einen internen kognitiv-affektiven Prozess beschrieben, der das, was in unseren Interviews entsteht, gut wiedergibt. Priming ist nicht exakt zu übersetzen und meint so viel wie das In-Gang-Setzen von assoziativen Verknüpfungen mehrerer Reize, das heißt, ein Reiz aktiviert eine spezifische neuronale Verschaltung im Gehirn, die zur Aktivierung weiterer neuronaler Netze führt. Gespräche wie die in diesem Buch versammelten Interviews sind Beispiele des Evozierens und Förderns von Priming. Was andernorts vielleicht als störend empfunden wird – das assoziative Gleiten von einem Thema zum anderen, das Verschieben des Aufmerksamkeitsfokus, das Sich-Entlanghangeln an Bildern –, ist ein wesentliches Charakteristikum des Gesprächs, das natürlich immer wieder seinen balancierenden Gegenpol in den strukturierenden Fragen des Interviewers, der Interviewerin findet.
Denken (die Benennung dessen, was ich tue, wahrnehme, erkenne), Fühlen (die Bewertung dessen, was ich gerade erfahre) und Handeln sind untrennbar miteinander verbunden; ihr gemeinsamer Bezugspunkt sind Empfindungen – die leibliche Verankerung unserer Wahrnehmungen, Handlungen und Erinnerungen. Immer wenn wir wahrnehmen, erinnern, erkennen, sind die dafür zuständigen Areale des Gehirns vernetzt tätig. Und es sind in einem weit größeren Maße Gefühle, die unsere Praxis bestimmen, unsere Wahrnehmungen in eine bestimmte Richtung lenken, Informationen ablehnen, ignorieren oder bevorzugen, Erinnerungen hervorrufen, relativieren, verändern oder dem Vergessen bzw. der Verdrängung anheim geben. Wir sind viel weniger rational gesteuert, als wir das gemeinhin für notwendig und realistisch halten. Das hat für die Erinnerung weitreichende Folgen: »Offenbar spielt die emotionale Einbettung einer erlebten Situation eine größere Rolle für das, was erinnert wird, als was in dieser Situation ›wirklich‹ geschehen ist« (Welzer, 2011, S. 37).
Ähnliches gilt auch für die Gesprächssituation und ihre emotionale Qualität selbst. Erinnerung bedeutet nicht, wie bei einem Computer, gesicherte Daten aus einem Speicher abzurufen. Vielmehr führt jede Erinnerung zu einer Veränderung des Speichers und der erinnerten Inhalte. Fragen, Interesse, Bewertungen und emotionale Rahmung eines Gespräches entscheiden also mit darüber, was auf welche Weise erinnert wird. Selbstverständlich gilt das soeben Gesagte auch für die Interviewer: Viele Fragen waren nicht vorab überlegt, sondern »ergaben« sich aus der eigenen Intuition, »freien Assoziation« und emotionaler Gestimmtheit.
Erinnerung ist – wie schon die Wahrnehmung – ein Konstruktionsprozess, keine wirklichkeitsgetreue Reproduktion dessen, was erlebt wurde. Aus all den Komponenten des zuvor beschriebenen autobiografischen Gedächtnisses stellen wir Erinnerungen unter dem Primat unserer Gefühle her. Es kann keine exakte Wiederherstellung erlebter Situationen geben; stattdessen werden immer wieder neue Gedanken-Gefühls-Empfindungs-Bilder auf der Folie der ursprünglichen Situation hergestellt – im Kontext der aktuellen Erinnerungssituation. In unseren Interviews werden also nicht Episoden der systemischen Geschichte originalgetreu nachgezeichnet, sondern von unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern unter ihren Blickwinkeln neu erzählt. Das macht die neuen Geschichten nicht weniger wertvoll, im Gegenteil, es macht sie unverwechselbar persönlich und verhilft uns zu einer besonderen Beziehung mit dem Erzähler, der Erzählerin.
Erinnerung ist ein sozialer Konstruktionsprozess. Auch die beiden Gesprächspartner bzw. Gesprächspartnerinnen in den von uns geführten Interviews bilden eine Erzählgemeinschaft: Beide gehören derselben systemischen Szene an, sie teilen deren Grundüberzeugungen, sie kennen sich gegenseitig persönlich und miteinander viele andere Wanderer in der systemischen Landschaft. So entsteht eine Vertrautheit, die Offenheit und Erzählfreude fördert.
Erinnerung ist ein kommunikativer Prozess. Schon die ersten Erinnerungsspuren im Leben eines Menschen sind die Folge der steten Kommunikation zwischen dem Kind, seiner Mutter und – vermittelt durch sie – der erweiterten Umwelt. Erinnerung vollzieht sich innerhalb sozialer Gemeinschaften – Familien, Gesellschaften, ethnischen und nationalen Gemeinschaften – und eben auch des dialogischen Sprechens im Rahmen unserer Interviews. Gemeinsame Erinnerung wirkt identitätsstiftend bzw. identitätssichernd und so präsentieren beide Gesprächspartner sich wechselseitig ihre Identität als Systemiker und nutzen sie, um »sich verstehend« das Gespräch weiterzuentwickeln.
Aleida Assmann und Ute Frevert unterscheiden in der Folge von Jan Assmann drei Formen des sozialen Gedächtnisses – das kommunikative, das kollektive und das kulturelle Gedächtnis. Unsere Interviews verstehen wir als Beispiele der Entwicklung eines kommunikativen Gedächtnisses, dem »Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung« im öffentlichen Raum (Assmann u. Frevert, 1999, S. 36). Es ist immer das individuelle Gedächtnis, das aber nicht in subjektiver Abgeschlossenheit, sondern »stets in Kommunikation, d. h. im Austausch mit Mitmenschen aufgebaut und verfestigt« wird (S. 36). Durch die schriftliche Dokumentation der Gespräche finden diese aber auch Eingang in das kollektive Gedächtnis, zumindest das des »systemischen Milieus«, und – so hoffen wir zumindest – auch darüber hinaus.
Erinnerung ist ein kulturell geprägter Prozess. Jede Kultur hat eigene kulturelle Muster, Sprachbilder, Worte entwickelt, die auch den syntaktischen und semantischen Rahmen für Erinnerungen herstellt. Auch die systemische Therapie, die Familientherapie hat eine eigene Kultur entwickelt – mit eigenen Begriffen, Codes, Schlüsselgeschichten, Gründungsmythen und Gründungsgurus. Selbstverständlich bildet dieses kulturelle Gedächtnis auch einen semantischen und syntaktischen Rahmen für die in der aktuellen Interviewsituation entstehenden Erinnerungen und die sie reflektierenden Kommentierungen beider Seiten.
Wir müssen, die »Kontextualisierung« als wichtiges systemisches Prinzip ernstnehmend, im Hinblick auf die Interviews drei Bezugspunkte beachten: die persönliche Erzählung, die persönliche Erzählung im Kontext der von den beiden Gesprächspartnern gestalteten Beziehungssituation während des Gesprächs und die Transformierung dieser Erzählung in den öffentlichen Raum.
Die persönliche Erzählung wird durch die fragende Person angeregt und in eine ganz bestimmte Richtung gebracht – sei es, weil die interviewte Person der Frage folgt oder vor ihrem Hintergrund einen anderen Erzählstrang initiiert oder weiterführt. Im Gespräch mit einem anderen Interviewer, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Raum wären wahrscheinlich andere Erinnerungen oder zumindest anders präsentierte und konnotierte Erinnerungen entstanden.
Beide Seiten sind sich der Tatsache bewusst, dass ihr Gespräch durch die Texttranskription in den öffentlichen Raum transformiert wird. Was will ich sagen, was darf ich fragen, welches Thema sollte in den Vordergrund gestellt, welches am Rand behandelt werden? All dies sind Aspekte, die für beide eine Metaebene des Gesprächs bilden, ohne dass sie unbedingt als solche benannt werden. Wie möchte ich mich selbst der Öffentlichkeit darstellen, was kommt gut an, wo muss ich mich schützen und was soll dementsprechend im Raum des Privaten verbleiben? Die Interviewerin kann im Sinne einer »Resonanz« (Elkaim, 1992) solche Fragen des Gesprächspartners schon vorwegnehmen bzw. empathisch erspüren. So bilden sich eben auch unausgesprochene gemeinsame Absprachen – wie in jeder alltäglichen Beziehungssituation.
In der Geschichtswissenschaft gibt es das (durchaus umstrittene) Konzept der »oral history«: Menschen berichten als Zeitzeugen über zeitgeschichtlich relevante Episoden, soziale Verhältnisse, politische Entscheidungen, kulturelle Stimmungen und diesbezüglich einflussreiche Personen aus der Perspektive eigener Erfahrungen. Sie setzen sich in Beziehung dazu und es entsteht eine Geschichtsschreibung »von unten« durch diejenigen, deren Lebenswelt und Lebenslagen davon betroffen sind und beeinflusst werden (siehe hierzu Kraus, 2016). So entsteht ein ganz anderes Bild historischer Phänomene, als es die akademische und distanzierte Geschichtswissenschaft zeichnet. Diese ist wissenschaftlich dem Zwang »objektiver« Begründungen durch »Fakten« unterworfen, welche durch Dokumente jeglicher Art (Texte, Bilder, Akten, Fotos, mündliche Berichte usw.) zu belegen sind.
Wenn Menschen über ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen berichten bzw. bestimmte zeitgeschichtlich relevante Ereignisse und Menschen mit sich selbst und ihren Erfahrungen in Beziehung setzen, geht es in erster Linie um sie selbst. Sie beschreiben subjektiv rekonstruierte und emotional konnotierte Situationen – manchmal mit dem Anspruch, dies sei nun die Wahrheit. In der Tat ist es eine Wahrheit, aber zunächst einmal eine subjektive, die sich dann im mehrstimmigen und multiperspektivischen Diskurs zu einer diskursiven, gemeinsam geteilten Wahrheit entwickeln kann oder die Repräsentation einer »einsamen Stimme in der Wüste« bleibt. In gewisser Weise sind unsere Interviews auch Teil einer »oral history« in der systemischen Landschaft. Hier kommen die Gestalter von Verhältnissen, Relationen, Wissensbeständen, Theorien und Methoden selbst zu Wort, und es sind nun die Leserinnen und Leser im öffentlichen Raum, die ihre eigenen professionellen Erfahrungen anhand des Erzählten und seiner schriftlichen Wiedergabe reflektieren und überprüfen können. Es wäre reizvoll, die Gesprächspartner zu Folgeinterviews einzuladen, um mit ihnen über ihre Wahrnehmungen, Bewertungen des gelesenen Interviews und die erneuten Verknüpfungen mit ihrer eigenen Biografie zu sprechen – das wäre gelebte Zirkularität, aber als solche kaum zu realisieren. Leider bleibt auch in unserem Feld das Wünschbare manchmal jenseits des Horizonts der Möglichkeiten.
Literatur
Assmann, A., Frevert, U. (1999). Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: DVA.
Ciompi, L. (1998). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung (5., um ein Vorw. erw. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Elkaim, M. (1992). Wenn du mich liebst, lieb mich nicht. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Familientherapie. Freiburg i. B.: Lambertus.
Huber, M. (2005). Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung Teil 1 (2. Aufl.). Paderborn: Junfermann.
Kraus, B. (2016). Systemisch-konstruktivistische Lebensweltorientierung. Lebenswelt vs. Lebenslage – vom Nutzen einer Unterscheidung für die Gestaltung professioneller Interaktion. Familiendynamik, 41 (3), 188–196.
Markowitsch, H. J. (2009). Das Gedächtnis: Entwicklung, Funktionen, Störungen. München: C. H. Beck.
Welzer, H. (2011). Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung (3. Aufl.). München: C. H. Beck.
Klaus G. Deissler
Transkontextuelle Aktivitäten – systemische Anfänge
Eigentlich hatte ich mein Studium begonnen, um nicht nur ausnahmsweise zu psychotherapierelevanten Erkenntnissen zu gelangen. Aber erst im letzten Drittel des Studiums – 1972 bis 1974 – hatte ich am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg die Chance, an einer gesprächspsychotherapeutischen Ausbildung teilzunehmen. Diese Ausbildung habe ich 1976 – zwei Jahre nach Beendigung meines Studiums – abgeschlossen. Noch während meines Studiums hat unser Ausbildungsleiter¹ uns dankenswerterweise neben der Literatur für das von Rogers begründete Verfahren auch mit diversen anderen Psychotherapieansätzen vertraut gemacht. Unter anderem schlug er uns vor, das Buch »Menschliche Kommunikation« (1967) von Paul Watzlawick zu lesen. Dieses Buch stellte für mich das erste Mal in systematischer Weise dar, was man die »relationale (soziale) Verankerung psychischer Probleme« nennen könnte – das, was ich während meines Studiums lange gesucht, aber nicht gefunden hatte.
Nach dem Lesen dieses Buches stand für mich fest, dass ich mich mit den von Watzlawick zitierten Autoren und den vermittelten Inhalten intensiver auseinandersetzen wollte. Dass daraus ein postuniversitäres, privates – vermutlich lebenslanges – Studium werden und sich bis heute auf meinen beruflichen Lebensweg auswirken sollte, war mir damals nicht klar. Jedenfalls war die Kommunikationstheorie – wie sie damals genannt wurde – für mich so faszinierend, dass ich mich auf den Weg machte, mich darin praktisch und theoretisch zu bilden – wie gesagt postuniversitär.
Bei der Suche nach Kolleginnen und Kollegen, die sich für ähnliche Inhalte interessierten, stieß ich auf die deutsche Familientherapieszene, die insbesondere durch ihre psychoanalytisch orientierten Vertreter geprägt war.
So begab es sich Mitte der 1970er Jahre, dass ein paar wenige Aktivisten in Deutschland eine Bewegung gründeten, die die Familientherapie fördern wollten – eine neue ganzheitliche Sichtweise auf psychische Probleme, ihre zwischenmenschliche Verankerung und damit verbunden neue therapeutische Möglichkeiten. Sie gründeten 1978 einen Verein, der sich DAF² – Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie – nannte. Auch in diesem Verein dominierte der psychoanalytische Diskurs, geführt unter anderen von Horst-Eberhard Richter und seinen Mitarbeitern aus Gießen, Eckhard Sperling und Almuth Massing und ihren Mitarbeitern aus Göttingen sowie Karl Gerlicher mit seinem Team aus Erlangen.
Innerhalb dieser Bewegung gab es vereinzelt auch andere Stimmen, die sich weniger dem analytischen Denken verpflichtet fühlten. Sie nannten ihre Ideen damals noch kommunikationstheoretisch, vereinzelt auch schüchtern »systemisch«. Zu dieser Gruppierung zählte ich mich.
Die persönlichen Kontakte mit Vertretern der verschiedenen analytisch geprägten Gruppierungen fand ich im Umgang verbindlich, freundlich und förderlich. – Was ich weniger mochte, waren ihre Orientierung am klinischen (medizinischen) Krankheitsdenken, die Auffassung, dass Familientherapeuten eine formal abgeschlossene psychoanalytische Selbsterfahrung (Lehranalyse) vollzogen haben sollten und der manchmal überhebliche Umgang mit Ideen, die nicht die ihren waren.
Im Kontext dieser Unterschiede fanden am Rande von Tagungen auch Diskussionen statt, die den Aufbau einer Vereinszeitschrift zum Inhalt hatten. Kurz gesagt ergab sich eine Gründungskonstellation von Wolfgang Dierking, Norbert Spangenberg – beide Mitarbeiter des Gießener psychoanalytischen Instituts – und mir. Wir einigten uns schnell auf den Zeitschriftentitel »Kontext« – da uns das kontextuelle Denken bei allen Unterschieden verband.
Die damalige Machart der Zeitschrift und die Form der Zusammenarbeit in der Redaktion war von Spontaneität, Improvisation, Unregelmäßigkeit der Redaktionstreffen, mangelnden finanziellen Möglichkeiten und halbherziger Unterstützung seitens des Vereins gekennzeichnet. Demgemäß erschienen die Ausgaben der Zeitschrift nur unregelmäßig und in einer Druckform, die einige Wünsche offen ließen.
Meine Aufgabe in der Redaktion sah ich darin, trotz der widrigen Umstände die damals neuen »systemischen« Denkrichtungen bekannt zu machen, ihnen Räume zu öffnen und Stimmen zu geben, die bis dahin im bundesdeutschen Diskurs nicht möglich waren. Dies ließ sich aus meiner Sicht am besten indirekt realisieren, indem ich in Gesprächen Stimmen laut werden ließ, die für die damalige Zeit außergewöhnlich waren, nicht dem dominanten (deutschsprachigen) Diskurs angehörten, also von »außen« kamen und deshalb ohne Rücksicht auf die politischen Verhältnisse ihre Ideen äußern und ihre Praxisvorschläge machen konnten.
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1Jürg Hartmann, Diplom-Psychologe, Marburg.
2Im Jahr 2000 schlossen sich DAF und DFS (Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten, gegründet 1987) zur DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie – zusammen.
Klaus G. Deissler im Gespräch mit Mara Selvini Palazzoli: Ein systemischer Beginn (1979)
Vorbemerkungen aus damaliger Sicht
Work innovatively toward synthesis of new ideas, but expect no
encouragement until after you have made a success.
(Harley C. Shands)
Während meines Besuches im »Centro per lo studio della Famiglia« in Mailand habe ich am 10.04.1979 für KONTEXT – Informationsblätter der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie e. v. (DAF) das folgende Interview geführt.
Nach den Gründen für dieses Interview gefragt, möchte ich Folgendes voranschicken: Im deutschen Sprachraum herrschen durch verschiedene Entwicklungsprozesse bedingt psychoanalytische und/oder psychiatrische Denk- und Handlungsmodelle vor, die man in ihrer Überzahl vom therapeutischen Ansatz her als »sozial-atomistisch« bezeichnen kann. Diese Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie hinsichtlich des Verständnisses menschlicher Probleme »ego-zentri-petal« angelegt sind. Dies heißt verkürzt gesprochen: Gemäß dem zugrunde liegenden »medizinischen Modell« werden fast alle menschlichen Probleme als Probleme von Individuen angesehen; (diese Betrachtungsweise herrscht zurzeit in allen psychosozialen Berufsgruppen vor). Durch dieses geistige Konstruktionsprinzip werden Individuen losgelöst von ihrem natürlichen – das heißt ökosystemischen – Kontext betrachtet und damit künstlich »isoliert«; darüber hinaus werden die betreffenden Individuen hinsichtlich psychiatrischer »Gesundheits-/Krankheitslehre« kategorisiert und schließlich – je nach therapieprognostischem Wert der psychiatrischen Kategorie – therapiert oder »verwahrt«.
Dieses Vorgehen hat verschiedene Konsequenzen: Es verschleiert die gesellschaftliche Funktion des Kategorisierenden, blendet das gesamte systemische Wirkungsgefüge, welches die Basis der jeweiligen Probleme darstellt, aus und stellt damit eine Selbstbehinderung psychotherapeutischer Arbeit dar.
Ich hoffe, durch dieses Interview wird deutlich, dass es echte (!) Alternativen zu dem kurz skizzierten »medizinischen Modell« gibt – und welcher ungeheuren Anstrengungen es bedarf, solche Alternativen umzusetzen und sie in der Praxis durchzuhalten: Das Mailänder Modell stellt für mich eine der wenigen zukunftsweisenden systemischen Alternativen dar.
Zu den formalen Aspekten des Interviews möchte ich folgende Informationen geben: Die Fragen wurden von Herrn Hans-Friedrich Kraa (Marburg) ins Italienische übersetzt und direkt an Frau Selvini gerichtet; Frau Selvini antwortete in englischer Sprache – Zusatzfragen wurden ebenfalls in Englisch gestellt. Die Rückübersetzung und Redaktion wurde vom Interviewer selbst vorgenommen. Die Gesamtdauer des Interviews betrug circa anderthalb Stunden.
Abschließend möchte ich mich bei der »Familientherapeutischen Arbeitsgemeinschaft Marburg (fam) e. V.« für die Beteiligung an den Dolmetscherkosten bedanken.
Klaus G. Deissler
Vorbemerkungen aus heutiger Sicht
Indem ich versuchte, den in meiner Einführung »Transkontextuelle Aktivitäten – systemische Anfänge« beschriebenen Weg zu gehen, erfuhr ich 1978 eher zufällig von einer Tagung, die vom Fachbereich Sozialwesen in Kassel organisiert wurde. Als ich auf dem Programm zwei Namen las, wusste ich, dass ich diese Tagung unbedingt besuchen wollte: Es handelte sich bei den beiden um Franco Basaglia, weltbekannt für seine Aktivitäten bei der Auflösung psychiatrischer Krankenhäuser in Italien, und Mara Selvini Palazzoli (1916–1999)³, die ebenfalls aus Italien stammte und sich anschickte, die bekannteste »systemische« Familientherapeutin der Welt zu werden: Es war ihr anscheinend zusammen mit ihrem Team gelungen, ein systemisch-familientherapeutisches Verfahren zu entwickeln, das bei jugendlichen »anorektischen« sowie »psychotischen« Patienten erfolgreich angewendet werden konnte. Auf der Tagung selbst wurde ich mit einem Entscheidungsdilemma konfrontiert: Die Veranstalter hatten es fertiggebracht, die Vorträge der beiden zum gleichen Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Ich musste mich also entscheiden. Da mein Herz zwar für beides, jedoch mehr für die Praxis der Psychotherapie als für Psychiatriepolitik schlug, wusste ich schnell, dass ich mich für Selvini Palazzoli entscheiden würde.
Da saß ich nun und lauschte fasziniert dem Vortrag dieser kleinen, energiegeladenen, italienischen Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich von ihrem Universitätsjob verabschiedet und mit Pioniergeist ein »systemisches« Familientherapieteam gegründet hatte. Das, was sie von ihrer familientherapeutischen Praxis erzählte, schien mir noch faszinierender als ihre Veröffentlichungen und so neuartig und revolutionär, dass ich mich entschloss, mehr von ihrer Praxis zu erfahren. Aber wie konnte ich das anstellen?
Während ihrer Vortragspause sah ich Mara Selvini Palazzoli allein in einem Innenhof hin- und hergehen – ich wunderte mich, dass sie so vereinsamt schien und nicht umringt war von Fachleuten, die mehr von ihr und ihrer systemischen Praxis erfahren wollten. Sollte ich der Einzige sein, der sie als familientherapeutisch Engagierter ansprechen konnte? Ich fand den Mut nicht dazu, es in dieser Pausensituation zu tun.
Nachdem Selvini ihren Vortrag beendet hatte, entschloss ich mich, zu ihr zu gehen und sie einfach zu fragen, ob ich sie in ihrem Institut besuchen und interviewen dürfe, da ich von ihrem Ansatz begeistert sei. Zu meinem Erstaunen bejahte sie beide Fragen und schien sich sogar darüber zu freuen.
Der Rest war eine Frage der Terminabstimmung, der vorbereitenden Telefonate und schließlich eines einwöchigen Besuchs beim Mailänder Team, bei dem ich meist hinter der Einwegscheibe saß, die familientherapeutischen Gespräche verfolgte, der Teamreflexion hinter der Einwegscheibe zuhören und die Abschlussintervention samt der Wirkungen auf die jeweilige Familie hören und sehen konnte.
Obwohl ich eines Übersetzers bedurfte, um die gesprochenen Worte zu verstehen, war es für mich ein selten intensives Lernerlebnis, das die Weichen für meine weitere praktische Arbeit und mein Engagement im systemischen Feld stellte.
Aus diesen Erfahrungen folgte auch eine langjährige berufliche Freundschaft mit den männlichen Mitgliedern des damaligen Mailänder Teams: Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo, die mir weitere Kontakte zu Kolleginnen im In- und Ausland und damit weitere therapeutische Lernerfahrungen, persönliche und berufliche Freundschaften und eigene Beiträge zur Entwicklung der systemischen Therapie ermöglichten. Zu den von Cecchin und Boscolo ermöglichten Kontakten gehörten zum Beispiel die Heidelberger Arbeitsgruppe um Helm Stierlin⁴, Tom Andersen aus Norwegen⁵ sowie Harry Goolishian⁶ und Harlene Anderson⁷ aus den USA.
Das Interview, das ich im Rahmen meines Besuchs des Mailänder Instituts mit Mara Selvini Palazzoli führte, ist auf den folgenden Seiten abgedruckt.
Klaus G. Deissler
Das Gespräch
⁸
KLAUS G. DEISSLER: Frau Selvini, Sie sind eine der bekanntesten Familientherapeuten Europas, wie sind Sie zur Familientherapie gekommen?
MARA SELVINI PALAZZOLI: In einer bestimmten, ganz anderen Weise als meine Kollegen – nicht nur zur Familientherapie, sondern auch zur Psychiatrie: Ich war Internist, ein Praktiker der Allgemeinmedizin an der Universität von Mailand; dort sah ich zum ersten Mal anorektische Patienten und ich bemerkte in den 1950er Jahren, dass es unmöglich war, diese Patienten medikamentös zu behandeln und dass es sich dabei sicherlich um psychologische Probleme handeln würde.
Nachdem ich mich auf die Innere Medizin spezialisiert hatte, beschloss ich aus diesem Grund, mich auf Psychiatrie zu spezialisieren und mich in Psychoanalyse auszubilden – lediglich, um die Anorexie zu verstehen, weil ich an diesem Problem sehr interessiert war.
Ich wurde psychoanalytisch ausgebildet bei Professor Benedetti in Basel; er kommt aus Sizilien und leitet das Institut für Psychotherapie in Basel. – 1963 schrieb ich mein erstes Buch: »Anorexia Mentale«⁹, das von Feltrinelli verlegt wurde – Feltrinelli war immer mein Verleger. Danach gründete ich eine Gruppe hier in Mailand; diese wollte Psychotherapie in das psychiatrische Krankenhaus einführen – natürlich mit dem psychoanalytischen Modell ausgerüstet.
In den Jahren 1964–65 geriet ich in eine Krise, weil ich den Eindruck gewann, dass die Psychoanalyse kein gutes Instrument sei; zu wenig Patienten konnten behandelt werden, die Behandlung war sehr teuer und die Ergebnisse waren mager, ärmlich. Ich habe damals circa 60 anorektische Patienten behandelt: Die Ergebnisse waren nicht sehr gut, sie entsprachen nicht den enormen Anstrengungen und dem Zeitaufwand, den ich diesen Patienten widmen musste. Aber der »Tropfen«, der meine volle Krise auslöste, war eine Serie sehr interessanter Aufsätze, die von Lyman Wynne und Margaret Thaler Singer 1963 veröffentlicht wurde. Ich las diese Aufsätze jedoch erst 1965. Der Titel dieser Aufsätze lautete »Thought disorder and family relations of schizophrenics«¹⁰. Nachdem ich diese Aufsätze gelesen hatte, begann ich alle Aufsätze zu lesen, die damals veröffentlicht wurden und die Familien von Schizophrenen betrafen: Ich geriet also in eine entscheidende Krise, und innerhalb einer sehr kurzen Zeit entschied ich, dass es für mich nicht mehr aufrichtig war, Psychoanalytikerin zu sein, weil ich überzeugt war, dass der Weg falsch war. Deshalb entschloss ich mich innerhalb einer Woche, meinen Beruf aufzugeben; ich wollte lediglich die Fälle beenden, die ich begonnen hatte – es wäre nicht aufrichtig gewesen, sie im Stich zu lassen –, aber ich nahm keine neuen Fälle mehr an. Meine Haushälterin hatte damals den Auftrag, falls jemand um einen Termin bitten sollte, mitzuteilen: »Dr. Selvini hat ihren Beruf aufgegeben.«
Ich wurde damals sehr kritisiert von Psychoanalytikern – jeder lachte über mich: »Die ist verrückt« usw. Aber ich war sehr überzeugt von meinen Ideen – ich gab also meinen Beruf auf und begann mit Familientherapie.
1967 gründete ich das erste Zentrum für Familientherapie; wir waren sehr arm, ich hatte kein Geld – dieses Zentrum befand sich in einem Keller, einer Art Katakombe, dort traf ich die ersten Familien. Danach ging ich in die Staaten – nur für kurze Zeit: Ich hielt mich insbesondere in Philadelphia auf, dort war ich sehr unglücklich, denn ich ging zum Institut von Boszormenyi-Nagy und Framo: Sie verwandten das psychoanalytische Modell. – Als ich zurückkam, schlugen alle Bemühungen fehl.
Deshalb entschied ich, dass die Psychoanalyse nicht das richtige Modell und dass es notwendig war, das systemische Modell zu wählen. Wir entschlossen uns damals, Dr. Watzlawick für ein paar Tage einzuladen, um zu entscheiden, dass wir unsere Richtung geändert hatten: Unsere Anstrengungen bestanden also darin, absolut kohärent mit dem Modell zu werden, das wir gewählt hatten, die Psychoanalyse in eine Schublade zu stecken und sie zu vergessen. Die Psychoanalyse war für mich eine sehr wichtige »Bildung«, ich habe über 15 Jahre mit diesem Modell gearbeitet, ich hatte eine sehr gute Ausbildung bei Professor Benedetti, ich hatte keine Angst, von meinen Klienten an der Nase herumgeführt zu werden, und ich lernte auch die nonverbale Sprache zu verstehen – das Verhalten als Kommunikation usw.
Aber bedingt durch das psychoanalytische Modell war ich für eine gewisse Zeit gezwungen, das »lineare« Modell anzuwenden und dementsprechend zu denken: zum Beispiel dieser Vater ist ein Krimineller, diese Mutter ist die Ursache von allen Schwierigkeiten. Danach mussten wir jedoch die gesamte Kraft des Teams zusammennehmen, um einen Sprung zu vollziehen, damit wir das systemische bzw. zirkuläre Modell erreichen konnten – das war ein extrem schwieriges Unterfangen. Deshalb hatte ich auch viele Schwierigkeiten mit dem Team, denn ich gründete das Team, als wir das psychoanalytische Modell benutzten. Nachdem ich mich entschloss, die Psychoanalyse aufzugeben, um mir das systemische Modell zu eigen zu machen, kam es zu Auseinandersetzungen im Team, was schließlich dazu führte, dass vier Mitglieder des Teams weggingen. Ich blieb zurück mit dem jetzigen Team: Dr. Boscolo, Dr. Cecchin und Dr. Prata; die anderen Mitglieder verließen das Team, weil sie das psychoanalytische Modell nicht aufgeben wollten.
Ende 1971, Anfang 1972 begannen wir unsere Forschungen mit diesem Programm, um schizophrene Familien zu behandeln; die Erfahrungen aus dieser Zeit sind in dem Buch »Paradoxon und Gegenparadoxon«¹¹ dargestellt; wir behandelten auch viele anorektische Familien usw. Die Anstrengungen waren jedoch absolut schrecklich, weil wir jeden Augenblick in das lineare Modell zurückfielen, jeden Moment stellten wir fest, dass wir kausal dachten und nicht systemisch. – Heute bin ich überzeugt, während jeder proklamiert »ich bin systemisch« – Minuchin sagt: »ich bin systemisch«, Selvini sagt: »ich bin systemisch« –, ist niemand wirklich systemisch: Es ist unmöglich, wirklich systemisch zu denken, weil wir die Sprache benutzen – und die Sprache ist linear. Wir sind also nur in bestimmten mystischen Augenblicken systemisch, und diese Augenblicke sind sehr kurz; deshalb fallen wir immer wieder in das kausale Modell zurück. Im Alltagsleben müssen wir sogar kausale Modelle benutzen: Wenn mich zum Beispiel jemand tritt, kann ich nicht sagen: »Ich will das jetzt mal systemisch sehen« – ich muss ja reagieren und sage dann vielleicht: »Du Schuft!« usw. Deshalb ist die ganze Sache sehr, sehr schwierig: Wenn man weint, weint man – es ist unmöglich, Weinen nachzuahmen. Manchmal bin ich also ein wenig systemisch, es ist jedoch unmöglich, vollständig systemisch zu sein; deshalb ist es unmöglich, ununterbrochen im zirkulären Modell zu denken. Aus diesem Grund haben wir uns, nachdem wir »Paradoxon und Gegenparadoxon« geschrieben haben, dem Erfinden von Instrumenten und Kunstgriffen oder einigen Richtlinien gewidmet, die uns zwingen, im zirkulären Modell zu denken.
KLAUS G. DEISSLER: Gibt es Personen, denen Sie in praktischer und theoretischer Hinsicht verpflichtet sind?
MARA SELVINI PALAZZOLI: Wen meinen Sie mit dieser Frage?
KLAUS G. DEISSLER: Ich denke in erster Linie an Bateson, vielleicht kann man Watzlawick noch nennen.
MARA SELVINI PALAZZOLI: Ja, ich habe einen Gott: Gregory Bateson; ich denke, dass Gregory Bateson der Genius maximus der Humanwissenschaften ist. – Watzlawick ist ein sehr guter Wissenschaftler, er hat das unsterbliche Verdienst, die Arbeiten von Palo Alto in »Pragmatics of human communication«¹² gesammelt zu haben, aber er ist kein origineller Denker … der Genius ist Gregory Bateson, der Zweite ist Jay Haley, der Dritte Don Jackson und stopp! Nach meiner Meinung liegt der Schlüssel für das systemische Denken in »Steps to an ecology of mind«¹³. Ich habe erfahren, dass Bateson an Krebs erkrankt ist – man sagte, er würde sterben, aber inzwischen soll es ihm besser gehen. Bateson hatte die Absicht, ein weiteres Buch zu schreiben: »Mind and nature – An unseparable unit«.¹⁴ Aber Gregory Bateson ist nach meiner Meinung ein so schwieriger Autor, ein so schwieriger Schriftsteller – er denkt ständig auf der Meta-Meta-Meta-Meta-Ebene, deshalb ist es unmöglich, ihn zu verstehen. Meiner Meinung nach hat er eine mystische Intuition davon, wie zirkulär unser Leben ist, dass unsere Lebensrealität zirkulär ist – für uns ist es unmöglich, das nachzuvollziehen.
»Steps to an ecology of mind« ist kein Buch, das man einfach liest – man muss es lesen und lesen und nochmals lesen und darüber meditieren, meditieren, meditieren und es wieder lesen – vielleicht hundertmal; in diesem Buch liegt also der Schlüssel. Wenn man von diesem Punkt ausgeht, ist es notwendig, genau diesen Weg weiterzugehen, denn Bateson ist der richtungweisende Denker, der den richtigen Weg zeigt.
Bateson war es ja, der die geniale Idee hatte, dass die Familie ein System sei; Bateson hat auch die kybernetischen Gedanken entwickelt, dass das Programm, nach dem eine Familie funktioniert, vergleichbar ist mit dem Programm eines Computers – wenn man das Programm des Computers verändert, ändert sich die Arbeitsweise des Computers – wenn