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Quantenphysik und Soziologie im Dialog: Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung
Quantenphysik und Soziologie im Dialog: Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung
Quantenphysik und Soziologie im Dialog: Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung
eBook538 Seiten5 Stunden

Quantenphysik und Soziologie im Dialog: Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung

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Über dieses E-Book

Sei es in der Quantenphysik, den Kognitionswissenschaften oder der Soziologie – die Problematik des Beobachters und die Einbeziehung von Nicht-Wissen und Unbestimmtheiten ist in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern nicht zuletzt aus empirischen Gründen entstanden. Die hiermit verbundenen theoretischen Konzepte bringen nolens volens Aporien oder Paradoxien mit sich. Nicht zuletzt aus diesem Grunde verspricht der Vergleich von Quantenphysik und Soziologie neue Einsichten in die Leistungen wie auch Probleme von Weltbeschreibungen, die Selbstreferenz nicht per se ausschließen möchten. Der Dialog geschieht anhand ausgewählter Problemfelder. Zu nennen sind hier etwa:

  • Der Objekt-Subjekt-Schnitt;
  • die Frage, was (für wen) Information ist, 
  • die Beobachterabhängigkeit von Begriffen wie Probabilität, Kausalität und Unbestimmtheit, 
  • die Modellierung extrinsischer Eigenschaften, 
  • der Umgang mit Komplexität sowie das Verhältnis von Sinn, Gegenstand und Interpretation.

Mit Blick auf die Arbeiten aus dem Umfeld von Anton Zeilinger treten in diesem Projekt renommierte Physiker und Soziologen in einen Dialog, der neben erkenntnistheoretischen Problemen nicht zuletzt auch die offenen Fragen des eigenen Fachgebiets behandelt.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Juli 2020
ISBN9783662618578
Quantenphysik und Soziologie im Dialog: Betrachtungen zu Zeit, Beobachtung und Verschränkung

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    Buchvorschau

    Quantenphysik und Soziologie im Dialog - Werner Vogd

    © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020

    W. VogdQuantenphysik und Soziologie im Dialoghttps://doi.org/10.1007/978-3-662-61857-8_1

    Einführung

    Werner Vogd¹  

    (1)

    LS für Soziologie, Witten/Herdecke University, Witten, Deutschland

    Werner Vogd

    Email: werner.vogd@uni-wh.de

    »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.«

    H. R. Maturana und F. J. Varela¹

    Die Quantentheorie ist faszinierend. Viele ihrer Vorhersagen über das Verhalten der von ihnen beschriebenen physikalischen Systeme spotten dem gesunden Menschenverstand. Ihr mathematischer Formalismus erschließt sich dem Laien nicht ohne weiteres. Matrizenrechnung und der Umgang mit imaginären Zahlen gehören zur höheren Mathematik und ohne ein längeres, intensives Studium sind nur wenigen hochbegabten Menschen die Implikationen der quantenmechanischen Gleichungen unmittelbar einsichtig. Auch über die Interpretation und Deutung des quantenmechanischen Formalismus sind sich die Physiker selbst nach hundert Jahren immer noch nicht so recht einig. Als in den 1970er Jahren einige der grotesken Vorhersagen der Quantentheorie ihre Bestätigung im Experiment fanden, entstand nicht nur bei einigen philosophisch geneigten Physikern die Hoffnung, zu einer ganzheitlichen Welterklärung zu gelangen, die auch das menschliche Bewusstsein einschließt und zudem spirituelle Bedürfnisse nährt – man denke etwa an Fritjof Capras »Tao der Physik« und Carl Friedrich von Weizsäckers »Einheit der Natur«.²

    Doch knapp ein halbes Jahrhundert später erscheint die Lage unübersichtlicher. Die Experimente zur Quantenphysik sind elaborierter, die gegenstandstheoretischen Zugänge ausgefeilter geworden, doch je mehr man weiß, desto mehr scheint eine einfache, globale Welterklärung in die Ferne zu rücken. Dem Rätsel des phänomenalen Bewusstseins scheint man auch mit den Mitteln der Physik nicht näher zu kommen – auch wenn manche Autoren vorlaut anderes bekunden mögen.³ Vielmehr erscheint die physikalische Welt heute noch bizarrer und unverständlicher als man in seinen kühnsten Träumen geglaubt hat.

    Anfang der 1980er Jahre sind unterschiedliche kybernetische Ansätze zur Erforschung der Phänomene der Selbstorganisation prominent geworden. Auch hiermit verband sich die Hoffnung, unsere Welt in einer umfassenderen Weise zu verstehen – man denke an Frederic Vesters »Neuland des Denkens« und Erich Jantschs »Selbstorganisation des Universums«.⁴ In dieser Zeit wurde auch von Niklas Luhmann eine soziologische Theorie der Kommunikation ausgearbeitet, die auf dem Paradigma der Selbstorganisation beruht.⁵

    Die Quantentheorie und die soziologische Kommunikationstheorie haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Sie haben unterschiedliche Gegenstände (physikalische gegenüber sozialen Systemen) und entstammen einer anderen Wissenschaftstradition (die harten Natur- gegenüber den weichen Sozialwissenschaften). Warum also sollten wir beide miteinander vergleichen oder in einen Dialog bringen? Es erscheint unsinnig, die Soziologie physikalisch erklären zu wollen (etwa indem bestimmte Elemente des mathematischen Formalismus der Quantentheorie übertragen werden) oder gar die physikalische Wirklichkeit als Ergebnis menschlicher Kommunikation herleiten zu wollen. Aus guten Gründen bescheidet sich eine Wissenschaftlerin auf ihren jeweils konkreten Gegenstandsbereich. Alles andere wäre heutzutage Anmaßung. Wer beansprucht, alles erklären zu können, bezeugt nur, dass er nicht wirklich etwas von den Problemen versteht, mit denen sich die jeweiligen Fachwissenschaften herumschlagen.

    Der Anlass, der uns zu diesem Dialog treibt, ist ein anderer. Es ist die Vermutung, dass beide Theorieanlagen aus Gründen, die noch genauer zu erörtern sind, mit ähnlichen Bezugsproblemen zu tun haben. Die Quantentheorie und die soziologische Kommunikationstheorie stoßen auf das Problem der Komplexität, also auf die Aufgabe Nichtwissen selbst als inhärenten Bestandteil der Theoriebildung zu begreifen. Beide begegnen hiermit einhergehend der Beobachterproblematik und damit verbunden der Frage, was eigentlich Information ist. Bereits Niklas Luhmann hat in seiner Abhandlung »Die Wissenschaft der Gesellschaft« darüber nachgedacht, ob nicht an der Spitze einer hinreichend elaborierten Forschung und Theoriebildung unabhängig von der Disziplin ähnliche epistemische Problemstellungen auftreten könnten.⁶ Dies würde allein schon dadurch geschehen, dass ab einem bestimmten Grad der Theorieentwicklung nicht nur der Gegenstand der Beschreibung, sondern auch der Prozess der Beschreibung – also die Beobachtung – seinerseits in der Theoriebildung thematisiert werden müsse. Luhmann bezeichnet Theorieanlagen, in denen dies geschieht, als Supertheorien.

    Seit Werner Heisenberg beschreibt die Quantentheorie ihren Gegenstand als beobachterabhängig, d. h. nicht unabhängig vom Messsystem. Zugleich zeigt sie mit John v. Neumann, dass der Beobachter, etwa die Messapparaturen und die Sinnesorgane des Forschers, selbst wiederum quantentheoretisch zu beschreiben ist. Der Beobachter erscheint damit zwar forschungspraktisch, jedoch nicht mehr prinzipiell als eine Entität, die außerhalb der zu untersuchenden Prozesse steht.⁷ Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela formulieren in ihrer Theorie der Autopoiesis, wie sich biologische Organismen als Prozessstrukturen über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme hinweg selbst als Handelnde und Erkennende hervorbringen, die sich ab einer gewissen Komplexitätsstufe (so wir Menschen als biologische Organismen) selbst beschreiben können. Niklas Luhmann erklärt in seiner Theorie der Gesellschaft, wie die soziologische Beschreibung eben dieser Gesellschaft als Kommunikation aus der Gesellschaft erwächst und wieder in sie eintritt. In unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wird damit die Frage des Beobachters virulent, denn Forschungsprozess und Gegenstand beginnen sich selbstreferenziell auf sich zurückzuwenden.

    Sei es in der Physik, den Kognitionswissenschaften oder der Soziologie – Supertheorien sind in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern nicht zuletzt aus empirischen Gründen entstanden, da bestimmte beobachtbare Phänomene nur auf diese Weise aufgeschlossen werden können. Die hiermit verbundene Beobachterproblematik bringt jedoch nolens volens Aporien oder Paradoxien mit sich. Denn für den Einbau von Selbstreferenz in die Theorie ist nämlich unweigerlich der Preis eines epistemischen und ontologischen »Gerrymandering« zu zahlen.⁸ Das Kunstwort Gerrymandering bezeichnet in der Politikwissenschaft die Manipulation von Wahlkreisgrenzen, um die Erfolgsaussichten der eigenen Partei zu maximieren. Homolog hierzu scheinen sich in den benannten Wissenschaften jetzt auch in Hinblick auf die Fragen nach dem ›Was ist?‹ (Ontologie) und dem ›Was können wir wissen?‹ (Epistemologie) die Grenzen zu verschieben, um dann jeweils ein anderes Ergebnis zu erhalten, je nachdem wie die Frage gestellt ist. Alte wissenschaftsphilosophische Kampfbegriffe wie Realismus, Positivismus, Subjektivismus, Solipsismus, Dualismus oder Idealismus führen nicht mehr weiter, da wir bei den Phänomenen, welche Supertheorien beschreiben, unweigerlich den sicheren Boden eineindeutiger epistemischer und ontologischer Verortung verlassen müssen.

    Nur wenn man in der Lage ist, zwischen verschiedenen Positionen zu wechseln, kann man sich dem Gegenstand nähern, wohl wissend, dass man in der Falle ist, wenn man eine Perspektive verabsolutiert. Man kann nicht mehr – wie im Objektivismus – von einer festen Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem ausgehen, da beide Seiten nun in einer nicht-trivialen rekursiven Beziehung miteinander verwoben sind. Gleichzeitig wäre es jedoch unsinnig – entsprechend der Auffassung des Subjektivismus – anzunehmen, dass es allein im Beobachter liege, was er beobachte. Wenngleich im konkreten Falle immer etwas beobachtet wird und pragmatisch in der Alltagssprache unweigerlich von Gegenstand und Beobachtung gesprochen werden muss, sieht sich eine komplexere Beschreibung also gezwungen, die Orte epistemischer Eindeutigkeit (also etwa, dass die Erscheinung des Objektes sich allein in den intrinsischen Eigenschaften des Beobachteten gründe) wieder zu verlassen, um ein vollständigeres Bild zu erlangen.

    In der Quantentheorie, wo wir gezwungen sind, mit den klassischen Begriffen aus unserer Alltagssprache nicht-klassische Phänomene zu beschreiben, wird der Zwang zur Einbeziehung inkommensurabler Perspektiven etwa mit dem von Niels Bohr formulierten Komplementaritätsprinzip deutlich: Zwei methodologisch verschiedene Beobachtungen sowie die hiermit einhergehenden Beschreibungen eines Phänomens schließen einander aus – eine Welle kann kein Teilchen sein; Ort und Impuls können nicht gleichzeitig bestimmt werden, gehören aber dennoch zusammen. Bohr selbst hat die erkenntnistheoretische Bredouille mit folgenden Worten reflektiert:

    »Im Kopenhagener Institut, wo in jenen Jahren eine Reihe junger Physiker aus verschiedenen Ländern zu Diskussionen zusammenkamen, pflegten wir uns in unseren Nöten oft mit Scherzen zu trösten, unter denen das alte Sprichwort von den zweierlei Wahrheiten beliebt war. Zu der einen Art Wahrheit gehören so einfache und klare Feststellungen, daß die Behauptung des Gegenteils offensichtlich nicht verteidigt werden könnte. Die andere Art, die sogenannten ›tiefen Wahrheiten‹, sind dagegen Behauptungen, deren Gegenteil auch tiefe Wahrheit enthält.«

    Homolog hierzu erfährt auch in der allgemeinen Systemtheorie die Trennung von Subjekt und Objekt eine Relativierung. Wenn etwa davon ausgegangen wird, dass ein System seine Selbst- und Weltverhältnisse selbst konstruiert, werden damit Begriffe wie Objekt und Realität nämlich keineswegs obsolet. »Man kann im Gebrauch von Unterscheidungen wie Idee/Realität, Subjekt/Objekt oder Zeichen/Bezeichnetes nicht die eine Seite der Unterscheidung aufgeben« schreibt Niklas Luhmann, um in Anlehnung an Husserls ›Phänomenologie‹ zu formulieren: »Es gibt kein objektloses Subjekt, keine Idee ohne Bezug auf Realität, keinen referenzlosen Zeichengebrauch.«¹⁰ Zugleich gilt jedoch weiterhin, dass in Hinblick auf Wahrnehmung und Realitätsbehauptungen nur auf der Ebene der Reflexion, nicht jedoch im Prozess der unmittelbaren Beobachtung zwischen »Illusion und Realität« und entsprechend auch nicht zwischen »realer Realität und imaginärer Realität« unterschieden werden kann.¹¹

    Auch in den Kognitionswissenschaften begegnen wir einer Selbstreferenz, die epistemische und ontologische Gewissheiten ins Wanken bringt. So formulieren Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela in ihrer Theorie der Autopoiesis, wie sich biologische Organismen als Prozessstrukturen über die strukturelle Koppelung neuronaler Systeme selbst als Handelnde und damit zugleich als Erkennende hervorbringen. Auf diese Weise wird auch hier eine Sicht entwickelt, »die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ›Welt da draußen‹ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.«¹² Wenn wir nämlich, »um das Instrument einer Analyse analysieren zu können, eben dasselbe Instrument benutzen müssen, so bereitet uns die dabei entstehende Zirkularität ein schwindelerregendes Gefühl. Es ist, als verlangten wir, dass das Auge sich selbst sieht.«¹³

    Selbstreferenz: Was ist Subjekt, was ist Objekt?

    Sei es in der Quantentheorie, der soziologischen Systemtheorie oder dem neurobiologischen Konstruktivismus, die Begriffe „Subjekt und „Objekt beginnen aufgrund von Selbstreferenz in ihrer grundlagentheoretischen Schärfe zu verschwimmen. Nur praktisch, das heißt in einer jeweiligen Beobachtungskonstellation, scheint klar, wer Beobachter und was Beobachtetes ist, doch der hiermit einhergehende Schnitt resultiert aus einer konkreten Praxis des Beobachtens und ist nicht mehr prinzipieller Natur. Aus einem anderen Blickwinkel müssen Beobachter und Beobachtetes ihrerseits als eine Einheit erscheinen, nicht mehr als etwas Getrenntes. Es gibt keine paradoxiefreie Gesamtbeschreibung. Wir begegnen konditionierter Koproduktion. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben, oder umgekehrt: dekontextualisiert gibt es weder Subjekte noch Objekte. Die Beobachtung selbst ist nur als Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung zu haben, nur als konkrete, ihrerseits situierte Operation, die Gegenstand und Beobachtetes als Differenz zur Einheit bringt.

    Der Vergleich zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen lohnt sich allein schon im Hinblick auf die Frage, wie die jeweils anderen mit solchen erkenntnistheoretischen Problemlagen umgehen. Hierbei zeigen sich schnell markante Unterschiede.

    Die Physik kann sich sowohl der Mathematik als auch des Experiments bedienen. Letzteres gestattet es, ihre Gegenstände in reproduzierbarer Weise zu präparieren, sodass sich innerhalb von Experimentalsystemen recht eindeutige Antworten auf die gestellten Fragen erhalten lassen (z. B. kann man Photonen mittels eines raffinierten Versuchsaufbaus verschränken, um dann zu schauen, was mit den unterschiedlichen Detektoren geschieht). Die Mathematik ermöglicht hohe innere Konsistenz in der Modellbildung – sofern Quantenzustände einmal mathematisch formuliert sind, lässt sich auch ein Modell darüber bilden, was in der Interaktion passiert. Diese Möglichkeit, auf solch unterschiedlichen Wegen zu Erkenntnissen zu gelangen, erlaubt der Physik ein flexibles Wechselspiel zwischen Experiment, mathematischer Modellierung und physikalisch-konzeptionellem Denken. Und ebendieses Wechselspiel sichert die gewonnenen Erkenntnisse ab und legt somit überhaupt erst das Fundament für weitreichendere Deutungsversuche: Gerade weil die Quantentheorie auf der Ebene des mathematischen Formalismus (die ›Theoriesyntax‹) präzise formulierbar ist und die in Experimentalsystemen produzierten Daten ein hinreichend stabiles Maß an Korrelationen generieren, kann sie sich in möglichen Anschauungen und Deutungen (die ›Theoriesemantik‹) eine metaphysische Vielfalt erlauben, die recht bizarre Weltmodelle einschließt.

    Man kann dabei mit David Bohm von einem holistischen, jedoch zugleich deterministischen Universum ausgehen oder mit Hugh Everett unsere Welt für eine unter einer Vielzahl anderer Paralleluniversen halten. Ebenso lässt sich aber mit John A. Wheeler (1990) annehmen, dass Information der Grundbaustein unserer Wirklichkeit ist – es gilt dann: »It from Bit«.¹⁴ Welchen ontologischen oder epistemischen Standpunkt die Physiker auch einnehmen mögen – und selbst wenn sie sich diesbezüglich nicht festlegen wollen –, sie können auf die Verbindung zwischen der mathematischen Formulierung der Quantentheorie und den Daten aus den entsprechend präparierten Experimentalversuchen zurückgreifen, so dass sie zumindest hier hinreichend Halt finden.

    Anders ist die Lage in der Soziologie. Bereits einfache soziale Systeme stellen eine Überlagerung vielfältiger, unkontrollierbarer Bedingungen und Kontexte dar. Anders als die Quantensysteme der Experimentalphysik lassen sich elementare soziale Konstellationen entsprechend nicht als ›reine Zustände‹ präparieren. Die Verbindung zwischen dem Datenmaterial, welches aus empirischen Erhebungen gewonnen wird, und der soziologischen Theoriebildung ist entsprechend nur in Form einer losen Kopplung möglich. In der Folge haben die Theoriediskurse der Soziologie im Vergleich zu jenen in der Physik zwar ein recht hohes erkenntnistheoretisches Reflexionsniveau erreicht, auf dem unter anderem auch diese Problematik integriert wird. Doch diese hohe Sensibilität in Hinblick auf erkenntnistheoretische Fallstricke und die Gefahren einer vorschnellen Essenzialisierung sozialer Entitäten fließt üblicherweise noch nicht so recht in die gegenstandsbezogene Theoriebildung ein.

    Vielmehr werden üblicherweise im Sinne eines »halbierten Konstruktivismus«¹⁵ Akteuren, Subjekten, Gruppen, Sozialstrukturen, Systemen etc. allein schon aus forschungspraktischen Gründen intrinsische Eigenschaften zugesprochen, ohne jedoch dabei dem relationalen, systemischen und beobachterabhängigen Charakter dieser Prozesse gerecht werden zu können. Soziale und psychische Gegenstände lassen sich nicht trennscharf präparieren. Sie sind immer schon vielfältig ineinander verwickelt und zudem durch die jeweils individuellen Geschichten ihrer Interaktionen geprägt. Im Vergleich zur Physik fällt es der Soziologie daher viel schwerer, in konsistenter Weise ihren Gegenstand zu konstituieren. Entsprechend gilt mit Heinz von Foerster: »Hard sciences have soft problems and soft sciences have hard problems.«¹⁶

    Supertheorien im Gespräch

    Ein Dialog zwischen Quantentheorie und soziologischer Theorie ist daher vielversprechend. Erstere ist nicht nur theoretisch, sondern auch im Hinblick auf das Design ihrer Experimentalsysteme¹⁷ in der Lage, den ontologischen Charakter ihrer Gegenstände einzuklammern – etwa in der produktiven forschungsleitenden Annahme, dass Teilchen nicht existieren, bevor sie gemessen werden (auf diese Weise gelang dann auch Werner Heisenberg der entscheidende Durchbruch von der klassischen Physik zur Quantenmechanik, nämlich indem er bereit war, konzeptionell auf die Vorstellung der Teilchenbahn zu verzichten). Demgegenüber sind in der Soziologie die erkenntnistheoretischen Problematiken von Selbstreferenzialität viel konsequenter durchdacht und aufgearbeitet worden.¹⁸

    Die Heterogenität physikalischer und soziologischer Theoriebildung beachtend, kann und darf ein solcher Dialog jedoch nicht im abstrakten Raum geführt werden. Er bedarf der Rückbindung an eine jeweils konkrete epistemische Gemeinschaft, in der ein Forschungsparadigma mit einer gewissen Kohärenz ausgelotet sowie auch in Bezug auf epistemische Fragen reflektiert wird. Zudem bedarf es einer Form, wie diese Gemeinschaften in den Dialog treten können – gegenseitiges Interesse und Bereitschaft zu interdisziplinärem Denken vorausgesetzt.

    Für die Soziologie bietet sich für diesen Dialog insbesondere die soziologische Systemtheorie im Anschluss an Luhmann an, da gerade hier die erkenntnistheoretischen Konsequenzen von Supertheorien explizit ausgearbeitet worden sind.¹⁹ Zudem besteht mit Blick auf entsprechende Publikationen, Diskurse in Fachzeitschriften und Vertreter dieses Paradigmas, welche den Theoriediskurs weiter vorantreiben,²⁰ eine hinreichend große wissenschaftliche Gemeinschaft.

    Für die Physik wurde für den in diesem Buch angestrebten Dialog die Diskursgemeinschaft um Anton Zeilingers Gruppe ›Quantum Information and Foundations of Physics‹ ausgewählt. Anton Zeilinger hat eine informationstheoretische Deutung der Quantentheorie vorgelegt, mit der die Beobachterproblematik in besonderer Weise virulent wird²¹ – Information, also das was gewusst werden kann, scheint zunächst untrennbar mit einem Beobachter verbunden, für den das Wissen eine Bedeutung hat. In Zeilingers Arbeiten steht jedoch weiterhin die Rückbindung an Experimentalsysteme im Vordergrund – also die Frage, wie auf Basis des Informationsparadigmas intelligente Experimente entwickelt werden können, um dann auf diesem Wege Möglichkeiten einer empirischen Metaphysik auszuloten. Die alten philosophischen Fragen ›Was ist Realität‹, ›Was ist Zeit?‹, ›Was können wir wissen?‹, ›Was ist Beobachten?‹, ›Wie verhält es sich mit der Frage der Kausalität?‹ stellen sich dabei also nicht nur abstrakt, sondern in sehr konkreter Form.

    Der Autor hat im Juni 2017 für zwei Wochen in der Arbeitsgruppe Zeilinger hospitiert und Interviewgespräche geführt, die einen wesentlichen Teil dieses Buches ausmachen.

    Der Dialog wird anhand ausgewählter Problemfelder und Themen geführt, welche die Begegnung strukturieren:

    1.

    Das Problem des Beobachters, nicht zuletzt die Frage, wie Quantenphysiker und Systemtheoretiker in redlicher Form von dem Beobachter sprechen können. Dies kulminiert nicht zuletzt in der Frage, ob es den Beobachter in einem ontologischen Sinne wirklich gibt.

    2.

    Die Frage der Zeit, etwa wie der Zeitpfeil in einer Welt ins Spiel kommt, deren theoretische Beschreibung zunächst keine präferierte Zeitrichtung kennt. So lässt sich beispielsweise aus guten Gründen fragen, ob die Zeit aus systemtheoretischer Perspektive nicht als ein Artefakt von Beobachtungsoperationen zu betrachten ist, oder zumindest davon ausgegangen werden muss, dass sich nur systemrelativ von Zeit sprechen lässt.

    3.

    Das Problem der Verschränkung, also der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Verbindung von Teilchen bzw. Systemen über Raum und Zeit hinweg. Gerade hier begegnen wir in besonderer Weise den Grenzen der Alltagssprache, in der wir die Modelle und Vorstellungen über unsere Welt formulieren.

    Der Theoriedialog beginnt zunächst mit Einführungen in die Grundzüge der soziologischen Systemtheorie und der Quantentheorie, wofür bei letzterer ausführlicher auf einige Experimente eingegangen wird, die auch im Umfeld der Arbeitsgruppe von Anton Zeilinger durchgeführt werden. In den darauffolgenden Kapiteln werden zu den benannten Problemfeldern jeweils kurze Erläuterungen aus der fachtheoretischen Perspektive der Physik und der Soziologie gegeben. Diese münden in Gespräche des Autors mit Quantenphysikern und Systemtheoretikern, in denen die zentralen Fragen ausführlich erläutert werden.

    Im letzten Kapitel werden wir die Chancen dieses Dialogprojektes erneut reflektieren. Verbindungen und gute Fragen werden aufgezeigt, ebenso wird auf Kurzschlüsse und auf schlechte Antworten hingewiesen.

    Die soziologische Systemtheorie

    »Stellen Sie sich einen Baum und einen Mann mit einer Axt vor. Wir beobachten, daß die Axt durch die Luft saust und bestimmte Arten von Einschnitten in einer schon existierenden Kerbe an der Seite des Baumes hinterläßt. Wenn wir nun diese Menge von Phänomenen erklären wollen, werden wir es mit Unterschieden an der Schnittseite des Baumes, mit Unterschieden auf der Retina des Mannes, mit Unterschieden in seinen nach außen gehenden nervlichen Mitteilungen, mit Unterschieden im Verhalten seiner Muskeln, mit Unterschieden in der Flugbahn der Axt bis hin zu den Unterschieden zu tun haben, welche die Axt dann an der Seite des Baums hinterläßt. Unsere Erklärung wird (zu bestimmten Zwecken) immer wieder diesen Kreislauf durchlaufen.« Gregory Bateson²²

    Die soziologische Systemtheorie beschreibt die sozialen Phänomene unserer Gesellschaft als Wechselspiel von Systemen. Sie untersucht Interaktionssysteme, gesellschaftliche Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht oder Wissenschaft und kann Organisationen als systemische Zusammenhänge beschreiben. Der Fokus der soziologischen Systemtheorie liegt damit auf sozialen Systemen. Anders als man zunächst vermuten könnte, bestehen diese in letzter Instanz nicht aus menschlichen Individuen, sondern aus Kommunikationssystemen und weisen als grundlegendes Merkmal eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit auf, die eine unmittelbare externe Steuerung unmöglich macht; soziale Systeme operieren gemäß sozialer ›Spielregeln‹, die – wie wohl jeder aus eigener Erfahrung weiß – durchaus in einem scharfen Kontrast zu den Bedürfnissen und Wünschen der an ihnen beteiligten Personen stehen können. Dieser Tatsache wird durch die strenge Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen Rechnung getragen, deren Kognitionen und Verhalten ebenfalls einem Eigensinn folgen, welcher seinerseits wiederum nicht in der Rationalität sozialer Systeme aufgeht. Konkret bedeutet das, dass psychische Systeme aus Sicht der soziologischen Systemtheorie nicht Bestandteile oder Elemente sozialer Systeme sind, sondern zur deren Umwelt gezählt werden müssen, woraus wiederum folgt, dass Ereignisse in sozialen Systemen nicht in unmittelbarer Weise auf Handlungen der an ihnen beteiligten Personen zurückgeführt werden können, sondern grundsätzlich als Ausdruck der spezifischen Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Sozialsystems anzusehen sind.²³ Gleichwohl erkennt die Systemtheorie an, dass externe Faktoren durchaus einen Einfluss auf die Operationen sozialer Systeme ausüben, wenn auch nicht in ursächlicher, sondern lediglich in auslösender bzw. irritierender, d.h. kontingenter Weise – wie sie sich genau auswirken, kann im Vorhinein nicht exakt bestimmt werden und ist in der Rückschau immer auch anders denkbar.

    Die soziologische Systemtheorie beschreibt mithin die Kopräsenz vielfältiger eigensinniger Systeme oder Systemzusammenhänge, die wechselseitig füreinander Umwelten darstellen. Sie rechnet mit biologischen, psychischen und einer Vielzahl sozialer Systeme. Insofern deren Operationen einerseits durch ihren spezifischen Eigensinn und andererseits durch externe Auslöser bedingt sind, gilt für jedes dieser Systeme, dass sie eine Funktion ihrer selbst und ihrer Umwelt sind. Im Sinne von Ludwig von Bertalanffy, einem der frühen Systemtheoretiker, lassen sich Systeme also zunächst als Interaktionszusammenhänge definieren, die sich in einer bestimmten Weise von einer Umwelt abgrenzen, die wiederum aus anderen Interaktionszusammenhängen besteht.²⁴

    Systeme: Sowohl eigensinnig als auch umweltabhängig

    Diese Definition hat es bei genauerem Hinschauen in sich, da sich gar nicht so einfach sagen lässt, was ein System ist. Ein System hat Prozess- und Strukturcharakter. Es konstituiert sich auf Basis von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die weiter oben getroffene Feststellung, wonach ein System (S) eine Funktion (f) seiner selbst und seiner Umwelt (U) ist, kann formal so beschrieben werden: S = f(S, U) (Abb. 1).

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    Abb. 1

    System als Funktion seiner Umwelt und seiner selbst, angelehnt an Anderson (1998)

    Damit ist aber klar, dass sich Systeme nicht trivial als ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes verstehen lassen, zumal viele dieser ›Teile‹ selbst erst durch das System entstehen und nicht vorher schon klar definierte Entitäten darstellen. Dies lässt sich gut am Beispiel der lebenden Zelle veranschaulichen: Dieses biologische System produziert durch den Prozess des Stoffwechsels alle Komponenten, aus denen es besteht, selbst – eingeschlossen die Zellmembran, welche ihrerseits die Voraussetzung dafür darstellt, dass im Zellinneren überhaupt so etwas wie Stoffwechsel stattfinden kann. Hiermit lässt sich keine lineare Kausalkette formulieren, welche die Ausgangselemente des Systems bestimmbar machen würde. Im Sinne der alten Frage, was zuerst da war – die Henne oder das Ei, die Zellmembran oder der Zellkern – ist die systemtheoretische Beschreibung also gezwungen, von einem kreisförmigen, rekursiven Zusammenhang auszugehen. Der Prozess bestimmt die Struktur, die Struktur den Prozess.

    Vom allgemeinen Systembegriff zu konkreten Systemen: Biologie, Kognition, Kommunikation

    Zunächst ist festzustellen, dass der bis hier beschriebene Systembegriff abstrakt und gegenstandsübergreifend konzipiert ist. Er lässt sich konkret auf Systeme in verschiedensten Kontexten, Ebenen und Größenordnungen anwenden, wodurch aus der Perspektive der Systemtheorie etwa biologische, neuronale, psychische oder soziale Systeme in ihren unterschiedlichen Ausprägungen beschrieben werden können.

    Betrachten wir einige kurze Beispiele:

    Für die biologischen Systeme denke man an die Zellen eines Lebewesens. Diese stellen, wie bereits angedeutet, selbst die Membranen und Moleküle her, mit denen sie sich von der Umwelt abgrenzen. Die Membran, bzw. die Moleküle, aus denen sie zusammengesetzt ist, ist daher sowohl Bestandteil als auch Produkt wie auch Produzent des Zellsystems.

    Soziale Systeme, wie das Wissenschaftssystem, reproduzieren sich durch die Fortsetzung von Kommunikation. Kommunikationen eines bestimmten Typus führen zum Aufbau komplexer Kommunikationszusammenhänge, welche bestimmen, was zum System gehört und was nicht. Das Wissenschaftssystem erzeugt in Referenz auf die Falsifikation von Hypothesen Erkenntnisse und Fragen, welche dann weitere Forschungsfragen generieren, die dann wiederum neue Erkenntnisse und Fragen generieren. Das System versucht ständig, sich selbst zu erhalten, indem es mit seiner Umwelt im Austausch ist (hierzu zählen dann auch die psychischen Systeme der Forscher, die technischen Apparaturen wie auch die Artefakte, welche untersucht werden), um weitere wissenschaftliche Kommunikation als Grundelement seiner systemischen Operation zu ermöglichen.

    Das Wirtschaftssystem operiert auf Basis der Codierung von Zahlung und Nicht-Zahlung, um Strukturen aufzubauen, welche die weitere Zahlungsfähigkeit ermöglichen. Es wählt eine andere ›Operationsweise‹ als etwa das Wissenschaftssystem, um sich als System hervorzuheben und von seiner Umwelt abzugrenzen.

    Die Konjunktion ›um‹ verweist jeweils auf eine funktionale Perspektive, was zu Missverständnissen führt, falls man den hiermit bezeichneten Zusammenhang von Problem und Lösung teleologisch versteht. Betrachtet man Systeme nämlich als Einheiten, die einen bestimmten Zweck erfüllen – etwa die Integration in eine übergreifende Ganzheit oder einfach nur ihr eigenes Wachstum zu befördern –, dann stellt sich das Problem, dass sich ja empirisch sehr wohl auch Zusammenhänge zeigen, deren Operationen in kein übergreifendes Ziel münden (man denke etwa an das Beispiel einer Krebszelle, die sich in ihrer Destruktivität ja auch als ein spezifisches System in Abgrenzung von einer Umwelt hervorbringt, wenngleich sich der Krebs mit seinem Wirt mittelfristig selber zerstört). Man könnte diesen Systemen dann zwar ebenfalls ein Telos zuschreiben (etwa einen Zerstörungswillen), aber würde damit wiederum nur demonstrieren, dass dies lediglich durch einen Beobachter geschehen kann, der im Nachhinein einen entsprechenden Sinn in den Prozess ›hineinsieht‹. Insofern wir also den Begriff der Funktion weiter anwenden möchten, dürfen wir ihn nicht teleologisch verwenden, auch nicht in Hinblick auf das Ziel des Überlebens, da der Begriff des Systems dann an die willkürlichen – und nicht notwendigerweise faktisch bestehenden – Bedingungen des Beobachters geknüpft werden würde.

    Der Funktionsbegriff ist hier vielmehr rein operativ zu verstehen, etwa im Sinne einer mathematischen Operation, welche eine Struktur generiert, die eine weitere Operation ermöglicht, welche wieder eine Struktur generiert usw. Diese Operationen beschreiben, wie die Bestandteile der internen Organisation des Systems auf sich selbst Bezug nehmen (Selbstreferenz). Außerdem legt die Funktion fest, in welcher Weise Umwelteinflüsse selektiv als Informationen aufgenommen werden, die für die eigenen Operationen instruktiv werden (Fremdreferenz). Operativ gesehen tut ein System also einfach nur das, was es tut. Nur ein äußerer Beobachter kann feststellen, dass der Prozess einer gewissen Teleologie zu folgen scheint. Sich reproduzierende biologische Organismen scheinen über die Zeit hinweg zu überleben und das soziale System der Wirtschaft scheint auf Wachstum ausgerichtet. Doch sobald eine Krise eintritt, wird deutlich, dass die Vorstellung einer zweckorientierten Entwicklung nur durch die Zuschreibung eines Beobachters konstruiert wird.

    Ohne Weiteres können sich die internen Prozesse eines Systems in einer Weise verkomplizieren, dass sein Überleben – und hiermit auch die von ihm abhängigen Strukturen – gefährdet sind oder es können Umweltbedingungen eintreten, welche das Selbst- und Weltverhältnis bedrohen. In der biologischen Sphäre sterben nicht nur einzelne Organismen, sondern auch ganze Arten können verschwinden. Ebenso können Faktoren wie Größe oder Komplexität eines konkreten Systems nichts über die Dauer seiner Existenz aussagen. Was für die Biologie gilt, zeigt sich ebenso in sozialen Systemen: Nichts in der Welt garantiert, dass die komplexen Operationen des Wirtschaftssystems nicht zu einer Finanzkrise führen, da jederzeit durch unvorhergesehene Dynamiken die Zahlungsfähigkeit der Akteure, von denen die Wirtschaft abhängig ist, bedroht werden kann. Der Erhalt der Zahlungsfähigkeit ist ein mögliches Ergebnis von Systemoperationen – nur ein externer Beobachter vermag hierin den Zweck des Wirtschaftssystems zu sehen, um dann aber enttäuscht zu sein, wenn dieser Zweck auf einmal für ihn nicht mehr erfüllt ist. Gleiches gilt für alle sozialen Systeme: Sinn und Bedeutung – auch die Möglichkeit, etwas als Zweck zu betrachten – entstehen erst im Prozess der Kommunikation, sind also nicht per se gegeben. Im Verständnis einer rein operativen Funktionalität tun diese und andere Systeme einfach das, was sie tun, ohne zu wissen, wohin es führt. Von innen her gesehen – in der Selbstreflexion von Systemen, die hinreichend komplex sind, um eigene Werte beobachten zu können – erscheinen die mit ihren eigenen Werten verbundenen Handlungen als ihr Ziel oder Zweck. Von außen betrachtet sind sie demgegenüber zweckfrei. Die Werte erscheinen nur als Artefakte ihrer Systemoperationen.

    Um es mit den Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela zu formulieren:

    »Die Organisation« [des Systems] »legt lediglich Relationen zwischen Bestandteilen und Regeln für deren Interaktion und Transformationen fest, und zwar so, daß die Bedingungen der unterschiedlichen Systemzustände angegeben werden, die als notwendiges Ergebnis auftreten, wenn Bedingungen der angegebenen Art tatsächlich verwirklicht werden. ›Zwecke‹ und ›Funktionen‹ haben keinerlei Erklärungswert im Bereich der Phänomene, da sie nicht als kausale Elemente an der Neuformulierung irgendeines Phänomens mitwirken. […] Wenn daher lebende Systeme physikalische autopoietische Maschinen sind, wird die Teleonomie zu einem Konstrukt der Beschreibung, das nicht die Merkmale ihrer Organisation aufdeckt, sondern die Konsistenz ihres Operierens innerhalb des Bereiches der Beschreibung zeigt. Lebende Systeme sind als physikalische autopoietische Maschinen zweckfreie Systeme.« ²⁵

    Lebewesen sind Strukturen, die bestimmte Operationen – etwa die Herstellung von Proteinen und Zellmembranen – möglich machen. In diesem Sinne kann man sie durchaus als biologische Maschinen betrachten. Das Ergebnis ihrer Operationen sind sie jedoch selbst, ihre eigene Struktur. Deshalb kann man sie als autopoietische – sich selbst machende – Maschinen betrachten. Sie sind gewissermaßen ihr eigener ›Zweck‹.²⁶ Man darf sich hier von dem Begriff der Maschine nicht in die Irre führen lassen. Die Maschinenmetapher weist hier nur darauf hin, dass die ablaufenden Prozesse als strukturdeterminiert anzusehen sind, wobei Struktur und Prozess jedoch hier in einer nicht-trivialen Weise ineinander verwoben sind.

    Selbstreferenz und Information

    Wie auch immer, wir bekommen es mit Selbstreferenz zu tun, also einem Prozess, der auf sich selbst verweist, indem er Strukturen erzeugt, die Werte generieren, die den eigenen Prozess steuern, der eben diese Strukturen generiert. Der autopoietische Prozess erschafft die Bedingungen der Möglichkeit – also auch seine eigenen Elemente –, um sich als Prozess hervorbringen zu können. Erst dadurch können sich Systeme in bestimmten Aspekten von ihrer Umwelt unabhängig machen, indem sie einen Teil der Variablen kontrollieren, welche ihre Umweltbeziehungen bestimmen. So können sich Organismen beispielsweise von den Umwelteinflüssen Hitze oder Kälte in einem gewissen Rahmen unabhängig machen, indem sie ihre innere Temperatur durch eigene Operationen beeinflussen. Dies setzt Regelkreise voraus, welche Information verarbeiten.

    Ein einfaches Beispiel aus der Kybernetik für einen solchen Regelkreis ist der Thermostat eines Heizungssystems. Der Temperaturfühler ›erkennt‹ die Abweichung von der Soll-Temperatur und generiert so die Information ›es ist zu kalt‹/›es ist zu warm‹. Diese führt zu einer Veränderung an dem Zustand des Heizkesselschalters, der die Heizung an- oder ausschaltet. Das System bezieht sich mit der Steuerung der Steuerungen auf einen Sollwert, der in das System selbst eingeschrieben ist und einen kontinuierlichen Prozess der Ausrichtung an eben diesem Wert instruiert (wenn Heizung an, dann warm, dann Schalter aus, dann Heizung aus, dann kalt, dann Schalter an, dann Heizung an, dann warm etc.). Hierdurch wird es möglich, natürliche, nicht kontrollierbare und chaotische Dynamiken – man denke etwa an die Unzuverlässigkeit von Wettervorhersagen – zu kontrollieren beziehungsweise zu steuern, indem das System sich durch Regulation der internen Zustände situativ an die äußeren Gegebenheiten anpasst. Um es allgemeiner zu formulieren: Der wahrnehmende Teil des Systems (Sensorium) registriert einen Unterschied und leitet diesen an den aktiven Teil des Systems (Motorium) weiter. Die auf diese Weise generierte Information kann eine Zustandsveränderung im System hervorrufen. Für die Funktionsweise eines kybernetischen Systems erscheint »Information« mit Gregory Bateson damit als ein »Unterschied, der einen Unterschied ausmacht«²⁷. Eine Veränderung in einer sensorischen Oberfläche – der erste Unterschied – bewirkt eine diskrete Veränderung in der Struktur des Systems – der zweite Unterschied (etwa ein Umkippen des Schalters, infolge dessen ein Stromkreis geschlossen wird, welcher die Heizungspumpe aktiviert). Die Information liegt damit weder auf Seite der Umwelt des Systems noch im System selber, sondern in einer zweistufigen Relation, welche System und Umwelt verbindet.

    Um ein anderes Beispiel aus der biologischen Sphäre zu benennen: Der Anstieg der Konzentration von Zucker in einer Lösung führt zu einer Bewegung des Einzellers in Richtung der Zuckerquelle. Zur Information wird der Zucker erst in Relation zu der Reaktion des Mikroorganismus auf ihn. Er unterscheidet zwischen den beiden Werten ›Zucker/kein Zucker‹ und reagiert daraufhin auf der motorischen Ebene, etwa indem nun eine Kette biochemischer Prozesse in Gang gesetzt wird, welche zur Aktivität einer Geisel führt, welche den Organismus in Richtung höheren Zuckerkonzentration bewegen lässt.

    Für das Verständnis von informationsverarbeitenden Prozessen ist entscheidend, dass die beiden Unterschiede einer qualitativ anderen Ebene angehören. Beispielsweise hat die unterschiedliche Schalterstellung ›an‹ oder ›aus‹ des Reglers eine andere Modalität als der ihn auslösende Temperaturunterschied, sie unterbricht oder setzt einen Stromkreis

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