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Psychoanalyse in technischer Gesellschaft: Streitbare Thesen
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eBook269 Seiten3 Stunden

Psychoanalyse in technischer Gesellschaft: Streitbare Thesen

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Über dieses E-Book

Durch Informatisierung und Medialisierung werden wir als Individuen immer stärker in eine technologische Ökologie eingewoben. Kann Sigmund Freuds ursprüngliche Absicht, psychische Prozesse naturwissenschaftlich zu erklären, mit den avancierten Mitteln der Technik doch noch verwirklicht werden? Ist die Psychoanalyse eine Möglichkeit, in der technisierten und medialisierten Lebenswelt Subjektivität neu zu fassen – oder weicht sie einer vorherrschend technischen Auffassung von Körper und Krankheit? Die Beiträge dieses Bandes fragen aus soziologischer, psychologischer, medizinischer und philosophischer Sicht nach der Relevanz des psychoanalytischen Diskurses für unsere Gesellschaft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Aug. 2019
ISBN9783647999050
Psychoanalyse in technischer Gesellschaft: Streitbare Thesen
Autor

Wolfgang Mertens

Prof. Dr. Wolfgang Mertens, Diplom-Psychologe, lehrt Psychoanalyse und psychodynamische Forschung am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Lehranalytiker und Supervisor an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München.

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    Buchvorschau

    Psychoanalyse in technischer Gesellschaft - Eckhard Frick

    I Heilung

    1 Einleitung zu Teil I

    Die leise, aber beharrliche Stimme der Psychoanalyse im vielstimmigen Konzert der psychotherapeutischen Versorgung

    Andreas Hamburger, Eckhard Frick und Sabine Maasen

    Freud sah die Psychoanalyse nicht als primär therapeutisches Unternehmen, sondern als Prozess philosophischer Selbstaufklärung, die quasi als Nebenprodukt auch »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln« helfe (Freud, 1895d, S. 312). Diese Aussage stammt aus einer Zeit, in der psychische Störungen noch kaum erforscht und anerkannt waren. Ist so ein individuumszentriertes, rekonstruktiv-aufklärendes Verfahren mit dem Therapieziel »gemeines Unglück« einer Gesellschaft noch vermittelbar, in der 27 Prozent der Gesamtbevölkerung an psychischen Störungen leiden (Jacobi et al., 2014) und in der es von Dienstleistern der psychosozialen Versorgung wimmelt? Eine einflussreiche Pharmaindustrie, zahlreiche Therapieschulen und ein unüberblickbarer Sektor von Selbsterfahrungs- und Selbstoptimierungsangeboten konkurrieren um den schnellsten Erfolg bei ihren Kunden, deren Subjektstatus in soziale Netzwerke diffundiert – und in dieser glitzernden Skyline steht der psychoanalytische Altbau, in dem, einem Programm aus der vorletzten Jahrhundertwende folgend, individuelle und kleinschrittige Aufklärung betrieben wird. Sie leitet sich aus der paradigmatischen Einsicht ab, dass das Individuum, das Unteilbare, alles andere als seiner Einheit gewiss sein kann, das Ich also nicht Herr im eigenen Hause ist. Das war der kritische Anstoß der Psychoanalyse, und aus ihm folgt der Anspruch, den Spuren der Verdrängung in der Einzelpsyche nachzugehen und dazu den langen Weg eines gemeinsamen Forschungsprozesses auf sich zu nehmen.

    Ist dieser Anspruch freilich, so müssen wir uns fragen, noch einlösbar, wenn an die Stelle des individuellen Unbewussten längst ein technisches Unbewusstes getreten ist, wie Eckhard Frick in seinem Beitrag meint, ein »Daten-, Klang- und Bildraum, der eher uns kontrolliert, als dass wir ihn kontrollieren«? Durchaus, meint Frick, liefern doch avancierte Modelle des interaktiven Unbewussten (wie etwa das Predictive Processing) erst recht den Hintergrund für eine subjektorientierte Verstehensstrategie. Nicht die Aufklärung ist überholt, sondern der naturwissenschaftliche Reduktionismus. Die bildgebenden Verfahren lösen nicht das Subjekt in seine Synapsen auf, sondern umgekehrt: Sie werden zum Projektionsfeld (inter-)subjektiver Imagination.

    Skeptischer sieht Wolfgang Mertens die Vermischung von Realität und Fiktion in der »augmented biography«. Wo bleibt der Aufklärungsanspruch der Psychoanalyse und damit ihr Heilungskonzept, wenn Biografien frei optimiert werden können, keine Verpflichtung auf Realität mehr zu existieren scheint? Mertens kritisiert hier auch die Ansätze der postmodernen Psychoanalyse, die vom Gedanken einer Rekonstruktion abgeht und auf einen sozialkonstruktivistischen, narrativen Wahrheitsbegriff abhebt. Wo läuft die Trennlinie zwischen träumerischer Teilhabe an der noch ungestalteten Innenwelt des Patienten und der Reduzierung des analytischen Prozesses auf einen gemeinsamen Traum?

    Im Gegensatz zu Mertens setzen die Medizindidaktiker Teufel und Berberat auf das Narrativ, wenn sie der Medizin vorhalten, sie habe den Anschluss an den Menschen verloren, und ihr dringend nahelegen, von der auf das Subjekt zentrierten psychoanalytischen Perspektive zu lernen. Sie schlagen konkret vor, »Couch-ähnliche Zwischenräume« für Medizinstudierende zu schaffen.

    Über eine solche Perspektive hinaus, die der psychoanalytischen Subjektorientierung Einfluss auf die Ausbildung von Medizinern verschaffen möchte, zeigen die Forschungen des Internisten und Psychoanalytikers Joram Ronel, welche Macht das Narrativ auch im Kontext einer kardiologischen Intervention hat. Seine doppelblinden Placebostudien beweisen, dass koronare Durchblutung auf Suggestion reagiert – scharf formuliert, dass auch Behauptungen wirksam sein können. Was mitnichten bedeutet, die Wahrheit sei ein Placebo und Psychoanalyse Suggestion. Im Gegenteil: Das auch in der technisierten Medizin wachsende Bewusstsein für mentale Prozesse eröffnet den Dialog zwischen den Disziplinen. Auch in der Notaufnahme kann die Frage nach dem seelischen Auslöser sinnvoll sein – und auch auf der analytischen Couch die Anerkennung dafür, dass der Patient sein Leiden in einem medizinischen Code erlebt. Interdisziplinarität fügt die paradigmatisch aufgespaltenen Krankheitsverständnisse einer naturwissenschaftlichen und einer verstehenden Sicht auf den kranken Menschen tendenziell wieder zusammen.

    Dafür freilich müssen die Positionen markiert sein. Der Eigensinn des psychoanalytischen Wahrnehmens und Denkens hinterfragt die im Inneren wie im Äußeren herrschenden Wirklichkeitskonstrukte, die uns das Leben bequem machen und uns vor der Anerkennung von emotionaler Realität schützen. Das kann er freilich nur, wenn er sich diese unbequemen Fragen auch selbst stellt und sich nicht eine Nische im Gestern sucht.

    Literatur

    Freud, S. (1895d). Zur Psychotherapie der Hysterie. Gesammelte Werke, Bd. I (S. 252–312). Frankfurt a. M.: S. Fischer.

    Jacobi, F., Höfler, M., Strehle, J., Mack, S., Gerschler, A., Scholl, L., Busch, M. A., Maske, U., Hapke, U., Gaebel, W. Maier, W., Wagner, M., Zielasek, J., Wittchen, H.-U. (2014). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Der Nervenarzt, 85 (1), 77–87.

    2 Übertragung per Mausklick?

    Nüchtern und jenseits der Pro-Kontra-Falle über Online-Psychotherapie reflektieren

    Eckhard Frick

    In der psychoanalytischen Praxis ist der Analytiker für Zustandekommen und Aufrechterhalten des Settings zuständig; gleichzeitig moduliert er es so, dass sich die Übertragung entfalten kann: »in the process of discovery with a patient, he must find through his sensitivity the means of modulation required by that individual within the framework of his technique. In a word, he must preside over the setting in a way which permits the evolution of the patient’s transference« (Meltzer, 1967/2012, S. viii). Die Modulierung des Settings zu einem »teleanalytischen« wirft die Frage auf, was der therapeutischen Übertragung dient und was ihr möglicherweise sogar schadet. Die grundsätzliche »teleanalytische« Infragestellung des psychoanalytischen Settings (siehe den Beitrag von Roesler in diesem Band) soll an dieser Stelle unter Versorgungsgesichtspunkten reflektiert werden.

    Die Lockerung des Fernbehandlungsverbots durch den deutschen Ärztetag (2018) macht in Deutschland berufsrechtlich möglich, was auf dem amerikanischen Kontinent und in der grenzüberschreitenden internationalen Psychoanalyse längst gang und gäbe ist: Der psychotherapeutische Dialog kann durch internet- und mobilebasierte Interventionen (IMI, Baumeister et al., 2017) ergänzt werden, z. B. durch die Algorithmen virtueller Hausaufgaben, etwa indem depressive Beziehungsmuster durchgearbeitet und das in der psychoanalytischen Live-Situation Erreichte gefestigt wird. Traumtexte und diesbezügliche Assoziationen können zwischen den Stunden in elektronischen Briefkästen deponiert, durch automatisierte Aufbereitung mit früheren Träumen oder Traumserien verglichen und inhaltsanalytisch voruntersucht werden.

    Aber mehr noch: Kann die klassische »talking cure«, die zwischen Analysand und Analytiker und in dessen Praxis stattfindet, durch Telefonat, Internettelefonie, Videokonferenz, E-Mail-Austausch ersetzt werden? Inzwischen sind sehr viele psychotherapeutische Online- und Mobile-Module möglich, manche davon realisiert und weitere aus Gründen vermuteter Kostenersparnis von den Krankenkassen erwünscht. Die Fragen stehen spätestens auf der Tagesordnung der Psychoanalyse, seit die Internationale Psychoanalytische Vereinigung im November 2017 der Online-Durchführung von Lehranalysen und Supervisionen unter bestimmten Bedingungen zugestimmt hat. Die psychoanalytische Dimension von IMI soll im Folgenden reflektiert werden.

    Abbildung 1: Systematik internet- und mobilebasierter Interventionen (modifiziert nach Baumeister et al., 2017)

    In Anlehnung an Abbildung 1 (Baumeister et al., 2017) ist es hilfreich, in der Diskussion zwischen den folgenden Aspekten zu unterscheiden:

    –jeweils realisierte technische Umsetzungen in Soft- und Hardware, deren sich sowohl Analytiker als auch Analysanden je nach Verfügbarkeit und »Technikfreudigkeit« faktisch bedienen;

    –menschlicher Support/Beziehungsgestaltung (wird der Patient vollständig oder zeitweise mit der Technik alleingelassen, wie ist ggf. der Therapeut innerhalb des technischen Settings präsent oder greifbar?);

    –Theoriebasierung (bisher stark durch behaviouristisches und techniknahes wissenschaftliches Denken bestimmt, viel weniger durch psychoanalytische Reflexion);

    –Anwendungsgebiete/Settings (Sind die IMI ganz oder teilweise virtuell, individualisiert? Ersetzen sie als »Stand-Alone« konventionelle Offline-Therapien oder mischen sie sich als »Blended Care« mit diesen? Kommen IMI in der Warte-/Vorbereitungszeit auf eine konventionelle Psychotherapie oder konsekutiv zum Zuge, z. B. in der Nachsorge?).

    IMI als Parameter: Unter »Parameter« versteht Eissler (1953/1990) eine Abweichung von der psychoanalytischen Standardtechnik, die unter der Bedingung und so lange zulässig ist, als die Standardtechnik nicht ausreicht und schließlich wieder in die Standardtechnik überführt werden muss. Gegenüber der psychoanalytischen Offline-Norm wären Online-Formate und andere IMI nur insofern akzeptabel, als sie diese Bedingung erfüllen – die Frage ist, ob und wann sie tatsächlich zum Gelingen der Behandlung beitragen oder diese nicht vielmehr dadurch erschweren, »dass sich die Übertragung auf den Analytiker mit der Übertragung auf das Internet als Globalobjekt vermischt, d. h. eines Objektes, das für ›alles‹ und damit zugleich auch für ›nichts‹ steht« (Hardt, 2018, S. 669).

    Häufig wird die Diskussion über das Wünschbare und Erlaubte nach dem Pro-und-Kontra-Schema geführt, was die Protagonisten streitbarer machen und den Diskurs spannender gestalten, jedoch in eine Problemfalle führen kann, Letzteres etwa so: Entweder die Psychoanalyse zeigt sich zukunftsoffen, innovationsfreudig und trendy oder sie hält orthodox, klassisch und solide am Bewährten fest. Die Auseinandersetzung bewegt sich in der Regel noch innerhalb des gerade vom Ärztetag relativierten Dogmas »offline first«, d. h. des primären direkten (Face-to-Face-)Arzt-Patient-Kontakts, der sich diagnostisch und therapeutisch auf alle Sinne des Arztes stützt (Hahn, 2018), also nicht nur auf Hören und Sehen, sondern auch auf Tasten, Riechen und Schmecken.

    Die Kombattanten (Hautzinger u. Fuhr, 2018; Noack u. Weidner, 2018) diskutieren die Online-Ergänzung der konventionellen Offline-Psychotherapie. Dennoch steht der vom Ärztetag im Rahmen der therapeutischen Verantwortung eröffnete Ersatz der gewohnten psychotherapeutischen Arbeitsweise durch ausschließliche Online-Behandlung zur Debatte und wird auf Länderebene (z. B. Baden-Württemberg) bereits erprobt. Für die psychoanalytisch begründeten Behandlungsverfahren heißt dies: Einzelne Elemente der Therapie, z. B. die Fokusformulierung als Zentrales Konfliktbeziehungsthema (Beutel et al., 2018), können als IMI-Module operationalisiert und in den Online-Bereich outgesourct werden. Das noch unvollständig ausgefüllte Gerüst eines psychoanalytischen Modul-Puzzles dient schon jetzt als Dummy einer künftigen ausschließlichen, die klassische Offline-Analyse ersetzenden Tele-Analyse.

    Die Bedeutung des Rahmens (Neumann, 2013): Im klassischen Offline-Setting garantiert der die Sitzung »präsidierende« (Meltzer, 1967/2012, S. viii) Analytiker den Rahmen in den Dimensionen Raum und Zeit, und er passt ihn so an, dass sich die Übertragung des Analysanden entfalten kann. Jedenfalls ist dies im Idealfall so; der Rahmen kann vor allem zu Beginn einer Behandlung unsicher sein. Die behandelnde Person ist für die Sicherung des Rahmens verantwortlich, sollte diesen selbst nicht gefährden. Wenn die behandelte Person den Rahmen zu wenig wahrnimmt und respektiert, sollte der Behandelnde nicht mitagieren. Weil in Online-Formaten die räumliche Grenze durch technische Hilfsmittel überschritten wird, ist die Sicherung des Rahmens ungleich schwieriger. Modifikationen, z. B. die Überleitung einer klassischen Offline- in eine Tele-Analyse, müssen innerhalb des analytischen Paares ausgehandelt, verstanden und reflektiert werden, auch hinsichtlich möglicherweise neu auftretender Störungen (Aryan, 2013).

    Durch IMI-Modifikationen des analytischen Settings wird die analytische Dyade um ein virtuelles Drittes (»e-third«) erweitert, das durchaus ambivalente Eigenschaften hat. Durch die ständige Verfügbarkeit mobiler Endgeräte (auch wenn diese sich gerade im Standby-Modus befinden und nur ein gelegentliches Vibrieren wahrgenommen wird oder keine Interaktion stattfindet), entsteht eine »Ko-Präsenz«: Es gehört zum modernen Multitasking, gleichzeitig mit lebendigen Menschen physisch zusammen und virtuell für andere Personen verfügbar zu sein, die vielleicht kurz »weggedrückt« oder mit einer Textnachricht um Geduld gebeten werden. Für viele Patienten ist es entlastend, ihr »e-third« zu Beginn der Analysestunde auszuschalten (Stadter, 2013). Andere, für die eine permanente stille Ko-Präsenz des e-third mehr oder minder süchtigen Charakter trägt, fiebern dem Ende der Stunde entgegen, um wieder E-Mails zu checken, Textbotschaften oder Tweets verschicken zu können.

    Die fehlende Affektabwehr und insbesondere die fehlende Scham wird als Online-Enthemmungseffekt bezeichnet, der bei Internet-Usern beobachtet werden kann (Suler, 2004):

    –Unsichtbarkeit (»You can’t see me«) bei gleichzeitiger aktiver Kontrolle durch Tastatur und Maus.

    –Asynchronizität (»See you later«): Zum Beispiel ist es möglich, nach beleidigenden bzw. emotionalisierten Postings offline zu gehen, um sich der Reaktion des Gegenübers zu entziehen.

    –Solipsistic Introjection (»It’s all in my head«): In Situationen, in denen das Gegenüber nicht online ist, werden dessen Mitteilungen als innere Stimmen gehört bzw. vokalisiert. Die Kommunikation bleibt auf der Ebene der Repräsentanzen, ohne Echtzeit-Kommunikation.

    –Dissoziative Imagination (»It’s just a game«): Es ist jederzeit möglich, durch Ein- und Ausloggen das Spiel zu beginnen oder wieder zu verlassen, möglicherweise als Avatar anderer Identität. Der Surfer ist Herr des Spiels, kann z. B. im Cybersex seine Objekte »nach Lust und Laune« designen, den eigenen Orgasmus, das virtuelle Objekt kontrollieren.

    –Minimierung von Status und Authority (»Your rules don’t apply here«): Über-Ich-Anforderungen und deren äußere Repräsentanten werden dadurch relativiert, dass weder aggressive Attacken noch distanzlose Kontaktaufnahme sanktioniert werden.

    Auch in der psychotherapeutischen Telekommunikation können derartige Merkmale der Online-Kommunikation zum Tragen kommen, so etwa die beschriebene (kontraphobische) Enthemmung, die häufig als therapeutischer Vorteil der anonymisierten IMI gesehen wird.

    Dem ist entgegenzuhalten: Durch ausagierte Schamlosigkeit werden weder Scham noch Schamangst bearbeitet. Ein ähnliches kontraphobisches Ausagieren findet sich bezüglich der Abschieds- und Trauerthematik: Wenn durch Umzug, Ende der Kostenübernahme, Veränderung der Berufssituation Trennungen und Trennungsängste entstehen, kann deren Bearbeitung vermieden werden, wenn durch virtuelle »Problemlösungen« Distanzen in Raum und Zeit überbrückbar erscheinen. Ein vor allem zu Beginn analytischer Behandlungen nicht seltener anti-regressiver Widerstand kann überspielt werden, indem der Analysand per Tastatur und Maus die Kontrolle über seine Äußerungen in der Hand behält.

    Über der Diskussion von Wirksamkeit (Backenstrass u. Wolf, 2017; Moessner u. Bauer, 2017; Beutel et al., 2018), ethisch-juridischen Fragen wie die Speicherung intimer Patientenkommunikationen auf Servern von Telefonie-Anbietern (Hahn, 2018; Jörg, 2018; Kadish et al., 2018), ökonomischen und Versorgungsgesichtspunkten (Ex u. Amelung, 2018) gerät die therapeutische Beziehung (Klasen et al., 2013; Berger, 2018; Cipolletta et al., 2018; Hardt, 2018; Schuster et al., 2018) häufig in den wenig beachteten Hintergrund. Krisen der therapeutischen Beziehung können durch das »Funktionieren« des Online-Kontakts überdeckt werden.

    Die therapeutische Beziehung entsteht nicht durch das Vorhandensein menschlicher Körper oder deren virtuelle, auditive und/oder visuelle Abbildung. Vielmehr besagt Merleau-Pontys Konzept der Zwischenleiblichkeit, dass interpersonale Resonanzphänomene und die Fähigkeit zu mentalisieren in der geteilten Gegenwart eines erlebten Raumes entstehen (Frick, 2015; Hardt, 2018). Interessanterweise bestand die klassische Psychoanalyse auf einer Einschränkung und Regulierung dieses geteilten Raumes: Unsichtbarkeit des Analytikers im Couch-Setting, weitgehende Beschränkung auf den auditiven Kanal.

    Fazit

    Die Digitalisierung als sozio-ökonomischer Megatrend macht nicht Halt vor der Psychoanalyse, die in Deutschland Teil des medizinalisierten Gesundheitssystems ist. Psychoanalyse sollte nicht als Bollwerk gegen Therapiemoden, Tele-Analyse nicht einseitig als Fanal einer sich selbst abschaffenden Psychoanalyse gesehen werden. Vielmehr ist ihr kritisches Potenzial gefragt, angesichts der Virtualisierung zwischenmenschlicher Beziehungen und Gefühle als einer Gestalt des technischen Unbewussten. Unter Versorgungsgesichtspunkten können Online-Methoden zwar der Information und der Anbahnung einer Behandlung dienen, nicht jedoch den Face-to-Face-Kontakt ersetzen. Die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung der Beziehung zwischen Arzt bzw. Psychotherapeut und Patient unter den Bedingungen fortschreitender Ökonomisierung muss kritisch beobachtet und reflektiert werden (Ritter-Rupp u. Kreiser, 2018).

    Literatur

    Aryan, A. (2013). Setting and transference-countertransference reconsidered on beginning teleanalysis. In J. Scharff (Hrsg.), Psychoanalysis online. Mental health, teletherapy and training (S. 119–132). London: Karnac.

    Ärztetag (2018). Änderung des § 7 Abs. 4 MBO-Ä (Fernbehandlung): Beschlussprotokoll des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt (www.aerzteblatt.de/2018top4).

    Backenstrass, M., Wolf, M. (2017). Internetbasierte Therapie in der Versorgung von Patienten mit depressiven Störungen: Ein Überblick. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 66, 48–60.

    Baumeister, H., Lin, J., Ebert, D. (2017). Internet- und mobilebasierte Ansätze. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 60 (4), 436–444.

    Berger, T. (2018). Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen. In H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde: Herausforderung in der psychotherapeutischen Praxis (S. 105–117). Berlin/Heidelberg: Springer.

    Beutel, M., Böhme, K., Banerjee, M., Zwerenz, R. (2018). Psychodynamic online treatment following Supportive Expressive Therapy (SET): Therapeutic rationale, interventions and treatment process. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 64 (2), 186–197.

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    Eissler, K. (1953/1990). The effect of the structure of the ego on psychoanalytic technique. In R. Langs (Hrsg.), Classics in psychoanalytic technique. Northvale: Jason Aronson.

    Ex, P., Amelung, V. (2018). Auf und Ab: Der politische Wille zur Stärkung der Digitalisierung im Gesundheitswesen. G&S Gesundheits- und Sozialpolitik, 72 (2), 26–30.

    Frick, E. (2015). Psychosomatische Anthropologie. Ein Lern- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

    Hahn, E. (2018). Telemedizin und Fernbehandlungsverbot – Eine Bestandsaufnahme zur aktuellen Entwicklung. Medizinrecht, 36 (6), 384–391.

    Hardt, J. (2018). Methodische Überlegungen zur »Teleanalyse«. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 72 (8), 666–675.

    Hautzinger, M., Fuhr, K. (2018). Kann die Online-Therapie die Psychotherapie sinnvoll ergänzen? Pro. Der Nervenarzt, 89 (1),

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