Zwischen Spirit und Stress: Die Seelsorgenden in den deutschen Diözesen
Von Klaus Baumann, Arndt Büssing, Eckhard Frick und
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Über dieses E-Book
Darum ging es in der Seelsorgestudie, die von 2012 bis 2014 in 22 von 27 deutschen Diözesen durchgeführt wurde: um die Zufriedenheit der Seelsorgenden und ihr Engagement, ihre Ressourcen und ihre Spiritualität, ihre Gesundheit und ihren Stress, um ihren Bindungsstil, um Beziehungen und Einsamkeit, Intimität und Sexualität.
In diesem Band werden die Ergebnisse einem interessierten Publikum vorgestellt. Die Studie zeigt, wie sich Anforderungen und Belastungen bei den Seelsorgenden in ihren Tätigkeitsfeldern wechselseitig beeinflussen. Als Ressourcen erweisen sich Lebenszufriedenheit, persönlich wahrgenommene Wirksamkeit, Wertschätzung - und vor allem spirituelle Erfahrungen sowie eine Kraft der Verankerung, die das Leben als verstehbar, gestaltbar und bedeutsam erleben lässt.
Klaus Baumann
Klaus Baumann, geb. 1963, Professor für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
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Buchvorschau
Zwischen Spirit und Stress - Klaus Baumann
1. Vorwort
Die katholische Kirche befindet sich im Wandel. Dabei spielen die Seelsorgenden eine wichtige Rolle.
Weit mehr als andere Organisationen lebt die Kirche aus ihrem „Spirit, der sich in Leadership, Unternehmenskultur und Mitarbeiter-Engagement zeigt. Mehr noch: Die Nachfolge Jesu, das biblische Fundament und die lange Kirchengeschichte sind zentrale Voraussetzungen unseres heutigen SpiritualitätsVerständnisses. Immer wieder stand und steht lebendige Spiritualität in einer Spannung zu der konkreten institutionellen Gestalt der Kirche und den geistigen Strömungen der jeweiligen Epochen. Diese Spannung macht auch einen Teil der Belastungen („Stress
) der Männer und Frauen im pastoralen Dienst der Kirche aus.
Die Seelsorgestudie untersucht Ressourcen und Belastungen von pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in deutschen Diözesen. Der größere Teil der Seelsorgestudie ist eine quantitative Untersuchung mit bewährten gesundheits-, arbeitspsychologischen und psychosomatischen Fragebögen. Einige der auf schriftliche Fragen der Studie antwortenden Seelsorgenden nahmen an einem persönlichen Interview teil, in dem es um die Lebens- und Berufungsgeschichte sowie um den Bindungsstil ging. In diesem qualitativen Teil der Seelsorgestudie sollen die individuellen Haltungen, Wünsche, Kraftquellen und Probleme der Gesprächspartner erkundet werden.
Priester, Diakone, Frauen und Männer in den anderen Seelsorgeberufen der Kirche zu befragen konfrontierte die Autoren der Seelsorgestudie mit einer Reihe von Unsicherheiten und Herausforderungen: Wie können aus den zunächst ausgewählten fünf Diözesen möglichst viele von ihnen für die Teilnahme an der Seelsorgestudie gewonnen werden? Unter welchen Umständen würden uns die Frauen und Männer der Kirche diese persönlichen Informationen anvertrauen? Würden sich die Bischöfe und die Personalverantwortlichen mit dieser unabhängigen Studie einverstanden erklären, die sie auch nicht selbst initiiert haben? Würde sich angesichts der umfangreichen Fragebögen überhaupt eine ausreichende Anzahl des vielbeschäftigten pastoralen Personals Zeit für das Ausfüllen nehmen?
Außerdem: Die Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferent/inn/en haben eine theologische und pastorale Ausbildung. Sie denken und fühlen theologisch und pastoral – bei der Predigtvorbereitung ebenso wie beim Begleitungsgespräch, in der Sakramentenkatechese, in Leitungs- und Planungsaufgaben. Für manche von ihnen ist ein empirisch-humanwissenschaftlicher Ansatz ungewohnt, der Kirche und Seelsorge mit säkularen Arbeitsfeldern in Wirtschaftsunternehmen, Bildungseinrichtungen und sozialen Institutionen vergleichbar macht. So stellte sich uns Autoren die Frage: Würden die möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer einerseits unseren empirisch-humanwissenschaftlichen Ansatz und andererseits unsere Absicht akzeptieren, als Forscher Informationen zu sammeln?
Unsere anfänglichen Unsicherheiten wurden schnell zerstreut. Im Gegenteil: Viele Diözesen, die nicht zu unserer ursprünglich zur Erreichung von Repräsentativität geplanten Stichprobe gehörten, wünschten ausdrücklich, auch an der Studie teilnehmen zu können. Unsere Fragen trafen den Nerv der Seelsorgenden und auch vieler Personalverantwortlicher. Das Design der Studie war flexibel genug, diesen Wünschen Rechnung zu tragen, wenn sie auch die Organisation, Zeitplanung, Mitarbeitenden und Personalkosten erheblich belasteten.
Als Forscher und Hochschullehrer sind wir einerseits der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet. Dies zeigt sich z. B. in der anonymisierten Begutachtung von Forschungsergebnissen, bevor diese zur Veröffentlichung in einer anerkannten Fachzeitschrift angenommen werden. Andererseits entspringt unsere eigene Motivation, die Seelsorgestudie anzustoßen und durchzuführen, nicht nur einem interdisziplinären wissenschaftlichen Interesse, sondern mehr noch unserer Solidarität mit der katholischen Kirche und unserem Engagement als Priester und Laien in dieser Kirche. Wegen dieses Engagements wünschen und hoffen wir, dass von der Seelsorgestudie mit ihren Ergebnissen Denk- und Veränderungsanstöße im Interesse der Kirche und ihrer Seelsorge ausgehen.
Wir hoffen, dass die Ergebnisse möglichst breit diskutiert werden. Dabei geht es um eine Diskussion in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit, vor allem aber mit den Seelsorgerinnen und Seelsorgern selbst, die ja Experten in eigener Sache sind. So viel war schon vor Beginn der Seelsorgestudie klar: Wir würden als Forschergruppe weder Ratschläge noch Rezepte bezüglich der Seelsorge in den deutschen Diözesen aussprechen. Wir würden auch viele Antworten auf Fragen schuldig bleiben, die wir wegen der unvermeidlichen Grenzen jeglicher empirischer Studie nicht zu geben in der Lage sind. Deshalb wird in diesem Buch nicht nur von den Ergebnissen der Seelsorgestudie die Rede sein, sondern auch von ihren Grenzen. Eine deutliche Grenze unserer Studie besteht darin, dass sie als Querschnittsuntersuchung lediglich eine Momentaufnahme ermöglicht.
Anders gewendet: In der Seelsorgestudie geht es sowohl um die faktische Situation der pastoralen Berufe als auch um die Realität der verschiedenen Berufungen innerhalb der Kirche. Die professionelle Situation der Seelsorgenden kann im Hinblick auf ihre Ressourcen und Belastungen genauso untersucht werden wie die work-life-balance von Ärztinnen, Lehrern, Krankenschwestern und Erziehern. Die Besonderheit der verschiedenen Charismen und Berufungen innerhalb der Kirche wird häufig mit einer theologischen Begrifflichkeit diskutiert, z. B. kirchliche Sendung, sakramentaler Charakter bestimmter kirchlicher Dienste. Bisweilen werden bei dieser theologischen Reflexion humanwissenschaftliche Gesichtspunkte wenig berücksichtigt, z. B. Beziehungsgestaltung, Gesundheit, Macht- und Kontrollfragen. Die besondere Herausforderung der Seelsorgestudie besteht darin, Beruf und Berufung nicht auseinanderzureißen, sondern gemeinsam in den Blick zu nehmen, und zwar in der Interaktion von Institution(en) und Personen. Hierzu stellen sich viele Fragen, wie z. B.: Welche Anforderungen formuliert die Kirche in Ausbildung, Dienstrecht, Planung an die Seelsorgenden? Welche Impulse wirken umgekehrt aus den individuellen Lebens- und Arbeitswirklichkeiten auf die Kirche zurück? Die letztgenannte Richtung betrifft in besonderer Weise Lebensstil und Lebensgestaltung: Wie prägen die Eheleute unter den Seelsorgenden, zölibatär oder in Gemeinschaft Lebende auf unterschiedlichen Ebenen auch die kirchliche(n) Institution(en) und die Art und Weise, wie die Kirche seelsorgliche Dienste anbietet? Wie werden einerseits äußere Anforderungen und Ressourcen, andererseits innere Anforderungen und Ressourcen von den Menschen in Berufen der Kirche miteinander zusammengebracht, verarbeitet, erlebt?
Wir fragten uns also vor Beginn der quantitativen Erhebungen: Würde unser doppeltes Interesse an den Fragestellungen der Studie – als Wissenschaftler und als mit der Kirche fühlende Priester und Laien – bei den Seelsorgenden auf ‚Gegenliebe‘ stoßen? Würden sie unseren empirisch-humanwissenschaftlichen Ansatz als Beitrag zu einem innerkirchlichen und interdisziplinären Dialog akzeptieren?
Inzwischen können wir, nach Abschluss unserer quantitativen und qualitativen Erhebungen und nach Auswertung und Diskussion wichtiger Teilergebnisse, unsere anfänglichen Fragen und Unsicherheiten vor dem Hintergrund der deutschlandweiten Resonanz auf die Seelsorgestudie einschätzen. Es gab einige grundsätzliche Bedenken, theologische Einwände, Zweifel an der Angemessenheit unserer Erhebungsinstrumente. Ganz im Vordergrund stehen jedoch eine breite Zustimmung zur Studie und eine Kooperationsbereitschaft, die sich in der sehr ordentlichen Fragebogen-Rücklaufquote von gut 40% zeigt. Damit befinden wir uns in derselben Größenordnung wie vergleichbare freiwillige Befragungen ohne zusätzliche Teilnahmeanreize.
Wohlwollen und Interesse an der Seelsorgestudie hatten zur Folge, dass diese viel mehr untersuchte Diözesen und befragte Personen umfasst als ursprünglich geplant. Was ursprünglich als (repräsentative) „Priesterstudie" in einigen (Erz-)Bistümern geplant war, wurde zu einer Befragung aller pastoralen Berufsgruppen in den meisten deutschen Diözesen. Für diese Akzeptanz konnten wir sowohl eine „bottom-up- als auch eine „top-down
-Bewegung wahrnehmen. „Von unten nach oben", also an der pastoralen Basis der Bistümer, artikulierte sich in allen Berufsgruppen der Wunsch, teilzunehmen, informiert zu werden, mitzudiskutieren. Viele Bischöfe und Personalverantwortliche unterstützten die Studie und ihr Anliegen frühzeitig. Im April 2015 wurden die Ergebnisse der Seelsorgestudie in der Katholischen Akademie Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt – mit großem Medieninteresse. Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz und die Kommissionen für Seelsorge (III) und für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste (IV) sowie die Personalverantwortlichen der Diözesen widmeten der Seelsorgestudie eigene Sitzungen. Zusätzlich führten wir eine große Zahl von regionalen Informationsveranstaltungen in Diözesen und Fachkonferenzen durch. So erreichten wir frühzeitig eine Beteiligung der Experten in eigener Sache und der Verantwortlichen in den Diözesen.
Viele Verantwortliche in den Diözesen und Ordensgemeinschaften, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Journalisten und andere interessierte Personen wünschten eine rasche Veröffentlichung des vorliegenden Buches. Trotz dieses berechtigten Informationsbedürfnisses – gerade seitens der gut 8000 an der Seelsorgestudie Teilnehmenden – entschieden wir uns für den langsameren und gründlicheren Weg, wie er in der Forschung üblich ist: zunächst Sicherung und Auswertung der Ergebnisse, Einreichung bei anerkannten Fachzeitschriften (Review-Prozesse) und gutachterliche Prüfung, erst dann zusammenfassende Veröffentlichung der Studienergebnisse in Buchform. Die Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches können über die Webseite der Seelsorgestudie www.seelsorgestudie.com die zu Grunde liegenden Fachpublikationen ermitteln und gegebenenfalls über wissenschaftliche Bibliotheken auf die Originalartikel zurückgreifen. So wird das vorliegende Buch von wissenschaftlicher Fachsprache entlastet. Die Leserinnen und Leser müssen also nicht den ‚Maschinenraum‘ der Seelsorgestudie betreten, um deren Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch bleiben die statistisch-methodischen Hintergrundinformationen jederzeit zugänglich und bilden die Grundlage für dieses Sachbuch.
Wir freuen uns, dass dieser Schritt in die Öffentlichkeit nach den genannten Vorarbeiten nun möglich ist. Wir bedanken uns bei den Männern und Frauen im kirchlichen Seelsorgedienst, die schriftlich und mündlich unsere Fragen beantwortet haben und uns auch ihre eigenen Fragen mitgegeben haben, die aus ihrer Lebens- und beruflichen Erfahrung stammen. Verantwortliche in Diözesen und Ordensgemeinschaften haben die Durchführung der Studie durch ihr Wohlwollen ermöglicht. Schließlich bedanken wir uns bei allen, die unsere Studie unterstützt haben, besonders bei unseren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Miriam Altenhofen, Vojtech Bohac, Andreas Günther, Philipp Kerksieck, Cécile Loetz, Carlos Ignacio Man Ging und Jakob Müller.
Klaus Baumann
Arndt Büssing
Eckhard Frick sj
Christoph Jacobs
Wolfgang Weig
2. Einleitung
Jedes Forschungsprojekt beginnt mit einer Forschungsfrage. Auch die Seelsorgestudie – nur fächert sich unsere in mehrere Themenbereiche auf. Im Vordergrund stand für uns die Frage nach der Lebens- und Arbeitssituation pastoraler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Schlüsselpersonen im Kontext der gegenwärtigen religiösen und pastoralen Wandlungsprozesse. Hier interessierte uns vor allem, wie es ihnen geht, wie ihre Gesundheit, Motivation und Lebenszufriedenheit erhalten und gefördert und wie ihre individuellen Ressourcen im Umgang mit Belastungssituationen unterstützt werden können. Im Hintergrund steht für uns die grundlegende Absicht, Gesundheit und Engagement im Dienst der Seelsorge zu fördern und damit zum Gelingen des Lebens von Seelsorgerinnen und Seelsorgern beizutragen. Dass ihre Spiritualität(en) und Lebensformen bei diesen Fragestellungen einen zentralen Raum einnehmen müssen, war eine ähnliche Grundannahme.
2.1. Theoretische Modelle
Wenn man die Frage nach Gesundheit, Motivation und Ressourcen von Personen stellt, ist es gut, sich auf bereits etablierte Denkmodelle in Medizin und Gesundheitspsychologie beziehen zu können. Für die Seelsorgestudie waren dies das Salutogenese-Konzept sowie das Anforderungs-/Ressourcen-Modell, die beide an anderer Stelle noch ausführlicher erläutert werden.
Das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als eine der bedeutsamsten Rahmenkonzeptionen der Gesundheitswissenschaften entwickelt. Es wird heute als Gegenentwurf zum Pathogenese-Mo-dell verstanden. Es fragt nach Gesundungsprozessen anstatt nach Erkrankungsprozessen. Sein Gesundheitsverständnis ist nicht auf die physische und/oder psychische Gesundheit enggeführt, sondern bezieht auch die geistige, soziale, kulturelle und spirituelle Dimension umfassend ein. Gesundheit und Krankheit können als fließende Übergänge („Bewegung) auf einem theoretischen Kontinuum zwischen völliger Krankheit („dis-ease
/ Krankheit) und völliger Gesundheit („ease / Wohlgefühl) verstanden werden. Es handelt sich somit um Prozesse des „Werdens
in Richtung Wohlbefinden und Zufriedenheit. Im Vordergrund steht nicht die Frage, was krank, sondern was gesund macht. Diese scheinbar polar gegensätzlichen Zustände sind natürlich idealisiert, sie beschreiben aber gut die „Anziehungspole" für Gesundheits- und Krankheitsdynamiken. Die treibenden Faktoren dieser Bewegung sind zum einen die Ressourcen des Individuums, zum anderen der Interaktionsprozess zwischen dem Individuum und den Ressourcen des Lebensraumes. In diesem Geschehen gilt es die gesamte Person mit ihrer individuellen Lebensgeschichte (mit ihren Leibes- und Beziehungserfahrungen) im Kontext des gesamten Systems zu berücksichtigen, in dem sie lebt. Eine zentrale Rolle im Salutogenese-Modell nimmt das so genannte Kohärenzgefühl ein. Es ist eine globale Lebensorientierung, welche Individuen und soziale Systeme in die Lage versetzt, das Leben als verstehbar, gestaltbar und motivational sinnvoll zu begreifen.
Das salutogenetische Modell ist kein Konkurrenzmodell zu den bewährten alternativen ressourcenorientierten Modellen der Gesundheitsförderung. Vielmehr stellt es ein integrierendes und synthetisierendes Modell dar, welches als „umbrella-model" verschiedener Rahmenkonzeptionen dienen kann. Im Unterschied zu den in der Medizin häufig dominierenden Pathogenese-Modellen sieht das Salutogenese-Konzept den Erfolg nicht darin, spezifische pathogene Erreger oder Prozesse bekämpfen zu können, sondern die Ressourcen zu stärken, die das Individuum widerstands- und anpassungsfähig machen. Im Salutogenese-Modell erfährt das bekannte Stressorkonzept im Einklang mit anderen bewährten Stress-Modellen eine entscheidende Modifikation : Der auf das Individuum zukommende oder in ihm auftretende Stressor führt nicht per se zu einem Disstresszustand, sondern zu einem physiologischen „Anspannungszustand aufgrund der verursachenden Anforderungen, mit dem das Individuum umgehen muss, um das ursprüngliche Gleichgewicht wieder herzustellen. Kann es diesen mit Hilfe seiner Ressourcen abpuffern bzw. bewältigen, so würde die entsprechende Person aufgrund von positiven Erfahrungen und Trainingseffekten mit einer (theoretisch) „robusteren
Gesundheit aus der Konfrontation mit dem Stressor hervorgehen. Entscheidend für eine konstruktive Spannungsbewältigung ist die Palette der Ressourcen, die einem Menschen dafür zur Verfügung steht. Es können körperliche, geistige, seelische, soziale, kulturelle oder spirituelle Ressourcen sein.
Ein weiteres in der Seelsorgestudie berücksichtigtes Modell ist das Anforderungs-Ressourcen-Modell, das vor allem in der Erklärung von Prozessen der Entwicklung von Gesundheit, Krankheit und Motivation in der Arbeitswelt angewandt wird. Dieses systemische Modell versteht Gesundheit als gelingende Bewältigung der internen und externen Anforderungen und Belastungen des Lebens mit Hilfe interner und externer Ressourcen. Diese Ressourcen können ganz allgemein als Mittel oder individuelle Eigenschaften verstanden werden, die Personen im Bedarfsfall einsetzen können, wenn sie vor der Herausforderung stehen, interne und externe Anforderungen bewältigen zu müssen. Zu den internen Ressourcen gehören z. B. Persönlichkeitseigenschaften wie psychische Stabilität, Extraversion (im Sinne einer nach außen gewandten, gesprächigen und aktiven Charakteristik) und Selbstwirksamkeit (im Sinne der Überzeugung, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu sein und auftretende Probleme aufgrund eigener Fähigkeiten und Kompetenzen lösen zu können), aber auch Ämter und Positionen in der Arbeitswelt. Als Beispiele für externe Ressourcen seien hier Wertschätzung, soziale Unterstützung, Autonomie am Arbeitsplatz und Verlässlichkeit der sozialen Systeme u. a. genannt. Im Rahmen der Seelsorgestudie stellt das Anforderungs-Ressourcen-Modell daher zwei Grundannahmen zur Verfügung:
1. Lebensqualität (Zufriedenheit, Gesundheit, Wohlbefinden usw.) entsteht dann, wenn die Bilanz von Anforderungen und Ressourcen subjektiv positiv – also zugunsten der Wirkung der Ressourcen – ausfällt.
2. Spannung und Disstress (Belastungssymptome, Unzufriedenheit, Burnout, Demotivation usw.) entstehen dann, wenn die Bilanz von Anforderungen und Ressourcen subjektiv negativ – also zugunsten der Wirkung der Stressoren – ausfällt.
Inwieweit sich die sich daraus ergebenden Hypothesen und Fragen tatsächlich beantworten lassen, wird in den entsprechenden Themenkapiteln erörtert.
2.2. Beschreibung der Datengrundlage
2.2.1. Procedere der Datenerhebung
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich nicht um eine Auftragsarbeit, die von der Deutschen Bischofskonferenz oder anderen Institutionen initiiert oder finanziert wurde, sondern um das originäre Anliegen einer Gruppe von Forschern aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die ein gemeinsames Anliegen verfolgen wollten. Die jeweiligen Bischöfe der für die anonyme Befragung avisierten Diözesen wurden informiert und um zustimmende Unterstützung gebeten. Die Resonanz war sehr positiv – weitere Diözesen baten darum, ebenfalls teilzunehmen. Im Ergebnis wirkten 22 von 27 deutschen Diözesen mit. Die befragten Personen wurden über die Personalverantwortlichen vorinformiert und mit Hilfe eines Informationsbriefes der Forschergruppe über Art und Umfang der schriftlichen und anonymen Befragung informiert. Spezifische Anreize (Belohnungen) für das Rücksenden der ausgefüllten Fragebögen wurden nicht gesetzt. Erinnerungsschreiben wurden jedoch versendet.
Die Befragung mittels standardisierter und validierter Fragebögen verlief in drei großen Wellen. Der Grundstock dieser Fragebogenmodule war immer gleich, jedoch wurden in einigen Diözesen weitere Elemente für spezifische Fragstellungen hinzugefügt bzw. andere nicht weiter verwendet.
Im Rahmen der Fragebogenstudie wurden die Befragten zudem über die Möglichkeit einer Teilnahme an einer vertiefenden Interviewstudie informiert. 395 von insgesamt 8.574 Befragten (4,6%) willigten schriftlich in die Teilnahme an solchen vertiefenden Interviews ein. Unter den Interessenten wurden 83 Teilnehmer zufällig ausgewählt, die in ihren Diözesen besucht und interviewt wurden. Die Auswertung des reichhaltigen transkribierten Datenmaterials mit qualitativen Methoden ist noch nicht abgeschlossen.
Eigentümerin der so gewonnenen Daten (sowohl aus der schriftlichen Befragung als auch aus den zusätzlichen Interviews) ist die Forschergruppe. Diese hat die Freiheit, die Daten unabhängig von Einflüssen Dritter und nach eigenen Interessen auszuwerten. Es wurde vereinbart, die Hauptthemen in Form von Fachartikeln zunächst in begutachteten wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen und sich so dem kritischen fachwissenschaftlichen Urteil der Gesundheitswissenschaften zu stellen. Die Gefahr, dass „sensible Daten" zurückgehalten werden würden, besteht somit nicht. Anschließend sollte erst mit Sekundärverwertungen begonnen werden.
2.2.2. Beschreibung der untersuchten Personen
Insgesamt wurden Datensätze von 8.574 Personen analysiert. Aufgrund der unterschiedlichen Größen der beteiligten Diözesen ist die Anzahl der Antwortenden sehr variabel – von 28 bis zu 811 Personen im jeweiligen Bistum.
Es konnten Datensätze von 4.157 Priestern (48,5% der Gesamtgruppe) einbezogen werden, von 1.039 (Ständigen) Diakonen (12,1%), 1.518 Pastoralreferenten und Pastoralreferen-tinnen (PR; 17,7%) und 1.860 Gemeindereferenten und Gemeindereferentinnen (GR; 21,7%).
In der Berufsgruppe der PR sind 53,7% männlichen und 46,3% weiblichen Geschlechts, während in der Berufsgruppe der GR 22% männlichen und 78% weiblichen Geschlechts sind.
Die Altersverteilung in den jeweiligen Berufsgruppen ist sehr unterschiedlich, insbesondere weil in der Gruppe der Priester auch 28% Ruheständler zu finden sind, die in den anderen Berufsgruppen (schon aus Datenschutzgründen) nicht erreicht werden konnten. Bei den PR und GR sind die meisten in den 1960er Jahren geboren und bei den Diakonen die meisten in den 1950er Jahren, während sich bei den Priestern zwei Altersgipfel finden – einerseits die in den 1960er Jahren geborenen und andererseits die vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen (Abb. 2.1). Diese ältere Gruppe findet sich bei den PR und GR nicht.
Abb. 2.1: Altersverteilung in den Berufsgruppen entsprechend den Geburtsjahrzehnten
Die Wochenarbeitszeit in den Berufsgruppen (bei einer Altersbegrenzung auf ≤ 65 Jahre) unterscheidet sich signifikant, wobei die Priester 53,3 ± 12,3 Stunden, die Diakone 34,8 ± 18,8 Stunden, die PR 40,9 ± 9,8 Stunden (bei vertraglich festgelegter Arbeitszeit von 35,6 ± 7,5 Stunden) und die GR 39,5 ± 11,0 Stunden (bei vertraglich festgelegter Arbeitszeit von 34,2 ± 8,7 Stunden) pro Woche arbeiten. Die PR und GR haben zwar eine relativ geringere Arbeitszeit als Priester, jedoch ist sie deutlich höher als ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit. Schaut man die Gruppe aller Priester genauer an, so zeigt sich, dass auch die Ruheständler mit 20,9 ± 13,9 Stunden noch eine recht hohe Wochenarbeitszeit aufweisen.
3. Zufriedenheit und Kohärenzgefühl – zentrale Ressourcen der Seelsorgenden
3.1. Wie zufrieden sind die Seelsorgenden?
Die Erforschung der Zufriedenheit in ihren unterschiedlichen Dimensionen ist ein zentrales Anliegen der Seelsorgestudie. Gerade die Antwort auf die Frage „Wie zufrieden sind Sie … ?" war für viele Seelsorger und Seelsorgerinnen und für die Diözesen ein überzeugender Motivator für die Teilnahme bzw. die Durchführung der Studie.
In diesem Kapitel werden wir folgenden Fragen nachgehen:
– Wie zufrieden sind die Seelsorger und Seelsorgerinnen in Bezug auf die unterschiedlichen Dimensionen: „Leben insgesamt", Arbeit und Organisation?
– Wie ist die Zufriedenheit der Seelsorgenden im Vergleich zur Bevölkerung einzuordnen ?
– Gibt es Unterschiede in der Zufriedenheit bei verschiedenen Untergruppen der Seelsorgenden?
– Welche Beziehungen bestehen zwischen den unterschiedlichen Dimensionen der Zufriedenheit und anderen Indikatoren, wie z. B. Engagement und Stabilität im Beruf?
3.1.1. Zufriedenheit und Lebensqualität in der Forschung
Zufriedenheit als Dimension des subjektiven Wohlbefindens ist ein wesentlicher Bestandteil der multidimensionalen Lebensqualität. Lebensqualität hat psychologische, körperliche, geistige, soziale und spirituelle Aspekte. Die subjektive Dimension der Lebensqualität ist einerseits Folge, andererseits auch Ausdruck psychischer, physischer, sozialer und spiritueller Gesundheit. Die (subjektive) Empfindung der Zufriedenheit kann im Einzelfall positiver sein,