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Autismus als Kontextblindheit
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eBook557 Seiten6 Stunden

Autismus als Kontextblindheit

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Über dieses E-Book

Untersuchungen in Europa, Kanada und den USA ergaben, dass bei sechs bis sieben von tausend Personen eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert wird. Was bedeutet das?Mit »Autismus als Kontextblindheit« beschreibt Peter Vermeulen eine neue Sichtweise zum Autismus-Verständnis. Seine Kernaussage lautet: Menschen mit Autismus zeigen in der Wahrnehmung ihrer objektbezogenen und sozialen Umwelt Probleme bei der schnellen, vorbewussten, intuitiven Erfassung und Nutzung von Kontextinformation. Dieses im Vergleich zu anderen Menschen herabgesetzte Gespür für Kontext ist hirnorganisch begründet und erklärt die autistischen Besonderheiten in Wahrnehmung, sozialer Interaktion, Kommunikation und Denken. Peter Vermeulen knüpft (kritisch) an viele bestehende neurokognitive Erklärungsansätze an und untermauert und belegt seine Thesen mit zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen, aber auch mit Beispielen aus seiner langjährigen praktischen Erfahrung mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum.Allgemeinverständlich und unterhaltsam geschrieben eröffnet das Buch Betreuern, Lehrern, Begleitern und Eltern von Menschen mit Autismus neue Sichtweisen. Es zeigt Strategien zur Kompensation bzw. Hinweise und Beispiele für eine autismusfreundliche Gestaltung der Umwelt und gibt so neue Impulse für den Alltag der Betroffenen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2016
ISBN9783647997490
Autismus als Kontextblindheit

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    Buchvorschau

    Autismus als Kontextblindheit - Peter Vermeulen

    1. Kapitel:

    Kontext

    Was ist Kontext?

    Warum finden Japaner es nicht schockierend, wenn ein Kleinkind

    an einem Eis leckt, das wie ein großer Penis aussieht?

    Warum verstehen wir Wörter, deren Bedeutung uns niemals erklärt wurde?

    Warum denken Sie bei dem Satz »Das Haustier läuft kläffend durch

    den Garten und verfolgt die Katze« an einen Hund?

    Warum hat die Rückseite von Spielkarten Einfluss auf das Risiko,

    das wir beim Kartenspiel eingehen?

    Was ist Kontext?

    Es ist schwierig, eine exakte Definition für »Kontext« zu finden. Jeder weiß intuitiv, was der Begriff bedeutet, man findet jedoch keine allgemeingültige Definition. Es ist wohl eher kein Zufall, dass die Bedeutung des Wortes »Kontext« wiederum abhängig ist vom Kontext, in dem das Wort verwendet wird.

    In der Archäologie beispielsweise verweist Kontext auf die Umgebung, in der ein historischer Gegenstand gefunden wurde: Die exakte Stelle, an der er gelegen hat, die Umgebung, in der sich diese befindet (Wasser oder Bodenart) und der Bezug zu anderen Gegenständen. Für Archäologen ist ein Gegenstand ohne Kontext bedeutungslos.

    Ein anderes Gebiet, in dem es sehr auf den Kontext ankommt, ist die Geschichte. Der Begriff »historischer Kontext« ist Ihnen sicher bekannt. Damit bezeichnet man geschichtliche Zusammenhänge, die uns helfen, ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person aus jener Zeit zu verstehen. Kontext ist, historisch betrachtet, ein wichtiger Begriff. Anachronistisches Arbeiten gehört zu den größten Fehlern, die ein Historiker machen kann. Anachronismus bedeutet, einen Gegenstand, Personen oder Ereignisse der falschen Zeit oder dem falschen Kontext zuzuordnen. Herrlich humorvoll anachronistisch ist zum Beispiel die Trickfilmserie der »Flintstones« (Familie Feuerstein). Die Dinosaurier waren bereits seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, als Menschen die Bühne betraten. Im Fall der Familie Feuerstein sorgen diese Anachronismen für den Humor der Serie. Für ernsthafte Geschichtsforschung ist der korrekte Kontext allerdings unerlässlich.

    Der Begriff »Kontext« und seine Geschichte

    Der Begriff »Kontext« hat natürlich auch einen historischen Kontext. Allein das Wort hat eine spannende Geschichte (Burke, 2002). »Kontext« entstammt dem lateinischen Wort contextus, Partizip: contextere, was zusammenflechten oder zusammenweben bedeutet. Con = zusammen, textere = weben. Dem entstammen auch die Wörter »Textil« und »Textur«, aber auch das Wort »Text«. Für die Römer bedeutete contextus »Verbindung, starke Beziehung, Zusammenhang«. Es ist ein bisschen merkwürdig, obwohl das Wort aus dem Lateinischen stammt, kennt das Lateinische kein Wort für Kontext. Erst im 4. Jahrhundert tauchte ein verwandtes Wort auf, nämlich contextio, das ebenfalls Zusammenhang bedeutet, aber dem heutigen Begriff des Wortes näher kommt. Das Wort contextio verwies auf Textteile rund um die Abschnitte, die man studieren oder interpretieren wollte. In jener Zeit übersetzte man die Bibel ins Lateinische, und dazu war es notwendig, auch den Kontext gut zu verstehen.

    Der Begriff »Kontext« hat als »Text um eine Text-Passage«, auch nach 16 Jahrhunderten noch stets die gleiche Bedeutung, die man auch in Wörterbüchern findet. Der Duden definiert »Kontext« als:

    1.(Sprachwissenschaft) umgebender Text einer sprachlichen Einheit;

    2.(Sprachwissenschaft) (relativ selbstständiges) Text- oder Redestück;

    3.(Sprachwissenschaft) inhaltlicher Gedanken-, Sinnzusammenhang, in dem eine Äußerung steht; und Sach- und Situationszusammenhang, aus dem heraus sie verstanden werden muss;

    4.(bildungssprachlich) Zusammenhang.

    In der Linguistik wird das Wort »Kontext« ebenfalls im Sinne von »co-text« verwendet. Dabei handelt es sich um Material, das bei einer Textanalyse um eine Textstelle herum angesiedelt ist. Mit der Interpretation alter Texte, zum Beispiel in der Bibel, erscheint das Wort »Kontext« im 16. und 17. Jahrhundert in mehreren europäischen Sprachen: Italienisch – »contesto«, Französisch – »contexte«, Englisch – »context«, und auch Deutsch – »Kontext«.

    Im Laufe der Jahre wurde die Bedeutung des Wortes ausgeweitet, stets jedoch im Rahmen von Textinterpretationen. Im weiteren Sinn verweist das Wort »Kontext« aber nicht nur auf den Co-Text, sondern auch auf die Intention des Text-Autors (in Latein »scopus«, Herkunft des englischen Worts »scope«). Noch später, im 19. Jahrhundert, wurde der Begriff ausgeweitet auf »alle Umstände einer Situation«. Um Texte gut zu verstehen, reicht es nicht aus, nur auf den übrigen Text und die Absicht des Autors zu achten. Es ist darüber hinaus erforderlich, auch auf den historischen Kontext, den kulturellen Kontext, den Zeitgeist, kurzum auf alle Umstände, die mit dem Text in Zusammenhang stehen, zu achten. Wenn diese Aspekte nicht berücksichtigt werden, verwenden wir auch heute noch den Ausdruck, dass etwas »aus dem Kontext (Zusammenhang) gerissen« wird.

    Heutzutage wird das Wort »Kontext« nicht mehr nur im Kontext des Interpretierens und Verstehens von Texten benutzt. Kontext erklärt beispielsweise auch die Bedeutung von Musik. Im Jahr 1952 gab der amerikanische Komponist und Künstler John Cage einem seiner musikalischen Werke den Titel »4’33«. Das Bemerkenswerte daran ist, dass in dem ganzen Stück keine einzige Musiknote vorkommt. Zur Aufführung des Stückes gehört es, exakt 4 Minuten und 33 Sekunden auf dem Podium zu sitzen ohne zu musizieren. Mit anderen Worten: Sie hören keine Musik. Das scheint keinen Sinn zu ergeben, aber die Komposition von Cage bekommt musikalische Bedeutung, wenn man sie im Kontext der avantgardistischen Kunstbewegung ihrer Zeit sieht. Avantgardisten wie Cage experimentierten mit vielen Kunstformen und Cage meinte mit seiner »4’33« nicht wirklich Stille, was vielleicht viele denken. Das Stück besteht aus den Geräuschen der Umgebung, in der »4’33"« aufgeführt wird. Ohne diesen Kontext bliebe Cages Komposition eher ohne Bedeutung oder zumindest schwer zu verstehen.

    Im Lauf der Geschichte hat sich der Begriff »Kontext« und alles was damit gemeint ist deutlich erweitert. »Kontext« bezieht sich mittlerweile auf alle Dinge, denen wir Bedeutung und Sinn geben wollen. Das gilt für Texte, Bilder, Musik, Gegenstände oder Ereignisse. Ein Kontext verweist schon lange nicht mehr ausschließlich auf Textabschnitte, sondern beispielsweise auch auf einen gesellschaftlichen Kontext, einen politischen, historischen oder kulturellen Kontext etc.

    Der Bedeutungsumfang des Kontextbegriffs hat sich erweitert, seine Funktion ist jedoch in all den Jahrhunderten stets dieselbe geblieben. Kontext hilft uns, Bedeutungen zu finden und Dinge und Ereignisse zu verstehen. Kontext ist gewissermaßen unser Wegweiser auf der Suche nach Bedeutung. Wenn wir den Kontext von etwas nicht kennen oder nicht beachten, laufen wir Gefahr, Dinge falsch zu verstehen.

    Im Jahr 2006 erschien im Internet das Foto eines japanischen Kleinkindes, das an einem Eis leckte. Dieses Eis glich einem Penis von beachtlicher Größe. Allgemeine Bestürzung machte sich in unserem Kulturkreis breit und schnell fielen Worte wie »Porno«, »schockierend« oder »unverantwortlich«. Die moralischen Standards der Japaner wurden ernsthaft infrage gestellt. Japaner selbst und Leute, die sich mit japanischen Gewohnheiten und Veranstaltungen auskennen, blieben jedoch gelassen, denn sie kannten den Kontext. Das Foto wurde in Kawasaki auf dem Kanamara Matsuri aufgenommen, einem Festival mit sehr alter Tradition, das jedes Jahr im April stattfindet. Es ist das Festival des stählernen Phallus (das ist auch der Name des Festes), einem Fruchtbarkeitsfest, das mit vielen, oft gigantisch großen Penissen und anderen Phallussymbolen geschmückt wird. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass es dort auch Eis in Penisform gibt. Deshalb kann von moralischem Verfall keine Rede sein, im Gegenteil: Das Festival selbst dient einem guten Zweck. Mit dem Erlös (des einen oder anderen Peniseises) wird die HIV-Forschung finanziell unterstützt.

    Wo beginnt Kontext und wo hört er auf?

    Kontext hilft uns zu verstehen, was wir sehen, hören oder fühlen. Aber wo beginnt Kontext und wo hört er auf?

    Der Kontext eines Wortes ist der Satz, in dem es steht. Der Satz wiederum ist eingebettet in einen Absatz. Kontext um einzelne Absätze sind die Kapitel, für die dann das ganze Buch den nötigen Kontext liefert. Um das Buch zu verstehen, ist es hilfreich, die Vorstellungen und Intentionen des Autors als Kontext zu kennen. Um den Autor zu verstehen, muss man etwas über sein Leben wissen, das wiederum in einem zeitlichen und geografischen Kontext gesehen werden kann. So könnten wir endlos weiter fortfahren.

    Es gibt demnach nicht nur so etwas wie den Kontext, sondern stets mehrere Kontextebenen. Woher wissen wir nun in diesem unendlichen kontextuellen Raum, was jeweils wichtig ist, um etwas richtig zu verstehen? Welchen der Kontexte braucht man dazu? Eine rätselhafte Angelegenheit. Trotzdem scheint es für unser Gehirn in aller Regel nicht so schwierig zu sein, nur denjenigen Kontext zu nutzen, der nötig ist, um etwas zu verstehen. Keiner käme auf die Idee, die ganze Biografie eines Autors zu lesen, um sein Buch zu verstehen (außer, es scheint notwendig zu sein). Wir nutzen nur den Kontext, den wir zum Verständnis brauchen. Wie wir das machen, ist kein großes Geheimnis. Dazu ein Beispiel.

    Was bedeutet das Wort »konvaleszent«? Ich hoffe, Sie kennen das Wort nicht, denn sonst klappt es nicht so gut mit meinem Beispiel. Versuchen Sie bitte auch nicht, es jetzt im Wörterbuch oder im Internet zu recherchieren.

    Wenn das Wort für sich allein steht, ist es wirklich schwer zu verstehen. Glücklicherweise begegnen uns in unserer Welt selten einsame Wörter. Wörter pflegen gewöhnlich in Sätzen zusammen zu hocken, auf ganzen Buchseiten. Nun stellen Sie sich vor, Sie lesen das Wort »konvaleszent« in folgender Passage der Erzählung »Der Mann in der Menge«, geschrieben 1840 von Edgar Allan Poe:

    »Vor nicht allzu langer Zeit saß ich an einem Herbstabend, bei Einbruch der Dunkelheit am großen Bogenfenster des D-Coffee House in London. Ich war einige Monate krank, bin aber nun konvaleszent, und mit der zurückgekehrten Kraft befinde ich mich in einer jener glücklichen Stimmungen, die …«

    Nun wird es etwas leichter. Ganz sicher bin ich zwar nicht, aber unzweifelhaft bietet sich nun eine Anzahl möglicher Bedeutungen an, die allesamt etwas mit »genesen« oder »besser werden« zu tun haben. Zu den Bedeutungen sind Sie nicht gekommen, weil Sie wild danach gesucht haben, sondern Sie haben sie aus dem Kontext abgeleitet, nämlich aus dem Satz um das Wort »konvaleszent« herum. »Erst war er krank und nun kehren seine Kräfte zurück«. Der Sinn ergibt sich aus der unmittelbaren und deutlichen Nähe zum Kontext des Wortes »konvaleszent«. Natürlich gibt es auch einen erweiterten Kontext: Die vollständige Erzählung oder auch das ganze Werk, von Edgar Allan Poe.¹ Zwischen dem unmittelbaren Kontext (dem Satz) und dem erweiterten Kontext (dem ganzen Werk), befindet sich natürlich noch eine Menge anderer Kontexte: Die Absätze, die Kapitel, die ganze Erzählung. Die verschiedenen Kontextebenen befinden sich also rund um einen Zielbegriff, Psychologen bezeichnen das als »target stimulus« (siehe Abbildung 4), in unserem Fall der Begriff »konvaleszent«.

    Abbildung 4: Konzentrische Anordnung der Kontextebenen rund um den Zielbegriff

    Vielleicht können wir es uns folgendermaßen vorstellen: Wenn uns der direkte Kontext zur Erklärung nicht weiterhilft, schauen wir nach der nächsten Ebene (in unserem Beispiel der ganze Satz). Erst wenn der Satz uns auch nicht hilft, die Bedeutung von »konvaleszent« zu verstehen, ziehen wir den ganzen Abschnitt zu Rate, und wenn das nicht reicht, vielleicht noch mehr Text. Um die Bedeutung von »konvaleszent« verstehen zu können, studieren wir aber nicht das ganze Leben und Werk von Edgar Allan Poe, obwohl er ganz bestimmt eine sehr interessante Persönlichkeit war. Wir suchen logischerweise nur so weit wie nötig, denn unser Gehirn arbeitet nach dem Prinzip des geringsten Aufwands.² Nicht dass unser Gehirn faul wäre, es arbeitet nur sehr effizient.

    Externer und interner Kontext

    Wir können den Kontextbegriff noch weiter differenzieren, eine Unterscheidung, die in diesem Buch noch wichtig sein wird in Bezug auf Autismus.

    Wenn wir uns mit »Kontext« auf die jeweilige Situation beziehen, dann meinen wir den externen Kontext eines Begriffs. Dabei geht es um die physische oder soziale Umgebung des Zielbegriffs, wie beim Text rund um das Wort »konvaleszent«. Daneben gibt es auch noch den internen Kontext, den Kontext in unserem Kopf: unsere Vorstellungen, unser Wissen, unsere Erfahrungen, Gefühle, Erwartungen etc., alles was in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert ist.³ So kann es sein, dass Sie das Wort »konvaleszent« verstehen, ohne dass Sie seine Bedeutung aus dem Text erschließen mussten. Wenn man beispielsweise Latein studiert hat, kann man viele Fremdwörter auf der Basis dieses Wissens erkennen. Dann weiß man auch, dass viele schwierige Wörter ihren Ursprung im Lateinischen haben. Vielleicht erinnern Sie sich an das lateinische Verb valescere, was »gesund werden« bedeutet. Sowohl der interne wie auch der externe Kontext helfen uns, die Bedeutung eines Wortes wie »konvaleszent« zu finden (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Externer und interner Kontext

    Internen und externen Kontext können wir theoretisch recht gut unterscheiden, doch in der Praxis gehören sie untrennbar zusammen. Wenn Sie beispielsweise tief in ihrem Gedächtnis graben müssen, um die Übersetzung für das lateinische Verb valescere zu finden und sie sich trotzdem nicht sicher sind, dann wird der externe Kontext die Zweifel daran schnell beseitigen. Die vage Vermutung, dass valescere »gesund werden« bedeutet, wird durch den Satz rund um das Wort »konvaleszent« bestätigt. Dieser Prozess kann aber auch umgekehrt ablaufen. Durch den Sinn, den der Satz rund um das Wort ergibt, denkt man an »genesen« oder »wiederherstellen« und das aktiviert so manche Lateinkenntnisse, durch die man dann endgültig Sicherheit bekommt.

    Das Zusammenspiel zwischen internen und externen Kontexten ist, neben dem Prinzip des geringsten Aufwands, das zweite Prinzip, das uns hilft, bei der unendlichen Vielfalt der uns zur Verfügung stehenden Menge von Kontexten die richtige Auswahl zu treffen. Es gibt nicht nur unendlich viele Ebenen und Elemente im externen Kontext, auch in unserem Gehirn als internem Kontext gibt es unbegrenzt viele Gedanken. Der externe Kontext hilft uns bei der Auswahl dieser gedanklichen Vorstellungen.

    Ein interessantes Experiment von Diederik Aerts und Liane Gabora (2005a; 2005b) verdeutlicht das. Aerts und Gabora gaben ihren Versuchspersonen die Aufgabe, einen der folgenden Sätze zu lesen:

    Das Haustier nagt an einem Knochen.

    Das Haustier wurde dressiert.

    Weißt du, welche Art Haustier er hat? Daran sieht man, dass er ein merkwürdiger Mensch ist.

    Danach gaben Aerts und Gabora ihren Versuchspersonen eine Liste mit Namen von Haustieren wie Hamster, Papagei, Hund, Goldfisch, Kanarienvogel, Katze, Spinne, Igel und Schlange und fragten sie, ob die Tiere ihrer Meinung nach typische Haustiere⁴ seien.

    Der externe Kontext (der Satz) schien einen deutlichen Einfluss auf die Antworten der Probanden zu haben. Beim Kontext des ersten Satzes (»das Haustier nagt an einem Knochen«) denken Menschen zuerst an einen Hund oder eine Katze, aber niemals an einen Kanarienvogel oder einen Goldfisch. Logisch, Goldfische, die an einem Knochen nagen, sind sehr selten und sicher irgendwie gestört. Beim Satz über die bizarre Person dachten die Befragten niemals an Hund oder Katze, viel eher an Spinnen, Schlangen oder Igel.

    Der externe Kontext hat folglich einen Einfluss darauf, welche Konzepte wir in unserem Gehirn aktivieren. So werden Ihnen bei dem Satz »Das Haustier läuft durch den Garten« verschiedene Begriffe einfallen, etwa Katze, Hund oder Kaninchen. Aber bei dem Satz »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten und jagt die Katze« denken Sie nur noch an einen Hund.

    Jetzt, gerade in diesem Moment während Sie dieses Buch lesen, spielt auch der externe Einfluss auf Ihren mentalen Kontext eine Rolle. Ein Text über Kontext aktiviert vor allem Ihre Begriffe und Vorstellungen über Psychologie, Denken oder Wahrnehmung, während alles, was Sie über Radrennen, historische Schlachten, Toilettenpapiermarken oder italienische Gerichte wissen, nicht in Ihrem Kopf aktiviert wird. Obgleich es sein kann, dass Sie durch die Beschreibung des Experiments von Aerts und Gabora plötzlich an Ihren Goldfisch denken, den Sie bereits seit einer Woche vergessen haben zu füttern. Aber auch dieses Beispiel zeigt, welchen Einfluss der externe auf den internen Kontext hat.

    Umgekehrt hat der interne Kontext Einfluss darauf, auf welche Aspekte des externen Kontexts Sie Ihre Aufmerksamkeit richten. Irgendwo in Ihrem Kopf gibt es ein Konzept von »Buch«. Das Konzept beinhaltet das Merkmal »lesen«. Wenn Sie ein Buch sehen, werden Sie besonders auf den Titel achten. So können Sie unterscheiden zwischen »interessant, sollte ich lesen« oder »interessiert mich nicht«. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, befühlen Sie nicht das Papier und achten nicht auf den Einband. Aber vielleicht tun Sie das doch, wenn Ihr Beruf oder Hobby Buchbinden ist. Für einen Buchbinder sind Bindung und Papiersorten möglicherweise viel interessanter als das, was im Buch zu lesen ist. Wer Sie sind, was Sie wissen, was Sie wollen und wofür Sie sich interessieren, hat Einfluss darauf, welcher externe Kontext Ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn Sportfans ein Fußballspiel anschauen, haben sie kaum ein Auge dafür, was auf den Reklamebannern rund um das Spielfeld steht, während Werbefachleute dem doch deutlich mehr Interesse entgegenbringen. Im Kapitel über Kontext und Wahrnehmung werden wir näher darauf eingehen, welchen Einfluss der Kontext auf die Aufmerksamkeit hat.

    Interner und externer Kontext beeinflussen sich kontinuierlich und wechselseitig. Der externe Kontext (die Situation) verändert und beeinflusst unsere Ideen, Erwartungen, Gefühle, das heißt alle Elemente unseres psychischen Gesamtzustands. Die wiederum bestimmen stets mit, für welche Aspekte des externen Kontexts wir uns interessieren. Es macht keinen Sinn zu fragen, welcher Kontext zuerst kommt, der externe oder der interne Kontext, denn da wären wir wieder bei der Frage von Huhn und Ei, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden.

    Wichtiger und nebensächlicher Kontext

    Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie wir in der endlosen Ansammlung kontextueller Gegebenheiten diejenigen finden, die wichtig sind. Nicht alles in einem Kontext ist gleichermaßen relevant. Manche Psychologen differenzieren daher zwischen wichtigem und nebensächlichem Kontext.⁶ Wichtiger Kontext umfasst jene Abschnitte, die einen Einfluss auf die Bedeutung von etwas haben, wie zum Beispiel das Wort »kläffend« in dem Satz: »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten«. Zum nebensächlichen Kontext zählen all die Dinge, die eher zufällig in der Nähe sind und darum nicht unbedingt wichtig sind für Sachverhalte, die wir verstehen wollen. Die Schriftfarbe des Satzes: »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten« wäre beispielsweise weniger wichtig.

    Abbildung 6: Probanden, die ein Set Karten bekamen, deren Rückseiten mit einem Konterfei von James Bond bedruckt waren, zeigten sich beim Glücksspiel wesentlich risikobereiter als jene, deren Spielkarten neutral gestaltet waren. Bei Karten mit der Abbildung eines Babys, zeigten die Spieler die geringste Risikobereitschaft.

    Warum schafft man eine gesonderte Kategorie für einen Kontext, der nebensächlich ist? Wenn er doch nebensächlich ist, ist er auch nicht wichtig, oder? Dem ist nicht so. Man mag es kaum glauben, aber selbst nebensächlicher Kontext hat Einfluss auf die Bedeutung, die wir den Dingen geben und damit auf unser Verhalten, nur sind wir uns der kontextuellen Beeinflussung nicht bewusst. So hat zum Beispiel bei Wahlen auch das Wahllokal, in dem die Menschen ihre Stimme abgeben, Einfluss auf ihr Abstimmungsverhalten, ohne dass sie sich dessen bewusst sind (Berger, Meredith u. Wheeler, 2008). Oder die Rückseite von Spielkarten hat Einfluss auf die Risikobereitschaft beim Glücksspiel, obwohl wir die Rückseiten der Karten üblicherweise kaum beachten (siehe Abbildung 6).

    Boicho Kokinov, ein bulgarischer Professor der Psychologie, der solche Effekte untersucht hat, zeigte, dass selbst kleine Veränderungen in scheinbar irrelevanten Kontextelementen Einfluss auf verschiedene kognitive Prozesse haben (Distant Context Effect – DICE, vgl. Kokinov u. Raeva, 2004). Kokinov demonstrierte, dass der kontextuelle Effekt von Nebensächlichem eine Rolle spielt beim Lösen von Problemen, wie zum Beispiel bei der Einschätzung des Lebensalters von Personen oder der Bewertung von Verkaufspreisen für Apartments. Im letzteren Fall scheint die Farbe, in der der Verkaufspreis ausgeschrieben wird, einen Einfluss darauf zu haben, ob der Verkaufspreis eher als teuer empfunden wird oder als preiswert. Vertrauen Sie darum niemals zu sehr auf Ihren kritischen Konsumentenblick, wenn Sie sich wieder einmal zwischen preiswert oder teuer entscheiden sollen. Sie könnten durch einige Nebensächlichkeiten beeinflusst werden, derer Sie sich gar nicht bewusst sind. In der Werbung werden scheinbar nebensächliche Kontextelemente sehr absichtsvoll eingesetzt.

    Resümee

    Die unendliche Ansammlung von Elementen, die wir »Kontext« nennen, können wir folglich unterteilen in:

    –unmittelbaren nahen Kontext und erweiterten Kontext,

    –internen und externen Kontext,

    –wesentlichen und nebensächlichen Kontext.

    Mit dem, was wir bis jetzt wissen, können wir versuchen, Kontext so zu umschreiben, dass wir mit dieser Definition für den Rest des Buchs arbeiten können. Eine alles umschließende Definition wird es sicherlich nicht sein.

    Eine wissenschaftlich-technische Definition für Psychologen und Studenten könnte wie folgt lauten:

    Kontext ist die Gesamtheit von Elementen innerhalb der wahrnehmenden Person (affektiv und kognitiv, sowohl im Langzeit- als auch im Arbeitsgedächtnis) und von Elementen der räumlichen und zeitlichen Umgebung eines Stimulus (sowohl nah als auch fern), welche die Wahrnehmung dieses Stimulus und die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird, beeinflussen. Dieser Einfluss kann direkt, explizit und bewusst verlaufen, aber auch (und das überwiegend) indirekt, implizit und vorbewusst. Kontextsensitivität ist das Vermögen innerhalb der Gesamtheit der Elemente, kontextuell relevante Informationen zu erkennen und kontextuell Unwichtiges zu vernachlässigen.

    Etwas leichter verdaulich ist vielleicht folgende Umschreibung:

    Kontext umfasst Elemente in unserer Umgebung, sowohl in der Außenwelt als auch in der Innenwelt (in unserem Gehirn), die unsere Art und Weise, wie wir Dingen Bedeutung zuschreiben, beeinflussen. Die Fähigkeit, jene Elemente des Kontexts, die für eine Bedeutung nötig und nützlich sind, auszuwählen und zu verwerten, nennen wir Kontextsensitivität. Das neurotypische menschliche Gehirn ist von Natur aus kontextsensitiv.

    Falls Sie übrigens den Suchbegriff »Kontext« googeln, dann werden Sie entdecken, dass der Begriff »Kontext« auch als Markenname oder Bezeichnung für einen Kongress dient. Falls Sie keine Lust haben zu googeln, steht alles in der Fußnote.

    __________________

    1Burke (2002) spricht von einem Mikrokontext und einem Makrokontext.

    2Das fanden Wissenschaftler des Center for Cognitive Brain Imaging an der Carnegie Mellon Universität heraus, oder präziser: die Forschungsgruppe um den Psychologen Marcel Just, der bedeutende Beiträge zur Hirnforschung bei Menschen mit Autismus lieferte.

    3In der Literatur gibt es noch andere Bezeichnungen. So bezeichneten Phillips und Silverstein (2003) den externen Kontext als »stimulus context« und den internen Kontext als »task context«.

    4In der originalen Anweisung wurde nicht eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der konkreten Ausprägung erfragt, sondern deren Häufigkeit. Doch dieser Unterschied ist für unsere Darstellung nicht so wichtig.

    5Darum sehen einige Autoren (z. B. Bradley u. Dunlop, 2005) Kontext nicht als Produkt, sondern eher als Prozess.

    6Beispielsweise machte Smith (1988) einen Unterschied zwischen bedeutsamem und zufälligem Kontext. Baddeley und Woodhead (1982) trennten zwischen »unabhängigem Kontext«, jenem Kontext, der keinen Einfluss auf das Zuschreiben von Bedeutung ausübt, und dem »interaktiven Kontext«, der Einfluss darauf nimmt.

    7Wissenschaftler, die sich mit menschlichem Denken beschäftigen, wären keine Wissenschaftler, wenn sie nicht versuchen würden, weitere Unterteilungen zu schaffen und Verbindungen zwischen diesen Unterteilungen herzustellen. So haben Mitarbeiter der Vanderbilt Universität in Nashville (Park, Lee, Folley u. Kim, 2003) folgende Aufschlüsselung hergestellt:

    a)Perzeptueller Kontext (mehr oder weniger identisch mit dem, was ich als externen Kontext bezeichnet habe):

    1. Der Kontext innerhalb des sogenannten »target stimulus«. Beispiel: Wenn es darum geht, vom Gegenstand eines Kontexts Farbe, Form, Größe, Ort etc. beurteilen zu müssen.

    2. Der räumliche Kontext rund um den »target stimulus« oder genauer gesagt, sein Hintergrund und alle Dinge in der Nähe des »target stimulus«.

    3. Der zeitliche Kontext: Alle Reize vor und nach dem »target stimulus«.

    b)Kognitiver Kontext (mehr oder weniger identisch mit dem, was ich den internen Kontext genannt habe):

    1. Das Wissen in unserem Langzeitgedächtnis (wir könnten es etwa mit unserem internen Kontext vergleichen).

    2. Das Wissen in unserem Arbeitsgedächtnis, aufgabenrelevante Informationen (wir könnten es den unmittelbaren internen Kontext nennen).

    c)Sozio-affektiver Kontext: Die aktuelle emotionale Befindlichkeit.

    8ConTEXT ist der Name eines Computerprogramms für Software-Entwickler und ebenfalls der Name einer jährlich stattfindenden Messe in Columbus (USA) für Liebhaber von Science-Fiction-, Fantasy- und Horrorliteratur.

    2. Kapitel:

    Kontext im Gehirn

    Warum ist der Hinterkopf zum Sehen genauso wichtig wie unsere Augen?

    Warum ist Sehen anders als Fotografieren?

    Warum denken wir nicht, dass Menschen schrumpfen, wenn sie

    sich von uns fortbewegen? Warum behalten Dinge ihre Farbe,

    auch wenn sie im Schatten anders aussehen als im Licht?

    Was sehen wir zuerst? Die Bäume oder den Wald?

    Was sind die charakteristischen Unterschiede in der Informationsverarbeitung

    bei Menschen mit Autismus?

    Warum ist Walter in den Büchern »Wo ist Walter?« so schwer zu finden?

    Und warum entdecken wir auf Suchbildern die Veränderungen nicht sofort?

    Warum übersehen wir einen Gorilla, der plötzlich

    in einer Gruppe Basketballer auftaucht?

    Was hat das menschliche Gehirn mit einem großen Sinfonieorchester

    gemeinsam? Und was geschieht, wenn der Dirigent fehlt?

    Wo im Gehirn sitzt eigentlich die Kontextsensitivität?

    Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung finden primär in unserem Gehirn statt und, wie wir gesehen haben, das neurotypische Gehirn ist von Natur aus kontextsensitiv. Wo aber sitzt die Kontextsensitivität in unserem Gehirn? Wie beeinflussen kontextuelle Aspekte unsere Wahrnehmung? Wie nutzt unser Gehirn Kontext, und wann tut es das? Um diese Fragen dreht sich dieses Kapitel.

    Wir betrachten vor allem das Sehen, unsere visuelle Wahrnehmung. Der Einfluss von Kontext auf die visuelle Wahrnehmung wurde bereits sehr ausführlich untersucht. Ausführungen über die Rolle des Kontexts beim Sehen sind in einem Buch auch besser aufgehoben, denn ein Buch verarbeitet man schließlich über das Sehen. Beispiele über das Hören würden zusätzlich zum Buch eine CD erfordern und ein Buch mit Duftmustern wäre ziemlich kompliziert, sowohl bei der Herstellung als auch beim Lesen, besonders in einem überfüllten Zugabteil. Obwohl es in diesem Kapitel ausschließlich um visuelle Wahrnehmung geht, hat Kontext natürlich aber auch Einfluss auf andere Formen der Wahrnehmung, wie das Hören, Fühlen, Tasten oder Riechen.

    Wahrnehmung: Zwei Missverständnisse

    Die Rolle des Kontexts in der menschlichen Wahrnehmung wird deutlich, wenn wir zwei Missverständnisse über die Wahrnehmung zurechtrücken:

    1.Wahrnehmen ist ein Prozess, bei dem wir Eindrücke aus der Umgebung aufnehmen und in unserem Gehirn verarbeiten. Mit anderen Worten: Sehen ist wie Fotografieren oder Filmen.

    2.Während wir wahrnehmen, setzen wir viele Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen. Wenn wir viele Bäume sehen, schließen wir daraus, dass es sich wohl um einen Wald handelt.

    Die beiden Fehlannahmen stehen nicht getrennt voneinander, es sind zwei Aspekte derselben Sichtweise über Wahrnehmung, die man wie folgt zusammenfassen kann: Sehen ist das Verarbeiten vieler visueller Reize, die über die Augen in unser Gehirn gelangen und dort als Ganzes eine Bedeutung erhalten.

    Wir illustrieren das an einem Beispiel, siehe Abbildung 7.

    Abbildung 7: Visuelle Wahrnehmung: Auto

    Was sehen Sie? »Das ist leicht«, denken Sie, »ein Auto natürlich!«¹⁰ Wie hat das Ihr Gehirn gemacht, dass Sie an ein Auto denken? Wir fassen einmal den Prozess der visuellen Wahrnehmung zusammen.¹¹

    Über die Pupillen gelangen Bilder auf die Netzhaut (Retina). Die Netzhaut, eine Art Projektionsschirm, enthält Rezeptorzellen (Stäbchen), die Unterschiede zwischen hell und dunkel wahrnehmen und Zapfen, die Farbunterschiede erfassen. Obwohl die Netzhaut im Auge sitzt, ist sie eigentlich Teil des Gehirns. Von der Netzhaut geht die Information über den Sehnerv zu einem Teil des Gehirns, der Thalamus¹² heißt. Von dort wird sie zum Hinterkopf geleitet, zum visuellen Cortex. Es klingt komisch, aber Sie sehen hauptsächlich mit dem Hinterkopf.

    Die visuelle Hirnrinde besteht aus unterschiedlichen Schichten, die man üblicherweise mit Abkürzungen versehen hat, V steht für visuell: V1, V2, V3, V4, V5. Die Ziffern zeigen es bereits, die verschiedenen Bereiche haben eine hierarchische Struktur. Informationen, die vom Thalamus kommen, werden zunächst im primären, visuellen Cortex verarbeitet, dem V1. Ein Areal, das eine Nervenzelle (Neuron) in V1 wahrnehmen kann, das sogenannte rezeptive Feld der Zelle, ist relativ klein. In diesem Feld feuern die Zellen aber nur, wenn Licht auf dieses kleine Areal trifft. Sie reagieren auf kleine Teilbereiche der Umgebung, wie Farbe, Richtung oder Bewegung.

    Vom visuellen Cortex (V1) geht die Information weiter zu den anderen Arealen (V2, V3 etc.). Diese Hirnareale haben eine hierarchische Struktur. Während die Nervenzellen in V1 nur ein relativ kleines rezeptives Feld abdecken, verfügen Neuronen in den höheren Bereichen (V2, V3 etc.) über ein größeres Wahrnehmungsfeld. Nervenzellen in V1 werden aktiv bei einfachen Strukturen wie Farbe, Richtung oder Bewegung. Neuronen in V4 feuern dagegen zum Beispiel, wenn sie Gegenstände als »Ganzes« sehen.

    Von V1 führen zwei Hauptbahnen zu den anderen Bereichen. Da gibt es die hintere (dorsale) Bahn, die sogenannte »Wo-Bahn«. Informationen, die über diese Bahn laufen, helfen uns Bewegung und Positionen wahrzunehmen, sie beantwortet Fragen nach dem Wo. Diese Wahrnehmungsbahn verläuft nahe dem parietalen Bereich des Gehirns (legen Sie doch einmal Ihre Hand auf den Hinterkopf und fahren sie hoch, bis kurz vor den Scheitelpunkt, darunter liegt der parietale Bereich).

    Die zweite Nervenbahn, die vordere (ventrale), ist für das Erkennen von Gegenständen und anderen Dingen zuständig. Sie unterstützt uns bei der Beantwortung der Frage nach dem Was und führt zum Bereich des Temporallappens, der sich an jeder Seite Ihres Kopfes befindet (natürlich unter der Schädeldecke). Dieser temporale Verarbeitungsstrom sorgt dafür, dass Sie ein Auto erkennen und mit dem parietalen Pfad sehen Sie, dass es auf Sie zukommt. Wenn eine Information die höheren Bereiche des Gehirns erreicht, wird sie mit dem verglichen, was in Ihrem Gehirn bereits an Information gespeichert ist und Sie kommen zu der Erkenntnis: »Aha, ein Auto!«

    Wahrscheinlich sind Sie nun verwirrt von all diesen Erklärungen. Zugegeben, es ist etwas verzwickt, aber was haben Sie von einem solchen Organ erwartet? Es ist das Resultat von hunderttausenden Jahren Evolution. Abbildung 8 versucht das etwas zu verdeutlichen.

    Abbildung 8: Stadien der visuellen Wahrnehmung

    Zusammengefasst: Wenn Sie etwas sehen, werden viele kleine Informationsteilchen (Farbe, Richtung, Bewegung, Kontur etc.) in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns zu stets größeren Teilen verarbeitet, bis Sie schließlich das Ganze erfassen. Das alles wird dann mit jenem Wissen abgeglichen, das bereits in Ihrem Gehirn gespeichert ist, und dadurch gelingt es Ihnen, dem Gesehenen eine Bedeutung zuzuordnen. Sie können »dem Etwas« einen Namen geben und damit umgehen.

    Das Gehirn: Mehr Regisseur als Zuschauer

    Scheinbar ist Sehen ein Prozess, bei dem Informationen vom Gehirn einzeln empfangen und dann wie Puzzleteile zusammengesetzt werden. Aber das stimmt nicht ganz. Unser Gehirn ist während der Wahrnehmung sehr aktiv. Es empfängt nicht nur Informationen und verarbeitet sie, sondern steuert den Prozess der Verarbeitung. Beim Vergleich mit einem Film wäre unser Gehirn nicht nur der Zuschauer, sondern vor allem der Regisseur des Films.

    Die letzte Zeichnung verdeutlicht eigentlich nur die halbe Geschichte, nämlich den Prozess, den Wissenschaftler »Bottom-up« nennen. Das hat nichts mit einem Hinterteil zu tun. »Bottom« bedeutet im Englischen neben »Gesäß« auch »Boden«. Mit »Bottom-up« ist ein Prozess gemeint, der von unten nach oben verläuft, von einer niedrigen zu einer höheren Ebene der Verarbeitung. Auf die Wahrnehmung bezogen heißt das: Informationen, die über die Sinne eintreffen, werden zunächst in niedrigere Ebenen weitergeleitet, die auf die Verarbeitung einfacher Informationseinheiten spezialisiert sind. In den hierarchisch höheren Regionen werden sie dann der Reihe nach weiterverarbeitet. Bottom-up-Informationsverarbeitung verweist auf Prozesse, die von den Stimuli der Außenwelt gesteuert werden. Darum spricht man auch von stimulus-geleiteten Prozessen (Englisch auch

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