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Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion
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Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion
eBook736 Seiten8 Stunden

Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion

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Über dieses E-Book

Gab es für das russische Dorf am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Zukunft jenseits von Kollektivierung, Hunger und Gewalt? Anhand einer Gruppe einflussreicher Agrarexperten untersucht diese Studie das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Sie beleuchtet, wann und unter welchen Bedingungen es den Experten gelang, ihre Vision einer ländlichen Moderne zum Leitbild staat­licher Agrarpolitik zu machen, und warum sie letztlich scheiterten. Die Arbeit belegt die Heterogenität moderner Programmatik in Russland und trägt dazu bei, das Verhältnis von Expertise und Ideologie im 20. Jahrhundert zu verstehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum3. Sept. 2014
ISBN9783412218232
Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion

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    Buchvorschau

    Als das Dorf noch Zukunft war - Katja Bruisch

    1. „ … DASS DIE ZUKUNFT UNS GEHÖRT" – WISSENSCHAFT, ÖFFENTLICHKEIT UND POLITIK IM SPÄTEN ZARENREICH

    1.1 Die Entdeckung der Bauern

    1.1.1 Die blinden Flecken der Agrarwissenschaft

    Bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war das Russische Reich ein bäuerlich geprägtes Agrarland.¹ Verglichen mit den führenden europäischen Wirtschaftsnationen setzte der sektorale Wandel in Russland verspätet ein und vollzog sich zugleich deutlich langsamer. War der Anteil der Landwirtschaft am Volkseinkommen in den ersten drei Jahrzehnten der Industrialisierung im Vereinigten Königreich von 45% auf 32%, in Deutschland von 32% auf 23%, in Frankreich von 50% auf 45% und in den Niederlanden von 25% auf 20% gesunken, zeigte dieser Indikator in Russland trotz einer aktiven staatlichen Industrialisierungspolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum Veränderungen. 1883 wurden 57% und 1913 noch immer 51% des Nationaleinkommens in der Landwirtschaft generiert.² Die zeitgenössische Bevölkerungsstatistik reflektiert die Schlüsselfunktion der Landwirtschaft für die Wirtschaft des Zarenreichs. Nach der Volkszählung von 1897 stammten 85,1% der Bevölkerung des europäischen Russlands aus dem Stand der Bauern. 74,9% der Gesamtbevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig.³ In weiten Teilen des Russischen Reichs bestimmten patriarchal organisierte familiäre Haushaltswirtschaften das Bild der Landwirtschaft. Aufgrund ausgesprochen heterogener klimatischer und infrastruktureller Bedingungen waren der Marktanteil der Agrarproduktion, die Fruchtfolge und der technische Entwicklungsgrad der Landwirtschaft regional stark verschieden.⁴ Im späten 19. Jahrhundert trugen [<<31||32>>] der Ausbau des Eisenbahnnetzes, ein dynamisches Bevölkerungswachstum und die wachsende Bedeutung von Absatzmärkten für Agrarprodukte im In- und Ausland zu einer Vertiefung der regionalen Spezialisierung bei.⁵

    Obwohl Bauern den überwiegenden Anteil an der Bevölkerung ausmachten und Bauernwirtschaften die Landwirtschaft des Zarenreichs dominierten, war die bäuerliche Landwirtschaft als solche lange kein Gegenstand der russischen Agrarwissenschaft. Die Wurzeln der systematischen Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft lagen im ausgehenden 18. Jahrhundert, als adlige Gutsbesitzer (pomeščiki) angesichts der beginnenden Kommerzialisierung ein ökonomisches Interesse an ihren Gutswirtschaften (usad’by) entwickelten.⁶ Nach der Aufhebung der adligen Dienstpflicht im Jahre 1762 bildete die Aussicht, ihre Ländereien in kontinuierliche Einnahmequellen zu verwandeln, für viele von ihnen einen Anreiz zur Rationalisierung ihrer Güter. Die pomeščiki erprobten neue Methoden zur Verwaltung ihrer Anwesen, führten landwirtschaftliche Experimente durch und verfassten Traktate über praktische Fragen der Landwirtschaft.⁷ Das geistige Klima des aufgeklärten Absolutismus begünstigte diese Entwicklung. Nachdem die Merkantilisten der Landwirtschaft traditionell wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, verbreitete sich mit der Rezeption physiokratischer Ideen unter Katharina II. die Überzeugung, die Förderung der Landwirtschaft und landwirtschaftlich relevanter Wissensbestände könne zum Wohlstand des Landes beitragen.⁸ Auf Geheiß der Zarin wurde 1763 eine Klasse für Landwirtschaft an der Akademie der Wissenschaften eingerichtet. 1765 folgte die Gründung der Freien Ökonomischen Gesellschaft (Vol’noe ėkonomičeskoe obščestvo), die bald zu den wichtigsten Foren für den intellektuellen Austausch über die Landwirtschaft zählen sollte.⁹

    Die Genese der Agrarwissenschaft war Teil der Verwestlichung der gesellschaftlichen Eliten des Russischen Reichs. Wie in den Ländern Westeuropas, wo [<<32||33>>] vergleichbare Entwicklungen einige Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatten,¹⁰ entwickelte sich die Landwirtschaft seit dem späten 18. Jahrhundert von einer privaten Angelegenheit des einzelnen Gutsbesitzers zum Gegenstand des gelehrten Diskurses. Nach dem Vorbild westeuropäischer Gutsbesitzer und -verwalter verfassten pomeščiki Zeitschriftenartikel oder kleinere Broschüren, in denen sie Probleme des Pflanzenbaus und der Tierzucht erörterten. Einige von ihren richteten auf ihren usad’by Versuchswirtschaften ein und präsentierten diese als Musterbeispiele erfolgreicher Landwirtschaft.¹¹ Eine wachsende Zahl adeliger Gutsherren engagierte sich darüber hinaus in landwirtschaftlichen Gesellschaften. Nachdem die Einrichtung der ersten reichsweit agierenden Assoziationen auf Vertreter der Monarchie zurückgegangen oder zumindest intensiv gefördert worden war, entwickelten sich die landwirtschaftlichen Gesellschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unabhängig von der Patronage durch die kaiserliche Familie. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging die Gründung von Gesellschaften, deren Tätigkeit sich in der Regel auf das Gebiet eines Gouvernements erstreckte, häufig auf die Initiative von Angehörigen des gutsbesitzenden Adels zurück. Die Gesellschaften engagierten sich für die Weiterentwicklung und Verbreitung agrarwissenschaftlicher Erkenntnisse und bildeten darüber hinaus ein neues Forum lokaler Geselligkeit. Die Sorge um die Landwirtschaft wurde damit zu einem Bestandteil adeliger Kultur.¹²

    Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft folgte Vorstellungen von Rationalität und Wirtschaftlichkeit, die von den Pionieren der Agrarwissenschaft in Westeuropa entwickelt worden waren. Die russische Agrarökonomie war zunächst eine rein betriebswirtschaftliche Disziplin, die darauf zielte, die Rechnungsführung der Adelsgüter zu professionalisieren. Mit der Rezeption der Arbeiten Albrecht Thaers, einer der Urväter der Agrarwissenschaft,¹³ setzte sich im Zarenreich die Vorstellung durch, landwirtschaftlicher Erfolg bemesse sich an der Höhe des Gewinns, den ein Gut erwirtschaftete. So orientierten sich die ersten agrarökonomischen Kurse, die der Landwirtschaftsprofessor B. A. Cellinskij seit 1842 unter dem Titel „Hauswirtschaft" (Domovoustrojstvo) und später unter dem Titel „Wirtschaftsorganisation" (Organizacija chozjajstva) am Landwirtschaftlichen Institut in Gory (Gorygoreckij [<<33||34>>] Sel’skochozjajstvennyj Institut) hielt, an den Interessen von pomeščiki und zukünftigen Verwaltern adliger Güter. Auch die „Grundlagen der Agrarökonomie" (Osnovy sel’skochozjajstvennoj ėkonomii) des Moskauer Professors A. P. Ljudogovskij sowie das 1875 unter seiner Beteiligung herausgegebene „Handbuch für russische Landwirte" (Nastol’naja kniga dlja russkich sel’skich chozjajev) richteten sich an eine Leserschaft aus adligen Gutsbesitzern.¹⁴ Russische Agrarwissenschaftler übernahmen zugleich die in Westeuropa übliche Einordnung landwirtschaftlichen Wissens in den Bereich der Naturwissenschaften.¹⁵ Im Verlauf des 19. Jahrhunderts rückte die Generierung landwirtschaftsbezogener Wissensbestände auf der Grundlage von theoretischen Erkenntnissen aus der Biologie, Chemie oder Physik an die Stelle des Beobachtens und Beschreibens landwirtschaftlicher Prozesse, wie es die Experimentalökonomen des 18. Jahrhunderts praktiziert hatten. Landwirtschaftlicher Fortschritt, so die Implikation des naturwissenschaftlichen Paradigmas, wurde erreicht, wenn ein Gutsherr bei seinen Anbauentscheidungen auf die Einsichten der Naturwissenschaften zurückgriff.¹⁶

    Die Etablierung der Agrarwissenschaft war symptomatisch für die veränderte Wahrnehmung der Landwirtschaft im Diskurs der russischen Eliten. Hatte sie lange als ein undynamisches und wenig lohnenswertes Tätigkeitsfeld gegolten, sah man in ihr nun einen Wirtschaftszweig, der sich durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse in ein einträgliches Gewerbe verwandeln ließ. Mit dem in der zeitgenössischen ökonomischen Literatur postulierten Anspruch, Adelsgüter sollten einen betriebswirtschaftlichen Überschuss abwerfen, wurde das neuzeitliche Entwicklungsdenken Bestandteil des wissenschaftlichen Agrardiskurses. Der zeitgleich einsetzende Aufstieg der Naturwissenschaften förderte zudem die Überzeugung, bei der Agrarproduktion handele es sich um eine planbare ökonomische Größe. Kenntnisse über die Zucht von Pflanzen oder Tieren, über den Boden, das Klima oder das Wetter galten gleichsam als Versicherung gegen die Launen der Natur. Diese Entwicklungen spiegelten den optimistischen Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen und Vernunft, der mit der Rezeption aufgeklärten Gedankenguts im 18. Jahrhundert im Zarenreich an Einfluss gewann. Die Landwirtschaft galt nun zunehmend als ein Gebiet bewusster menschlicher Intervention. „Wissenschaftliche Landwirtschaft", brachte der Moskauer Professor für Mineralogie, Physik [<<34||35>>] und Landwirtschaft M. G. Pavlov im Jahr 1838 dieses Denken auf den Punkt, sei „kalkulierter Erfolg" (rassčitannyj uspech).¹⁷

    Mit der Erhebung von Wissenschaft und betriebswirtschaftlicher Rationalität zu Maximen einer zeitgemäßen Landwirtschaft wurde die bäuerliche Landwirtschaft zu einem blinden Fleck der Agrarwissenschaft. Der bäuerliche Haushalt, bis in das 20. Jahrhundert die wichtigste soziale und wirtschaftliche Einheit des ländlichen Russlands, hatte nur wenig mit dem Bild von der „richtigen" Landwirtschaft gemein, das die zeitgenössische Agrarwissenschaft entwarf. Anstelle des wissenschaftlichen Wissens, das die Vertreter der neuen Disziplin zur conditio sine qua non erfolgreicher Landwirtschaft erhoben, beruhten die Anbauentscheidungen der Bauern vor allem auf mündlich überliefertem Erfahrungswissen. Darüber hinaus waren die Konsumbedürfnisse der Haushaltsangehörigen für das ökonomische Kalkül der Bauern viel entscheidender als ein monetär messbarer betriebswirtschaftlicher Gewinn, der im Zentrum der landwirtschaftlichen Betriebslehre stand.¹⁸ Russische Agrarwissenschaftler richteten ihren Fokus daher auf die idealiter „rationellen" Wirtschaften der pomeščiki. Während dem wissenschaftlich interessierten Gutsbesitzer im zeitgenössischen Diskurs die Rolle eines Initiators von landwirtschaftlicher Entwicklung und agrartechnischem Fortschritt zugeschrieben wurde, traten die Bauern lediglich als Schützlinge ihrer wohlmeinenden Gutsherren in Erscheinung. Die Bauern, so eine geläufige Vorstellung, konnten die Ratschläge der Gutsbesitzer zwar umsetzen. Einen originären Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft erwartete man von ihnen jedoch nicht.¹⁹ Als Studienobjekte der Agrarwissenschaft, deren Vertreter den Zielen des Wachstums und des Gewinns anhingen, schieden die Bauernwirtschaften folglich aus.

    Dass die Vertreter der russischen Agrarwissenschaft die adlige Gutswirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten, resultierte nicht allein aus der Übernahme westeuropäischer Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit und Rationalität. Die neue Disziplin war zugleich ein Spiegel der sozialen und kulturellen Hierarchien des Zarenreichs. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Bauernwirtschaften durch eine Vielzahl von monetären und nichtmonetären Verpflichtungen ökonomisch mit den Gütern des Adels, des Staats oder der Kirche, denen sie angehörten, verflochten. Eine „bäuerliche" Landwirtschaft war daher analytisch kaum fassbar.²⁰ Hinzu kam, dass die Protagonisten des gelehrten Agrardiskurses in der Regel selbst von der bestehenden Organisation der ländlichen Herrschaft profitierten. Zwar ergriffen Vertreter des Landadels seit dem frühen 19. Jahrhundert vermehrt [<<35||36>>] Maßnahmen zur landwirtschaftlichen Schulung der Bauern. Manche von ihnen plädierten in den 1850er Jahren sogar für die Aufhebung der Leibeigenschaft. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sie die Bauern als unabhängige Landwirte ansahen. Vielmehr glaubten sie, diese benötigten den Schutz, die Fürsorge und die Anleitung durch den Gutsadel, um einen Beitrag zum Wohlstand der lokalen Gesellschaft und des Landes insgesamt zu leisten.²¹ In den Debatten über die rationelle Landwirtschaft entwickelten Wissenschaftler und Gutsadlige folglich auch Argumente für die Stabilisierung der lokalen Herrschaftsverhältnisse.

    1.1.2 Die bäuerliche Landwirtschaft als heuristisches Konzept

    Die Idee, es gäbe eine bäuerliche Form der Landwirtschaft, entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie in anderen Teilen Europas war die Auseinandersetzung mit der ländlichen Bevölkerung auch im Zarenreich Teil der Suche nach einer nationalen Identität. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten Dichter und Literaten das Dorf als Idylle beschrieben, in der Sitten und Moral nicht durch die Lasterhaftigkeit des Stadtlebens verdorben und nationales Brauchtum, Mythen und Lieder tradiert wurden.²² Dieser Topos spiegelte sich im Begriffspaar obščestvo und narod. Während sich obščestvo in der Bedeutung „höhere Gesellschaft zunächst auf einen kleinen Kreis politischer Würdenträger und Gelehrter bezog und im 19. Jahrhundert zunehmend der Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Gruppen diente, die sich als Vertreter einer „höheren, zumeist westlich geprägten Kultur verstanden, verkörperte narod die Idee der von äußeren Einflüssen unberührten Welt des Dorfes. Dem deutschen Volk und dem französischen peuple entsprechend bezog sich narod zugleich auf das Volk im Sinne der Nation. National- und Bauerndiskurs waren also auf das Engste miteinander verbunden.²³ Im Zuge der Debatte über die Aufhebung der Leibeigenschaft während der 1850er Jahre trat dieser Zusammenhang offen zutage. Die Diskussionen über die konkrete Ausgestaltung der Reform spiegelten nicht allein den Wunsch wider, einer Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung durch die Schaffung von Institutionen vorzubeugen, die Bauern weiterhin an das Dorf banden. Vielmehr beschworen die involvierten Beamten ein Nationskonzept, in [<<36||37>>] dem Bauern und Boden untrennbar miteinander verbunden waren. Mit der Reformgesetzgebung wurde diese Vorstellung dann zu einer gesellschaftlichen Tatsache. Die Stärkung der bäuerlichen Kommunen und der Ausbau einer von der staatlichen Rechtsprechung isolierten ländlichen Gerichtsbarkeit machten die Bauern als eine vermeintlich homogene Bevölkerungsgruppe sicht- und unterscheidbar.²⁴

    Angehörige der etablierten Schichten und Vertreter der intelligencija wurden im Zuge dieser Entwicklungen von einem romantischen Bauernkult erfasst. Historiker, Juristen und Ethnographen erkoren die ländliche Bevölkerung zu ihrem Studienobjekt. Literaten und Künstler machten sie zum bevorzugten Gegenstand ihres Schaffens.²⁵ Zugleich wurden die Bauern zur Projektionsfläche für Gesellschafts- und Nationsentwürfe der unterschiedlichsten Art. Anhänger der sozialrevolutionären Bewegung (narodničestvo), die in der bäuerlichen Dorfgemeinde eine ursozialistische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmachten, glaubten, sie könnten die ländliche Bevölkerung für einen Aufstand gegen die Autokratie gewinnen.²⁶ Vertreter konservativer Gesellschaftsentwürfe sahen in den Dorfbewohnern dagegen einen Faktor gesellschaftlicher Stabilität. Zarische Beamte rückten die „russischen Bauern" in das Zentrum ihrer politischen Rhetorik und stilisierten sie zum Fundament von Autokratie und Orthodoxie.²⁷ Ihren ideologischen und politischen Differenzen zum Trotz stimmten die Eliten des Reichs in einem wichtigen Punkt überein. Sie konstruierten die Bauern als ihr kulturelles Gegenüber und entwarfen sie als eine spezifische gesellschaftliche Gruppe, von deren Wesensart wiederum das weitere Schicksal Russlands abhing.²⁸

    Die Entdeckung der Bauern löste eine paradigmatische Wende im Agrardiskurs des Zarenreichs aus. Mit der Etablierung der Bauern als sozialer Kategorie ließen sich nicht nur die Rechtsnormen, Sitten und Bräuche der Dorfbevölkerung von jenen anderer Bevölkerungsgruppen unterscheiden. In den Jahrzehnten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft setzte sich auch die Auffassung durch, die Bauern betrieben eine spezifische Form der Landwirtschaft. Die Stärkung der Landumteilungsgemeinde (obščina) durch die Reformen Alexanders II. trug entscheidend zur Durchsetzung dieser Vorstellung bei. Aus Sicht der Zeitgenossen lebten die Bauern in der von äußeren Einflüssen weitgehend unberührten Welt der Dorfgemeinde, die nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben, sondern auch die landwirtschaftliche Tätigkeit der Bauern regulierte. So unterschied die Erntestatistik des zarischen Innenministeriums konsequent zwischen Umteilungsland und Ländereien, die sich [<<37||38>>] nicht in kommunalem Besitz befanden. Obwohl Angehörige des Bauernstands vielfach auch Böden bewirtschafteten, die keiner Umteilungsgemeinde gehörten, setzte die Statistik „kommunale" (nadel’nye) und „bäuerliche" (krest‘janskie) Ländereien gleich.²⁹ Für die Vertreter des narodničestvo war die Umteilungsgemeinde ebenfalls die entscheidende Kategorie zur Beschreibung der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie glaubten, dass das Zarenreich einer von den Ländern Westeuropas abweichenden historischen Entwicklung folgte: Dank der egalitären und gemeinwirtschaftlichen Tradition der obščina werde Russland die zahlreichen Probleme, die der Kapitalismus in den Staaten Westeuropas mit sich brachte, vermeiden und direkt zum Sozialismus übergehen können. Die Dorfgemeinde wurde somit zum Prototyp einer zukünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.³⁰

    Im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte sich die bäuerliche Landwirtschaft als heuristische Kategorie. Unter den Agrarwissenschaftlern, Ökonomen und Statistikern, die die Generierung und Systematisierung von Wissen über die bäuerliche Ökonomie des Dorfes vorantrieben, fand das narodničestvo allgemeinen Zuspruch.³¹ Das zunehmende wissenschaftliche Interesse an der bäuerlichen Landwirtschaft führte daher zur Tradierung und Verstetigung zentraler Topoi des populistischen Diskurses. Es war jedoch weniger das idyllische Bild des bäuerlichen Sozialismus als die ideologische Neuausrichtung der Bewegung, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der bäuerlichen Wirtschaft Vorschub leistete. Nach dem „Gang ins Volk zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine von der Masse der Bauern getragene Erhebung gegen die Autokratie. Während sich nun ein Teil der Bewegung in den Untergrund zurückzog, ihre Agitationstätigkeit auf die Arbeiterschaft richtete und sich auf den politischen Terror verlegte,³² artikulierten die Vertreter des „legalen narodničestvo den Wunsch nach einer Korrektur des idealisierten Bildes von der ländlichen Bevölkerung. Anstelle abstrakter philosophischer Traktate sollten Fakten Auskunft über die Lebenssituation und Interessen der Bauern geben. Hinter diesem Anliegen stand eine programmatische Wende. Hatte man zunächst an eine von sozialen und kulturellen Differenzen unabhängige geistige Verbindung zur ländlichen Bevölkerung geglaubt, waren die moderaten Nardoniki überzeugt, dass die Bauern erst mit der Anhebung ihres Lebensstandards und [<<38||39>>] einem entsprechenden kulturellen Bewusstsein die Verheißungen des Populismus verstehen würden. Die Vertreter dieser Auffassung entwickelten eine Mission, die nicht weniger idealistisch war als die Revolutionserwartungen in der Dekade zuvor: Durch „kleine Taten" (malye dela) wollten sie konkret zur Verbesserung der Lebenssituation auf dem Dorf beitragen, um die Bauern anschließend für die Durchsetzung einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu gewinnen.³³

    Dass sich tausende Anhänger des legalen narodničestvo im ausgehenden 19. Jahrhundert der Umsetzung dieses Anliegens widmeten, war eine unintendierte Folge der Reformen Alexanders II. Mit den 1864 eingerichteten Organen der ländlichen Selbstverwaltung (sing: zemstvo) hatte die zarische Regierung einen sozialen Raum geschaffen, in dem Vertreter der gebildeten Schichten und die Bauern einander regelmäßig begegneten. Die Zemstvos übernahmen die Einrichtung von Schulen, Bibliotheken oder Krankenstationen, stellten tierärztliche Versorgungsangebote bereit und kümmerten sich um den Ausbau der lokalen Infrastruktur. Da Spezialisten für die Übernahme solcher Tätigkeiten auf dem Land knapp waren, löste die Etablierung der lokalen Selbstverwaltung einen Strom städtischer intelligenty in die russische Provinz aus. Das Dorf, das vorher für die meisten von ihnen eine „terra incognita" gewesen war, wurde nun zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens.³⁴ Vertreter des legalen narodničestvo erkannten in den Zemstvos ein berufliches Tätigkeitsfeld zur Realisierung „kleiner Taten. An die Stelle von Feldarbeit in Bauernkleidung, die die Studenten im Sommer 1874 angezogen hatten, trat seit den 1880er Jahren die forschende, schulende und beratende Tätigkeit tausender auf das Land gereister Ärzte, Lehrer, Veterinäre und Bibliothekare. Diese stellte ihre Einbindung in die lokale Selbstverwaltung in den breiteren Kontext eines von den gebildeten Schichten des Landes eingeforderten gesamtgesellschaftlichen Wandels: Die Mitarbeiter der Zemstvos begriffen ihre Tätigkeit als Alternative zu einer Karriere im Staatsdienst. Zugleich sahen sie in ihr eine Möglichkeit, gesellschaftliche Kooperation jenseits der ständischen Hierarchien zu fördern.³⁵ Sich selbst bezeichneten sie als „Drittes Element (nach den Staatsbeamten in der Provinz und den gewählten und überwiegend adligen Zemstvo-Abgeordneten) und brachten auf diese Weise zum Ausdruck, dass sie ihre gesellschaftliche Identität nicht von ihrer Herkunft oder ihrem Besitz, sondern von ihrer beruflichen Tätigkeit herleiteten.³⁶

    [<<39||40>>] Mit den Zemstvos entstanden die institutionellen Rahmenbedingungen für die systematische Generierung von Wissen über die bäuerliche Landwirtschaft. Das Statut von 1864 verlieh den ländlichen Selbstverwaltungen das Recht zur Erhebung und selbstständigen Verwendung eigener Steuern. Als Grundlage für die Bemessung der Steuerlast von Kommunen und Haushalten sollten der Wert und das Einkommen des als besteuerbar deklarierten Eigentums (insbesondere Boden, Wälder und kommunaler Grundbesitz) dienen. Solche Daten gingen jedoch weder aus den unregelmäßig durchgeführten „Seelenrevisionen", die lediglich die kopfsteuer- und militärdienstpflichtigen Personen erfassten, noch aus der Landwirtschaftsstatistik der Zentralbehörden hervor. Die Eintreibung der Zemstvo-Steuern setzte daher die systematische Ermittlung der entsprechenden Angaben voraus. In den 1880er Jahren richteten zahlreiche Zemstvos eigene statische Abteilungen ein, die bis zum Sturz der Monarchie mehreren tausend Statistikern als Arbeitsort dienen sollten.³⁷ Die überwiegende Zahl der Zemstvo-Statistiker verstand diese Tätigkeit als Beitrag zum Programm der „kleinen Taten". Sie beschränkten ihre Erhebungen nicht auf die Erfassung und Bewertung des zu besteuernden Einkommens oder Besitzes. Nach dem Vorbild des landesweit bekannten Statistikers V. I. Orlov, der seit den 1870er Jahren an einem statistischen Porträt der ländlichen Bevölkerung im Gouvernement Moskau arbeitete,³⁸ ermittelten sie eine Vielzahl von zusätzlichen Parametern. Neben Details über die ökonomische Tätigkeit der Bauern, den Umfang des von ihnen bearbeiteten Bodens oder ihren Bestand an Vieh und Inventar enthielten die Fragebögen der Zemstvo-Statistiker mitunter sogar qualitative Indikatoren, wie etwa Angaben zum Bildungsniveau der Befragten oder zur medizinischen Versorgung der jeweiligen Region.³⁹

    In der Entwicklung der Zemstvo-Statistik zeigte sich die ideologische Krise des Populismus. In den 1870er Jahren hatten die Statistiker ihre Tätigkeit mit dem Anspruch aufgenommen, die ideologischen Prämissen des narodničestvo statistisch zu belegen. Sie wollten die Lebensfähigkeit der bäuerlichen Dorfgemeinschaft aufzeigen und der populistischen Vision einer gemeinschaftlichen Wirtschaftsordnung, die nicht den Logiken des kapitalistischen Konkurrenzkampfs unterlag, ein wissenschaftliches Fundament verleihen. Allerdings ließ sich der Mythos von der obščina als Prototyp einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mit den Daten der Zemstvo-Statistiker nicht bestätigen. Entgegen der Annahme, die Dorfgemeinde sei ein von den Bauern geschaffenes Instrument zur Herstellung von Egalität, stellte sich heraus, dass der Lebensstandard innerhalb einzelner Gemeinden mitunter alles [<<40||41>>] andere als homogen war. Während sich wohlhabendere Bauern vielfach als Geldverleiher betätigten, waren ärmere Bauern häufig gezwungen, ihre Kommunen zu verlassen, um sich jenseits des Dorfes ein Einkommen zu suchen. Zugleich legten die Ergebnisse der Befragungen nahe, dass die ländliche Bevölkerung die meisten ökonomischen Entscheidungen nicht auf der Ebene der Kommune, sondern in den unabhängig voneinander kalkulierenden Haushalten fällte.⁴⁰ Diese Ergebnisse veränderten das Bild von der bäuerlichen Landwirtschaft. Die Umteilungsgemeinde, bislang das prominenteste Konzept zur Beschreibung bäuerlicher Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge, besaß offensichtlich nur einen geringen heuristischen Wert. Allem Anschein nach mussten Untersuchungen über die ländliche Ökonomie bei der Bauernfamilie als wirtschaftlicher Einheit ansetzen: „In ihren ökonomischen Beziehungen, fasste der Statistiker und Ökonom A. V. Pešechonov diese Einsicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen, „[könne und müsse] die Bauernschaft nicht anders, denn als Gesamtheit einzelner, ein selbstständiges Leben führender Höfe oder Wirtschaften untersucht werden⁴¹.

    Mit der Überwindung des obščina-Paradigmas gewannen die haushaltsinternen Entscheidungen bäuerlicher Familien in der Analyse der Zemstvo-Statistiker an Gewicht. Der Voronežer Statistiker F. A. Ščerbina, der in den 1890er Jahren die so genannten Budgetstudien begründete, war einer der ersten, der die neue Sicht auf die bäuerliche Landwirtschaft in der Statistik etablierte. Anders als frühere Haushaltsstudien, die sich häufig auf Bestandsaufnahmen des bäuerlichen Besitzes an einem bestimmten Stichtag beschränkt hatten, erfassten Ščerbinas Erhebungen die monetären und nichtmonetären Einnahmen- und Ausgabenströme eines Bauernhaushalts. Basierend auf einem Katalog von mehrenen Tausend Fragen waren sie ein entscheidender Schritt bei der Entstehung einer ökonomischen Theorie der Bauernwirtschaft.⁴² Die Erhebungen, die A. V. Pešechonov seit 1896 in den Gouvernements Kaluga und Poltava durchführte, führten die Versuche zur Rekonzeptualisierung der ländlichen Ökonomie weiter fort. Zur Beschreibung bäuerlicher Budgets griff Pešechonov auf Methoden der Buchhaltung zurück und unterzog auch die nichtmonetären Posten eines Bauernhaushalts einer monetären Bewertung. Dabei machte er eine Beobachtung, die für die weitere Entwicklung des russischen Agrardiskurses richtungsweisend sein sollte: In bäuerlichen Familienwirtschaften, so Pešechonov, wurde anders kalkuliert als in den marktorientierten Wirtschaften der pomeščiki. Während sich Letztere an der betriebswirtschaftlichen Kategorie des Gewinns orientierten, bemaßen Bauern ihren Erfolg danach, ob ihre Erträge die Konsumbedürfnisse [<<41||42>>] ihrer Familie abdeckten.⁴³ Pešechonov legte damit den Grundstein für die analytische Unterscheidung zwischen einem „kapitalistischen und einem nichtkapitalistischen „bäuerlichen Segment in der Landwirtschaft des Zarenreichs.

    Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Akzente im wissenschaftlichen Agrardiskurs des Zarenreichs deutlich verschoben. Bäuerliche Agrarproduzenten waren nun immer häufiger Gegenstand einer systematischen Beschäftigung mit der Landwirtschaft. Dies ging wesentlich auf die Krise der narodničestvo und die Etablierung der Zemstvo-Statistik zurück. Indem die Statistiker zunächst die obščina und anschließend die einzelne Bauernwirtschaft zum Gegenstand ihrer Erhebungen machten, beendeten sie die frühere Indifferenz des wissenschaftlichen Agrardiskurses gegenüber den Bauern. Die Unterscheidung einer bäuerlichen und einer nichtbäuerlichen Landwirtschaft tradierte die Idee von der kulturellen Andersartigkeit der Bauern. Diese erhielt nun allerdings eine neue Nuance. Hatte der Verweis auf die Eigenheiten der bäuerlichen Kultur im Rahmen konservativer Gesellschaftsentwürfe dazu gedient, die gesellschaftlichen Hierachien des Landes zu legitimieren, folgte die analytische Unterscheidung von Bauern- und Gutswirtschaften im Diskurs von Agrarwissenschaftlern, Statistikern und Ökonomen dem Wunsch, der Fortschrittsidee des Westens ein alternatives Entwicklungsmodell entgegenzustellen, ohne dabei auf den Mythos der obščina festgelegt zu sein. Mit der konzeptionellen Trennung von bäuerlichen und nichtbäuerlichen Agrarproduzenten und der Etablierung des bäuerlichen Haushalts als einer eigenständigen analytischen Kategorie waren die entscheidenden Voraussetzungen für die Genese des Agrarismus im Sinne eines alternativen Modernisierungsdiskurses entstanden: Fortan war die bäuerliche Familienwirtschaft das Symbol einer alternativen Zukunft des Russischen Reichs.

    1.1.3 Agrarfrage und sozialer Wandel

    War die bäuerliche Landwirtschaft unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft als Teil der vermeintlich autarken Lebenswelt des Dorfes thematisiert worden, galt sie am Ende des 19. Jahrhunderts als ein Feld der staatlichen Intervention. Auf der Ebene des Zentralstaats hatte in den 1870er Jahren die systematische Sammlung von Informationen über die ländlichen Regionen begonnen. Führende Beamte dachten zugleich über Möglichkeiten zur Regulierung der bäuerlichen Ökonomie nach und erarbeiteten Maßnahmen zur Institutionalisierung der staatlichen Herrschaft auf dem Dorf.⁴⁴ Zu einem Politikum wurde die bäuerliche Landwirtschaft im Zusammenhang [<<42||43>>] mit der dürrebedingten Hungersnot, die das zentrale Schwarzerdegebiet und die Regionen an der unteren und mittleren Wolga in den Jahren 1891/92 erfasste. Die Katastrophe bereitete der romantischen Verklärung des Dorfes im Elitendiskurs ein Ende. Nachdem die Bauern über Jahrzehnte zu revolutionären Hoffnungsträgern, wahrhaften Christen oder treuen Patrioten stilisiert worden waren, überwog nun die allgemeine Bestürzung über die Hilfslosigkeit, mit der die Dorfbevölkerung den Ernteeinbußen gegenüberstand.⁴⁵ Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und politischer Orientierungen sahen die Förderung der Landwirtschaft nun als ein eigenes Politikfeld an. Die Überwindung der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft, die als vermeintliche Ursache allen Übels im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, erhielt politische Priorität. Zwar konnten sich Bürokraten, Experten und Intellektuelle bis zum Sturz der Monarchie nicht auf einen gemeinsamen Kurs verständigen. In ihrem Fernziel stimmten sie jedoch überein: Die vermeintliche Abgeschlossenheit der bäuerlichen Lebenswelt sollte aufgebrochen und die Landwirtschaft in einen profitablen Wirtschaftszweig verwandelt werden.

    Mit der Entstehung der „Agrarfrage", so der zeitgenössische Begriff für die angeblich chronische Krise der russischen Landwirtschaft, wurde die Rückständigkeit der Bauern im öffentlichen Diskurs zu einem einflussreichen Topos. Unter Vertretern staatlicher oder gesellschaftlicher Eliten war der Verweis auf die Kulturlosigkeit, den Traditionalismus und die unzeitgemäße landwirtschaftliche Praxis der Bauern ein Mittel der kulturellen Selbstvergewisserung.⁴⁶ Eine Broschüre des Agrarministeriums aus dem Jahr 1896 beklagte nicht nur die „asiatische Trägheit und Faulheit"⁴⁷ der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung, sondern attestierte dieser auch das Unvermögen, einfachste zivilisatorische Errungenschaften wertzuschätzen: Um den Schmutz und den Gestank, in dem er lebte, als Problem zu registrieren, müsste der mužik das Bedürfnis nach Komfort und Bequemlichkeit zunächst einmal entwickeln.⁴⁸ Nach Auffassung des Statistikers und Ökonomen N. P. Oganovskij benötigten die einzelnen Bauernwirtschaften einen „geradlinigen, durchdachten Organisationsplan; zu eigenen Erfindungen seien die Bauern schließlich „nicht in der Lage⁴⁹. Wie selbstverständlich es war, die Bauern mit vormodernen Formen der Landwirtschaft in Verbindung zu bringen, spiegelte [<<43||44>>] auch die Semantik des Agrardiskurses. So vermerkt der Eintrag „Landwirtschaft" (zemledelie) im Brokgauz-Efron von 1894, man nenne Landwirte, die eine größere Wirtschaft führten, üblicherweise sel’skie chozjajeva, kleinere Landwirte, „zum Beispiel Bauern", hingegen zemledel’cy.⁵⁰ Auffällig an dieser Definition ist, dass für die Besitzer größerer landwirtschaftlicher Produktionsstätten das aus dem Deutschen übertragene Wort „Landwirtschaft" (sel’skoe chozjajstvo) zu Grunde gelegt, für die Bezeichnung der bäuerlichen Landwirtschaft hingegen das ältere russische Wort zemledelie gebraucht wurde. Während die Besitzer größerer Güter das Land bewirtschafteten, schienen die Bauern ihre Böden offensichtlich nur zu bearbeiten.⁵¹ Das Bild, das hier über das ländliche Russland vermittelt wurde, war eindeutig: Während die Besitzer großer Ländereien ihre Güter rational führten, hatten sich die Bauern in einer irrationalen Form des Wirtschaftens eingerichtet, in der die menschliche Arbeitskraft den Mangel an ökonomischer Voraussicht und Bildung kompensierte.

    In den 1890er Jahren vollzog die zarische Regierung die Wende zu einer interventionistischen Agrarpolitik. Auf institutioneller Ebene zeigte sich dieser Kurswechsel im Zuge der Reformierung des 1837 eingerichteten Ministeriums für Staatsdomänen (Ministerstvo gosudarstvennych imuščestv) und seiner Umbenennung in Ministerium für Landwirtschaft und Staatsdomänen (Ministerstvo zemledelija i gosudarstvennych imuščestv) im Jahr 1894. Die Bezeichnung der Behörde reflektierte die umfassende Rolle, die die zarische Regierung fortan auf dem Gebiet der Agrarpolitik beanspruchte. Hatte sich der Zentralstaat bislang auf die Verwaltung der Krongüter und die Regulierung der rechtlichen Beziehungen zwischen Landbesitzern und Bauern beschränkt, wurde nun die Landwirtschaft selbst zu einem Gegenstand der Politik.⁵² Die politische Konjunktur der Agrarfrage wirkte sich auch auf die Tätigkeit anderer Zentralbehörden aus. Während vom Agrarministerium vor allem konkrete Maßnahmen zur Anhebung der Agrarproduktion ausgingen, arbeitete man im Innen- und im Finanzministerium an einer grundlegenden Neuordnung des ländlichen Russlands.⁵³ Die Reformer richteten ihr Augenmerk auf die Zerstückelung des landwirtschaftlichen Bodens und die Institution der Umteilungsgemeinde, die einer Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft im Wege zu stehen schien.⁵⁴ Ihre Überlegungen gipfelten schließlich in einer Reihe von Gesetzen zur Reformierung der russischen Agrarordnung, die als Stolypinsche Reform bekannt geworden sind. [<<44||45>>] Diese verband rechtliche Schritte zur Auflösung der obščina mit ökonomischen und infrastrukturellen Maßnahmen, die die allgemeinen Bedingungen der Agrarproduktion verbessern sollten. Hierzu zählten der Ausbau der Landvermessungs- und Flurbereinigungsorgane, die Ausweitung des ländlichen Kreditangebots und die Förderung der agronomischen Beratung.⁵⁵

    Wie in anderen Politikfeldern ging der Übergang zum Interventionismus auch in der Agrarpolitik mit der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Expertise einher. Auch wenn der Verwaltungsapparat des Russischen Reichs bis zum Sturz der Monarchie ständisch geprägt blieb, stieg die Zahl fachlich qualifizierter Mitarbeiter und Berater in der Zentral- und in der Lokalverwaltung seit dem späten 19. Jahrhundert deutlich an.⁵⁶ Das Agrarministerium bestätigte diesen Trend.⁵⁷ Mit dem Absolventen des Petersburger Landwirtschaftlichen Instituts A. S. Ermolov stand seit 1893 erstmals ein ausgewiesener Spezialist an der Spitze der staatlichen Landwirtschaftsadministration. Unter seiner Leitung entwickelte das Agrarministerium ein umfassendes Programm zur Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft, das die Verbreitung landwirtschaftlicher Bildung und den Ausbau landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Forschung vorsah.⁵⁸ Zugleich förderte Ermolov die Einbindung von Wissenschaftlern in die Agrarpolitik. Auf seine Initiative übernahmen der Bodenkundler und Agrochemiker P. A. Kostyčev und der Agronomieprofessor I. A. Stebut Schlüsselposten in der Behörde.⁵⁹ Dass diese Entwicklungen nicht allein von einer Neigung Ermolovs herrührten, sondern einem allgemeinen Wandel der Verwaltungskultur entsprachen, zeigte die Struktur des reformierten Ministeriums. Mit der Vergrößerung des Gelehrten Komitees (Učenyj komitet) und seiner Aufgliederung in verschiedene Sektionen wurde die Agrarwissenschaft zu einer festen Größe in der Politik des Zarenreichs. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verfügte das Gelehrte Komitee über zehn Abteilungen, die Forschungsarbeiten zu einzelnen Gebieten der Agrarwissenschaft in Auftrag gaben, wissenschaftliche Publikationen erstellten und eigene Forschungseinrichtungen unterhielten. Das Komitee fungierte somit als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik.⁶⁰

    Mit der zunehmenden Wertschätzung der Agrarwissenschaft und ihrer Nachbardisziplinen wurde der Ausbau der landwirtschaftlichen Bildung und Forschung zu einem wichtigen Feld der Agrarpolitik. Ermolov setzte auch hier ein wichtiges Signal. Da die Ideen des narodničestvo unter Studierenden im Allgemeinen und [<<45||46>>] unter angehenden Agrarwissenschaftlern im Besonderen auf breite Zustimmung stießen, hatte die Regierung die landwirtschaftlichen Hochschulen des Landes bislang mit Argwohn beobachtet. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. stand die größte landwirtschaftliche Hochschule des Zarenreichs, die Land- und Forstwirtschaftliche Petrovka-Akademie in Moskau, dauerhaft im Visier der Behörden. Konzipiert als Bildungsstätte für pomeščiki, hatte sich die Akademie bald nach ihrer Gründung im Jahr 1865 zu einer Anlaufstätte für Vertreter unterschiedlicher Stände entwickelt, die offen mit dem narodničestvo sympathisierten und der Hochschule den Ruf einer „revolutionären Brutstätte" einbrachten.⁶¹ Nachdem die zarische Regierung in den 1880er Jahren die polizeilichen Kompetenzen des Akademiedirektors sukzessive ausgeweitet hatte, ordnete sie im Jahr 1890 die Schließung der Akademie an. Kurz nach der Einstellung des Akademiebetriebs setzte Ermolov jedoch die Neueröffnung der Akademie als Moskauer Landwirtschaftliches Institut im Jahr 1894 durch, das sich binnen weniger Jahre zu einem Zentrum einer auf die bäuerliche Landwirtschaft fokussierten Agrarwissenschaft entwickelte.⁶² Nach dem Beginn der Stolypinschen Reformen trat das Agrarministerium verstärkt als Patron der Agrarwissenschaft in Erscheinung. Neben dem Ausbau und der Neugründung [<<46||47>>] landwirtschaftlicher Hochschulen förderte es die Vermittlung landwirtschaftlicher Kenntnisse in Grund- und Fachschulen. Nachdem die Behörde im Jahr 1889 eine Summe von 673 Tsd. Rubel in den Unterhalt landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen investiert hatte, belief sich dieser Betrag im Jahr 1909 auf 4,3 Mio. Rubel und im Jahr 1912 auf 6,8 Mio. Rubel. Das landwirtschaftliche Bildungsangebot nahm infolge dieser Politik deutlich zu. Hatte es in der Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich eine höhere landwirtschaftliche Bildungseinrichtung gegeben,⁶³ fielen am Vorabend des Ersten Weltkriegs 13 landwirtschaftliche Hochschulen und Akademien sowie 10 Fachhochschulen und 279 Primärschulen mit landwirtschaftlicher Ausrichtung in die Zuständigkeit des Agrarministeriums.⁶⁴

    Felder des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts (1899)

    Das Anwesen Petrovsko-Razumovskoe in Moskau, seit 1865 Hauptgebäude der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie (1913)

    Mit dem Ausbau des landwirtschaftlichen Bildungswesens drang der Zentralstaat in einen Bereich vor, in dem sich bereits zahlreiche nichtstaatliche Akteure betätigten. In den gelehrten Gesellschaften hatte die Generierung und Verbreitung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse eine lange Tradition. Während die überregionalen Gesellschaften meist unter der Schirmherrschaft der Monarchie standen, spielte in [<<47||48>>] den regionalen und lokalen Assoziationen, deren Bedeutung sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig erhöhte, das private Engagement wohlhabender Adliger oder lokaler Selbstverwaltungen eine zentrale Rolle.⁶⁵ Erkennbar war das Engagement nichtstaatlicher Akteure auch an der steigenden Zahl privater landwirtschaftlicher Bildungsstätten, die den Mangel an Studienplätzen in staatlichen Einrichtungen kompensierten.⁶⁶ Eine Vorbildfunktion besaßen die Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen, die der Agrarwissenschaftler I. A. Stebut im Rahmen der Gesellschaft zur Förderung der landwirtschaftlichen Bildung unter Frauen (Obščestvo sodejstvija ženskomu sel’skochozjajstvennomu obrazovaniju) ins Leben rief. Nachdem die jeweils vier Monate dauernden Kurse über mehrere Jahre in wechselnden Städten abgehalten worden waren, gelang 1904 die Einrichtung der ständigen Stebutschen Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen (Stebutskie ženskie sel’skochozjajstvennye kursy) in Sankt Petersburg. Die Hörerinnen absolvierten hier ein vierjähriges Studium, das sie als Agronomen abschlossen. Stebuts Beispiel machte Schule. Mit Hilfe der Fürstin S. K. Golicyna wurden im Jahr 1908 die Golicynschen Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen (Golicynskie ženskie sel’skochozjajstvennye kursy) in Moskau eröffnet.⁶⁷ In Saratov ging der Anstoß zur Förderung der landwirtschaftlichen Hochschulbildung von einer gemeinsamen Initiative der städtischen Duma, des Gouvernements-Zemstvos und der Saratover landwirtschaftlichen Gesellschaft aus. Nachdem ursprünglich die Eröffnung einer agronomischen Fakultät an der Saratover Hochschule erwogen worden war, zog man die Einrichtung eines eigenständigen landwirtschaftlichen Instituts nach dem Vorbild des kürzlich gegründeten Agrarinstituts in Voronež in Betracht. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nur teilweise durchsetzen. Zwar genehmigte der Zentralstaat die Einrichtung der Höheren Landwirtschaftlichen Kurse (Saratovskie Vysšie Sel’sko-chozjajstvennye kursy), die im Herbst 1913 feierlich eröffnet wurden. Diese erhielten jedoch weder den Status einer Hochschule noch eine nennenswerte finanzielle Unterstützung durch den Zentralstaat. Die Mittel zu ihrer Unterhaltung stammten überwiegend aus dem Budget des Saratover Zemstvos.⁶⁸

    Bei der Popularisierung landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Kenntnisse kam der Moskauer Städtischen Volkshochschule (Moskovskij Gorodskoj Narodnyj Universitet imeni A. L. Šanjavskogo) eine Führungsrolle zu. Die Idee zu [<<48||49>>] ihrer Gründung stammte von General A. L. Šanjavskij, der bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die Förderung frei zugänglicher Bildungseinrichtungen propagiert hatte und bei der Realisierung seines Plans Unterstützung durch den Petersburger Juristen und Soziologen M. M. Kovalevskij erhielt.⁶⁹ Die Šanjavskij-Universität zielte neben der Verbesserung der Allgemeinbildung auch auf die Vermittlung praktischer Fähigkeiten, die in der Lokalverwaltung zum Einsatz kommen sollten. Der Lehrplan der Volkshochschule, die Hörern unabhängig von ihrer nationalen oder ständischen Zugehörigkeit oder ihrem Geschlecht offenstand, umfasste natur-, rechts- und sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen.⁷⁰ Die Šanjavskij-Universität war ein Symbol für den in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verbreiteten Wunsch, die Rolle des Staates im öffentlichen Leben zu verringern. Unter den Hörern befanden sich Mitarbeiter von Selbstverwaltungsorganen, Vereinen, Gesellschaften und Genossenschaften. Die Kurse fanden häufig in den Abendstunden statt. Für Personen, die nicht in Moskau lebten, gab es mehrwöchige Schulungsprogramme, die diese im Rahmen von Dienstreisen wahrnahmen. Dass dieses Modell eine Leerstelle im Bildungssystem des Zarenreichs füllte, zeigte die rasante Zunahme der registrierten Studenten: Von 1106 im Studienjahr 1909/10 stieg ihre Zahl auf 6442 im Jahr 1914/15.⁷¹

    Die Verbreitung landwirtschaftsbezogener Bildungsangebote war symptomatisch für den zunehmenden Trend zur Wissenspopularisierung im ausgehenden Zarenreich.⁷² Da die traditionelle Kultur und der mangelnde landwirtschaftliche Sachverstand der Bauern gemeinhin als ausschlaggebende Ursachen für die Rückständigkeit der Landwirtschaft galten, entstanden mit der Konjunktur der Agrarfrage im öffentlichen Diskurs zahlreiche Initiativen zur Popularisierung der Agrarwissenschaft. Zwar machte die Leitung des Agrarministeriums in der Wissensvermittlung eine entscheidende Voraussetzung für die Modernisierung der Landwirtschaft aus. Zahlreiche Maßnahmen in diesem Bereich gingen jedoch auf nichtstaatliche Akteure zurück. Neben den landwirtschaftlichen Gesellschaften, die sich für die Verbreitung landwirtschaftlicher Populärliteratur oder die Ausrichtung von landwirtschaftsbezogenen Ausstellungen und Vorlesungen einsetzten,⁷³ entfalteten die Organe der ländlichen Selbstverwaltung eine rege Aktivität. Nachdem den Zemstvos im Jahr 1890 die Fürsorge für die lokale Landwirtschaft [<<49||50>>] angetragen worden war, stellten zahlreiche Gouvernements- und Bezirkszemstvos in den Jahren nach der Hungersnot eigene Agronomen ein. Mit dem Beginn der Stolypinschen Reformen nahm auch die Zahl der Zemstvo-Agronomen, die auf lokaler Ebene agierten, deutlich zu.⁷⁴ Der direkte Vergleich mit der Zahl staatlich angestellter Agronomen zeigt die Bedeutung der Zemstvos im Bereich der agronomischen Beratung. Während die Zahl der Zemstvo-Agronomen zwischen 1895 und 1913 von 134 auf 3266 Personen anstieg, erhöhte sich die Zahl der staatlich angestellten Agronomen im gleichen Zeitraum von etwas mehr als 10 auf 1365. Auch die finanziellen Mittel, die der Staat für den Ausbau der landwirtschaftlichen Beratung zur Verfügung stellte, blieben lange hinter den Ausgaben der Zemstvos zurück. Erst 1911 überstiegen die zentralstaatlichen Mittel für agronomische Hilfsprogramme die finanziellen Aufwendungen der Zemstvos in diesem Bereich.⁷⁵

    Die Etablierung der Landwirtschaft als Feld der politischen und gesellschaftlichen Intervention war eng mit dem gesellschaftlichen Wandel des späten Zarenreichs verknüpft. Nach den Reformen Alexanders II. waren Hochschulabsolventen sowohl in der expandierenden Bürokratie des Zentralstaats als auch in den neu geschaffenen Organen der lokalen Selbstverwaltung gefragt. Dies führte nicht nur zu einer Ausweitung des höheren Bildungswesens, sondern bewirkte zugleich die Entstehung einer gesellschaftlichen Schicht, deren Angehörige ihr Ansehen und Selbstverständnis nicht mehr aus der ständischen Herkunft, sondern aus ihrer Bildung bzw. ihrer beruflichen Anstellung bezogen.⁷⁶ Die Entwicklungen erfassten auch die Absolventen landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Disziplinen. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Arbeitsmarkts für Landwirtschaftsspezialisten nahm die Attraktivität eines agrarwissenschaftlichen Studiums stetig zu. Am rasant expandierenden Moskauer Landwirtschaftlichen Institut lag die Zahl der Studienbewerber zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig über der Zahl der in einem Jahr zugelassenen Studierenden.⁷⁷ Auch unter Frauen erfreute [<<50||51>>] sich das Landwirtschaftsstudium wachsender Beliebtheit. An den Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen in Moskau erhöhte sich die Gesamtzahl der Hörerinnen von 539 im Studienjahr 1911/12 auf 922 im Studienjahr 1915/16.⁷⁸ Diese Dynamik entsprach einem allgemeinen Trend. Zwischen 1879 und 1912 stieg die Zahl der Studierenden an landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen in Russland von 1292 auf 16.137.⁷⁹ Im Zuge dieser Entwicklungen veränderte sich auch die soziale Zusammensetzung der Studierenden. Hatten sich vormals meist die Söhne der pomeščiki zu einem Studium der Agrarwissenschaft entschieden, nahm die Zahl nichtadliger Studenten an den landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen im späten Zarenreich stetig zu. An der Moskauer Petrovka-Akademie bzw. ihrem institutionellen Nachfolger, dem Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, ging der Anteil von Studenten aus dem Adel und der Geistlichkeit zugunsten von Studenten aus dem Stand der Stadtbürger seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kontinuierlich zurück.⁸⁰ Kurz vor dem Ersten Weltkrieg machten Adlige an der größten landwirtschaftlichen Hochschule des Zarenreichs eine Minderheit aus.⁸¹ Das agrarwissenschaftliche Studium hatte sich zu einer Option für den sozialen Aufstieg entwickelt.⁸²

    Diese Entwicklungen waren nicht nur ein Abbild der gesellschaftlichen Dynamik des späten Zarenreichs. Sie wirkten auch auf diese zurück. Die Konjunktur der Agrarfrage im öffentlichen Diskurs veränderte die gesellschaftliche Ordnung des Russischen Reichs. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eine ständig wachsende Zahl von Agrarexperten in die öffentliche Kampagne zur Modernisierung der russischen Landwirtschaft involviert. Als Mitarbeiter von lokalen Selbstverwaltungen, landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Genossenschaften wirkten sie an der Entstehung einer ständeübergreifenden Öffentlichkeit mit. Diese umfasste nicht nur die Angehörigen der hinsichtlich ihrer ständischen Herkunft zunehmend heterogenen Gruppe landwirtschaftlich geschulter Experten. Die Gründung von regional agierenden Gesellschaften mit landwirtschaftlicher Ausrichtung, die rasant ansteigende Zahl [<<51||52>>] von Landwirtschaftszeitschriften für ein breites Publikum vor dem Ersten Weltkrieg und der Ausbau der Zemstvo-Agronomie begünstigten die Integration der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung in den Expertendiskurs. Indem sie sich mit Leserbriefen an Zeitschriften wandten, auf ihren Feldern eigene Versuche durchführten ⁸³ oder gegenüber Agronomen ihre landwirtschaftlichen Probleme zur Sprache brachten, wurden die Bauern Teil eines überregionalen Kommunikationzusammenhangs. Sie waren demnach keine stummen Modernisierungsobjekte einer hegemonialen Zivilisierungsmission der Intelligenz, sondern Teil eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses über die Modernisierung des ländlichen Russlands.⁸⁴ Die Agrarfrage erwies sich somit selbst als ein Faktor gesellschaftlichen Wandels.

    1.2 Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma

    1.2.1 Die Wende zur Sozialwissenschaft

    Zeitgleich mit der Entdeckung der Bauern wurden diese auch als ökonomische Akteure sichtbar. Angesichts des rasanten ländlichen Bevölkerungswachstums erweiterten bäuerliche Einzelwirtschaften und Kommunen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft ihre Anbauflächen, indem sie Adelsland pachteten oder käuflich erwarben. Zwischen 1877 und 1905 ging der adlige Gutsbesitz auf 58,5% und bis 1917 auf 45,8% seines ursprünglichen Umfangs zurück. Bauern kauften etwa 75% des vormaligen Adelslandes und gehörten damit zu dessen wichtigsten Abnehmern.⁸⁵ Zeitgenossen werteten die Zunahme der Bodentransaktionen nicht nur als Indiz für die Bedeutung der Bauern als Agrarproduzenten,⁸⁶ sondern auch als einen Beleg dafür, dass die untergeordnete gesellschaftliche Stellung der bäuerlichen Bevölkerung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft anhielt.⁸⁷ Viele Wissenschaftler, die sich als Anwälte der Bauern verstanden, wandten ihre Aufmerksamkeit daher den [<<52||53>>] gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft zu. Auf diese Weise stellten sie nicht nur die Annahme von der Autonomie der dörflichen Ökonomie, sondern auch die naturwissenschaftlich-technische Orientierung des gelehrten Landwirtschaftsdiskurses in Frage. Sie legten damit den Grundstein für einen sozialwissenschaftlichen Zweig in der Agrarwissenschaft.

    Diese Entwicklungen waren Teil der länderübergreifenden Suche nach Möglichkeiten zur Verbindung von ökonomischem Wachstum und Sozialpolitik. Verrmittelt wurde der neue Zugang durch die Vertreter der Deutschen Historischen Schule, deren Lehrstühle im ausgehenden 19. Jahrhundert Pilgerstätten für angehende Sozialreformer nicht nur aus Westeuropa und den USA,⁸⁸ sondern auch aus dem Zarenreich waren. Die intellektuelle Anziehungskraft, die der Historismus auf russische Statistiker und Ökonomen ausübte, ging darauf zurück, dass er die Idee von der Verschiedenartigkeit nationaler Entwicklungswege in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ökonomie verankerte.⁸⁹ Er erlaubte somit, die von slawophilen und populistischen Intellektuellen geäußerte Hoffnung, Russland könnte die Schattenseiten des Kapitalismus umgehen und einen eigenen Entwicklungsweg einschlagen, wissenschaftlich zu begründen.⁹⁰ Mit der Rezeption des ökonomischen Historismus veränderte sich die Debatte über die Entwicklungsperspektiven der russischen Landwirtschaft. Im Anschluss an eine Studienreise nach Deutschland und Österreich veröffentlichte der Agrarwissenschaftler A. P. Ljudogovskij im Jahr 1875 ein agrarwissenschaftliches Lehrbuch, das die Traditionen der adligen Landbaulehre mit dem Ansatz der Historischen Schule verband. Ljudogovskij plädierte dafür, sowohl in der Agrarwissenschaft als auch in der landwirtschaftlichen Praxis die historischen Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion zu berücksichtigen. Auf diese Weise öffnete er den russischen Agrardiskurs für die Idee, dass sich die in Westeuropa entwickelten Vorstellungen von der „rationellen Landwirtschaft" möglicherweise nicht unverändert auf Russland übertragen ließen, da soziale, kulturelle und natürliche Faktoren gleichermaßen den landwirtschaftlichen Erfolg bedingten.⁹¹

    Der prominenteste Vertreter dieser neuen Sicht auf die Landwirtschaft war der Moskauer Statistiker und Ökonom A. I. Čuprov. Nach einem Studium an der Moskauer Universität hielt er sich Anfang der 1870er Jahre einige Zeit in Deutschland auf [<<53||54>>] und besuchte Vorlesungen bei dem Doyen des Historismus Wilhelm Roscher, dem Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp und dem Sozialreformer Lorenz von Stein. Wie seine akademischen Vorbilder in Deutschland betrachtete Čuprov, der 1878 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie und Statistik an der Moskauer Universität übernahm, die Wirtschaft als einen von Werten, Normen und Institutionen geprägten Teilbereich des menschlichen Soziallebens. Die Auseinandersetzung mit der Wirtschaft musste seiner Auffassung nach daher im Rahmen einer umfassenden Gesellschaftslehre erfolgen.⁹² Čuprov verband den populistischen Diskurs über die Bauern mit dem konzeptionellen Zugang der Historischen Schule. Er war überzeugt, dass „der Auftrag der Wissenschaft von der Gesellschaft in der Förderung des Allgemeinwohls [bestehe]⁹³. Da die Bauern in Russland die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, konnte eine Wissenschaft, die sich dem Allgemeinwohl verschrieb, hier nur dann Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn sie die Bauern zu ihrem Gegenstand machte. Während sich die Vertreter der Historischen Schule in Deutschland vorrangig mit der wachsenden Gruppe der Industriearbeiter auseinandersetzten, richtete Čuprov, der eigentlich kein ausgewiesener Landwirtschaftsspezialist war, seinen Fokus auf die Wirtschafts- und Sozialbeziehungen in russischen Dorfgemeinden und seit den 1890er Jahren auf die Wirtschaftsweise bäuerlicher Haushalte. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Hochschullehrer trat Čuprov zudem als Organisator der Zemstvo-Statistik in Erscheinung. Als Leiter der Statistischen Abteilung der Moskauer Juristischen Gesellschaft beteiligte er sich an Versuchen zur Vereinheitlichung der Erhebungsmethoden in den Regionen.⁹⁴ Čuprov war damit einer der wichtigsten intellektuellen Wegbereiter für den Wandel des gelehrten Agrardiskureses zur sozialwissenschaftlich argumentierenden „Bauernwissenschaft.

    Die Berufsbiographien der Moskauer Professoren N. A. Kablukov und A. F. Fortunatov illustrieren den Wandel im akademischen Agrardiskurs auf geradezu mustergültige Weise. Nach einem Studium an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität trat Kablukov im Jahr 1875 eine Stelle als Statistiker im Moskauer Gouvernements-Zemstvo an, wo er zum Stellvertreter des bekannten Zemstvo-Statistikers Orlov ernannt wurde. 1879 erhielt Kablukov die Genehmigung für eine zweijährige Studienreise nach Westeuropa, wo er wie sein spiritus rector Čuprov Vorlesungen und Seminare bei den Vertretern der Historischen Schule [<<54||55>>] besuchte. Nach dem Tod Orlovs im Jahr 1885 trat Kablukov die Leitung des Statistischen Büros des Moskauer Zemstvos an und stieg zu einem der anerkanntesten Zemstvo-Statistiker des Landes auf. Seit den 1890er Jahren verband er seine Anstellung als Statistiker mit einer Lehrtätigkeit an der Moskauer Universität. 1894 hielt er hier seine erste Vorlesung in Agrarökonomie. Im Jahr 1903 übernahm Kablukov die Professur für Statistik und Politische Ökonomie.⁹⁵ Ganz ähnlich entwickelte sich die berufliche Laufbahn des Agronomen Fortunatov, der nach einem Studium der Medizin in Sankt Petersburg zwischen 1879 und 1881 ein Landwirtschaftsstudium an der Moskauer Petrovka-Akademie absolvierte. Bevor er eine akademische Lehrtätigkeit übernahm, arbeitete auch Fortunatov zunächst einige Zeit im statistischen Büro Orlovs. Seit 1884 hielt er Vorlesungen an der Petrovka-Akademie. Im Jahr 1885 wurde Fortunatov Dozent für Agrarstatistik. 1891 folgte die Ernennung zum Professor für Agrarstatistik.⁹⁶ Die Karrieren beider Wissenschaftler reflektieren, wie eng das Milieu des legalen narodničestvo und die Hochschulöffentlichkeit im Russischen Reich miteinander verflochten waren. Auch nach ihrer Berufung zum Professor erhielten beide die Verbindungen zu den Zemstvo-Statistikern aufrecht. Auf diese Weise trugen Kablukov und Fortunatov, die in Čuprov einen ihrer wichtigsten intellektuellen Lehrmeister sahen,⁹⁷ nicht nur zur Verwissenschaftlichung des positiven Bauernbildes der narodničestvo, sondern auch zu seiner Verankerung im akademischen Diskurs des Zarenreichs bei.

    Die wachsende Sensibilität für die gesellschaftlichen Bedingungen der Landwirtschaft zog eine inhaltliche Annäherung von Agrarwissenschaft und Politischer Ökonomie nach sich. Die Öffnung der Agrarwissenschaft gegenüber sozialwissenschaftlichen Fragestellungen zeigte sich in der Etablierung der Landwirtschaftsstatistik im Fächerkanon der Agrarwissenschaften.⁹⁸ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lehrte Fortunatov seine Studenten bereits, Naturkunde und Soziallehre seien „zwei gleichberechtigte Grundlagen der Agrarwissenschaft"⁹⁹. Zeitgleich wandten sich Vertreter der Politischen Ökonomie landwirtschaftsbezogenen Themen wie dem ländlichen Bevölkerungswachstum, der Entwicklung der Bodenpacht oder den

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