Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

"Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 3/2023
"Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 3/2023
"Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 3/2023
eBook910 Seiten9 Stunden

"Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 3/2023

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es geht um die Lebens- und Familiengeschichte der bedeutenden jüdischen Mathematikerin Emmy Noether. Sie wird allzu oft nur auf ihre Mathematik reduziert . Ich möchte Ihr ein facettenreiches vielfältiges Leben zurückgeben, zu dem nicht nur ihre wissenschaftlichen unbestreitbar hohen Verdienste gehören. Deshalb habe ich ihre Biografie auf insgesamt 15 Bände angelegt. Bereits erschienen ist 2021 die Geschichte und die Vorgeschichte Ihrer Habilitation: "Kann eine Frau Privatdozentin werden?" – die Umfrage des Preußischen Kultusministeriums zur Habilitation von Frauen 1907, und "Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall" – die Habilitation Emmy Noethers, beide tredition Hamburg 2021. Mit dem hier vorliegenden dritten Band schließe ich die noch offene Lücke in Emmy Noethers Habilitationsgeschichte, indem ich mich mit dem Thema ihre Habilitationsarbeit beschäftige, in der sie einen wichtigen, bis heute nachwirkenden Beitrag zur Allgemeinen Relativitätstheorie geleistet hat. Dabei stand sie in engem Kontakt mit Albert Einstein und mit den Göttinger Mathematikern Felix Klein und David Hilbert, die die Göttinger Universität zu einem weit über die Grenzen von Stadt und Universität hinaus berühmten Zentrum der Mathematik gemacht hatten, in dem künftig auch Emmy Noether eine wichtige Rolle spielen sollte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Dez. 2023
ISBN9783384083265
"Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme: Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 3/2023
Autor

Cordula Tollmien

Cordula Tollmien, geb. 1951, studierte Mathematik, Physik und Geschichte an der Universität Göttingen. Seit 1987 arbeitet sie als freiberufliche Historikerin und Schriftstellerin und veröffentlichte u. a. auch eine Reihe von Kinderbüchern. Sie war an dem 1987 publizierten Projekt zur Geschichte der Universität Göttingen im Nationalsozialismus beteiligt, arbeitete von 1991 bis 1993 als wissenschaftliche Lektorin bei der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte und trug Grundlegendes zum dritten Band der Göttinger Stadtgeschichte bei, der die Jahre 1866 bis 1989 behandelt. In den Jahren 2000 bis 2011 hatte sie einen Forschungsauftrag der Stadt Göttingen zur NS-Zwangsarbeit (www.zwangsarbeit-in-goettingen.de), und 2014 erschien ihr Buch über die Geschichte der jüdischen Göttinger Familie Hahn. Mit der Entwicklung der akademischen Frauenbildung und insbesondere mit den Biografien von Mathematikerinnen beschäftigt sie sich seit 1990 – dem Jahr, in dem ihre Arbeit erschien, in der erstmals die Geschichte der Habilitation Emmy Noethers im Detail nachgezeichnet wurde. 1995 publizierte sie eine Biografie der russischen Mathematikerin Sofja Kowalewskaja. 2021 erschienen die beiden ersten Bände ihrer Emmy Noether Biografiereihe. URL: www.tollmien.com

Mehr von Cordula Tollmien lesen

Ähnlich wie "Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für "Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    "Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht" - die Noether-Theoreme - Cordula Tollmien

    1. Emmy Noether trifft auf Einstein

    Kaum in Göttingen angekommen (sie war dort seit dem 28. April 1915 offiziell gemeldet¹), erreichte Emmy Noether die Nachricht vom Tod ihrer Mutter Ida Noether (1852-1915), die noch nicht einmal 63 Jahre alt am 9. Mai 1915 überraschend gestorben war. Und so kehrte Emmy Noether schnellstmöglich nach Erlangen zurück, um zur Trauerfeier am 11. Mai 1915 in Erlangen zu sein, war aber rechtzeitig wieder in Göttingen, um dort Ende Juni Einsteins Vorlesungen zu hören.

    Der Tod der Mutter

    Am 10. April 1915 hatte Emmy Noether ihrem Mentor und Freund Ernst Fischer (1875-1954), der einer der Nachfolger ihres Doktorvaters Paul Gordan (1837-1912) war und mit dem sie in engem, auch brieflichem wissenschaftlichen Austausch stand, eine Karte geschrieben. Darin teilte sie ihm mit, dass sie – wohl als eine Art Abschiedsbesuch, bevor sie nach Göttingen aufbrechen wollte – gemeinsam mit ihrem Vater dessen Verwandte in Mannheim und auch die Familie ihres Bruders Fritz in Karlsruhe besuchen werde, wo am 7. Januar 1915 gerade Gottfried Noether (1915-1991), der zweite Enkel Max Noethers, geboren worden war. Auch ihre Mutter erwähnte sie kurz auf dieser Karte: Sie sei zurück (vermutlich von einer Kur oder ebenfalls von einer Reise zu Verwandten), bedürfe aber leider noch einmal einer Augenbehandlung.² Von einer anderen schweren Erkrankung oder gar von einem nahenden Tod war auf dieser Karte nicht die Rede.

    Fritz Noether (1884-1915), derjenige ihrer drei Brüder, mit dem Emmy Noether am engsten verbunden war, war als Unteroffizier sofort bei Kriegsbeginn im August 1914 eingezogen worden³ und berichtete am 23. Mai 1915 aus Chaource in Nordfrankreich seinem Münchner Lehrer Arnold Sommerfeld (1868-1951) vom Tod der Mutter:

    Auch in der Jetztzeit, die uns an Außergewöhnliches gewöhnt hat, und das persönliche Interesse zurücktreten lässt, empfinde ich den Verlust sehr schwer bei allem, worüber ich gewohnt war mit ihr zu schreiben, viel mehr wird das der Fall sein, wenn wieder einmal die gewohnten Verhältnisse eintreten. Meinen Vater fand ich zu meiner Freude ganz gefaßt, obwohl ja für ihn der Verlust, da er auf Hilfe angewiesen ist, doppelt schwer ist. Der ernste Anlaß gab mir auch seit Kriegsausbruch die erste Gelegenheit, meine Frau und Kinder kurz wiederzusehen, vielmehr den kleinsten kennen zu lernen.⁴

    Zweierlei sei anlässlich dieses Briefes hervorgehoben:

    Einmal die Tatsache, dass wir uns im ersten Kriegsjahr befinden, Emmy Noether also mitten im Krieg nach Göttingen wechselte, der sie in dem gesamten Zeitabschnitt, von dem in diesem Buch die Rede sein wird, als eine Art allgemeines Untergrundrauschen begleitete, das in dem hier vorgelegten Band nur gelegentlich beschrieben werden kann und das sich insbesondere in der Sorge um ihren Bruder Fritz niederschlug, die natürlich auch ihr Vater teilte.⁵ Zum anderen ist auf Max Noethers Hilfsbedürftigkeit zu verweisen, da dieser – 1858, im Alter von 14 Jahren, an Kinderlähmung erkrankt und infolgedessen mehrere Jahre ans Bett gefesselt⁶ – sein ganzes Leben lang stark gehbehindert war und mit zunehmendem Alter kaum noch laufen konnte. So erinnerte sich Fritz Seidelmann (1890-1968), dessen Erlanger Doktorarbeit Emmy Noether noch von Göttingen aus betreute,⁷ dass Max Noether bei seinen Vorlesungen im Rollstuhl neben der Tafel saß und diese von dort aus beschrieb, was seine ohnehin kaum lesbare, sehr kleine Schrift vollends unlesbar machte.⁸

    Über die Beziehung von Emmy Noether zu ihrer Mutter wissen wir wenig. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Fritz, der – wie man aus seinem oben zitierten Brief an Sommerfeld entnehmen kann – ein ausgesprochen enges und vertrauensvolles Verhältnis zu seiner Mutter gehabt zu haben scheint, war Emmy Noether eindeutig eine Vater-Tochter, orientierte sich also vornehmlich an diesem. Doch gibt es Dokumente, die zeigen, dass Emmy Noether während ihrer Erlanger Studienzeit gemeinsam mit ihrer Mutter in dem Erlanger Verein Frauenwohl engagiert war, der unter anderem einen Mädchenhort betrieb, in dem Mädchen aus bedürftigen Familien nicht nur bei den Schularbeiten beaufsichtig wurden, sondern auch mit Brot und Milch versorgt wurden.⁹ Emmy Noether und ihre Mutter müssen also politisch und sozial auf der gleichen Wellenlänge gelegen haben, was ebenfalls ein starkes Band zwischen beiden gespannt haben wird, auch wenn dieses vielleicht nicht ganz so stark war wie das der Mathematik, das Vater und Tochter verband.

    Wenn man Max Noethers Antwort auf das Beileidsschreiben des Prorektors zum Tod seiner Frau Glauben schenken darf, so empfand Ida Noether „immer das wärmste Interesse für das Wohl der Universität",¹⁰ war also eine typische und pflichtbewusste Professorengattin mit einem großen Verständnis für die Belange der Wissenschaft. Und dieses Verständnis befähigte sie offensichtlich auch dazu, ihre einzige Tochter Emmy nicht in die traditionelle Frauenrolle zu zwingen, sondern deren wissenschaftliche Interessen weit über das damals in den meisten bürgerlichen Familien hinausgehende Maß nicht nur nicht zu behindern, sondern sogar zu fördern. Von heute aus gesehen ist dieses Gewährenlassen ein großes Verdienst Ida Noethers, das sie trotz allem Verständnis durchaus einige Überwindung gekostet haben mag.¹¹

    Auch ihr Vater zwang Emmy nicht in die traditionelle Frauenrolle, obwohl seine einzige Tochter nach dem Ausfall der Mutter nach den Vorstellungen der damaligen Zeit seine natürliche Pflegerin gewesen wäre. Im Gegenteil: Obwohl es ihm in den Jahren nach dem Tod seiner Frau stetig schlechter ging, holte er Emmy Noether nicht nur nicht nach Erlangen zurück, sondern freute sich an ihren wissenschaftlichen Erfolgen und war ausgesprochen stolz auf seine Tochter, was er am 13. März 1918 in einem Brief Felix Klein (1849-1925), mit dem er seit dessen Erlanger Zeit in den 1870er Jahren freundschaftlich verbunden war, einmal so ausdrückte:

    Daß sich unser beider Beziehungen durch den Verkehr meiner Tochter in Göttingen wieder frisch geknüpft, ist mir eine große Quelle der Befriedigung; ich sehe jeden Tag, wie sich dort ihre Arbeitskraft steigert, und erhoffe mir davon noch manche Freude.¹²

    – und dies, obwohl er im gleichen Brief die vergangenen Jahre in Erlangen als „teilweise sehr hart" beschrieb und auch von einer Erkrankung im vorausgegangenen Herbst berichtete. Max Noether, der kriegsbedingt erst zum Sommersemester 1918 seine offizielle Vorlesungstätigkeit beenden konnte¹³ – da war er bereits 74 Jahre alt –, kann es daher nicht leichtgefallen sein, auf die Hilfe seiner Tochter zu verzichten. Und natürlich war Emmy Noether, soweit ihr dies möglich war, an seiner Seite. So kehrte sie in den folgenden Jahren zu Beginn der Semesterferien immer wieder sofort nach Erlangen zurück und blieb auch nach dem Tod der Mutter über einen Monat (bis zum 16. Juni 1915) bei ihrem Vater, um alles Erforderliche zu regeln.¹⁴ Eventuell hat sie ihm auch eine professionelle Pflegerin besorgt. Eine Haushälterin und/oder Köchin hatten Noethers wie die meisten bürgerlichen Familien ihres Standes wahrscheinlich immer,¹⁵ auch diese konnte gewisse Hilfsleistungen übernehmen.

    Die Brüder dagegen fielen als Unterstützung für den Vater aus. Denn Fritz Noether stand an der Front, und die beiden anderen, Alfred und Robert, waren beide seit frühester Jugend krank. Der älteste Bruder Alfred (1883-1918) war Epileptiker, dem auch Anfälle in seiner Schulklasse vor den Augen seiner Mitschüler nicht erspart blieben. Er litt nicht nur unter den dadurch hervorgerufenen reaktiven Störungen, sondern wohl auch unter den Folgen der damals als einziges Mittel gegen Epilepsie zur Verfügung stehenden Bromiden, die als Nebenwirkungen Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit und bei langfristiger Einnahme auch echte Verwirrtheitszustände zur Folge hatten. Der jüngste, Robert (1889-1928), war wahrscheinlich überdurchschnittlich begabt und daher schon aus der dritten Klasse der Volksschule aufs Gymnasium gewechselt. Doch warfen ihm seine Lehrer mit fortschreitendem Alter immer häufiger kindisches Verhalten oder auch unmotiviertes unnatürliches Lachen vor, bescheinigten ihm eine hochgradige nervöse Anspannung und – für uns heute merkwürdig anmutend – eine krankhafte „Lesewut und sprachen schließlich sogar von einem „anormalen Geisteszustand. Er scheiterte letztendlich an der normalen Schullaufbahn und verließ das Gymnasium ohne Abschluss nach der 12. Klasse. Möglicherweise war Robert Autist, das legen jedenfalls die Beschreibungen seiner Lehrer nahe, doch lässt sich dies im Nachhinein aufgrund der deutlich vorurteilsbefrachteten Bewertungen seiner Lehrer natürlich nur schwer verifizieren. Fakt ist jedoch, dass sowohl Alfred, der immerhin noch 1910 in Chemie promoviert worden war, als auch Robert, der seine „Lesewut" insofern zum Beruf machte, als er eine Ausbildung zum Buchhändler absolvierte, die letzten Jahre ihres Lebens in der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt verbrachten, wo Alfred 1918 starb und zehn Jahre nach ihm auch sein Bruder Robert 1928.¹⁶

    Emmy Noether (geb. 1882) mit ihren Brüdern: links Robert (geb. 1889), sitzend Fritz (geb. 1884) und rechts Alfred (geb. 1883), wahrscheinlich aufgenommen kurz vor Beginn des Krieges und damit ein Jahr, bevor Emmy Noether Erlangen Richtung Göttingen verließ (Stadtarchiv Erlangen, Sammlung Sponsel)

    Zu Emmy Noethers Leben gehörten also nicht nur der Krieg und später in der unmittelbaren Nachkriegszeit die damit verbundenen Existenznöte, die für sie auch im Laufe der Zwanziger Jahren nicht endeten, sondern auch die Sorge um den Vater und die Brüder. Nach dem Tod ihres Vaters, der drei Jahre nach Alfred auf den Tag genau am 13. Dezember 1921 starb, war sie dann – da ein diesbezügliches Engagement von Fritz nicht bekannt ist – für Robert offensichtlich allein verantwortlich.

    Obwohl also nach dem Tod der Mutter Emmy Noether von den Geschwistern als einzige in Betracht kam, dem Vater helfend zur Seite zu stehen, scheinen weder sie selbst noch ihr Vater jemals ernsthaft überlegt zu haben, das Experiment Göttingen, das sich ja noch ganz in den Anfängen befand und von dem daher niemand wusste, wie es ausgehen würde, abzubrechen. Immerhin nahm sich Emmy Noether unmittelbar nach dem Tod der Mutter einen ganzen Monat Zeit für ihren Vater. Aber dies bedeutete nicht, dass sie wissenschaftlich untätig war, was ihr Vater wohl auch kaum verlangt hätte. Zwar korrespondierte sie, soweit wir wissen, in diesem Monat, den sie in Erlangen verbrachte, nicht wie zuvor im Mai und Dezember 1914 mit David Hilbert (1862-1943),¹⁷ dem sie damals auf eigene Initiative drei wichtige invariantentheoretische Arbeiten zur Veröffentlichung in den Annalen angeboten hatte,¹⁸ doch nutzte sie die Zeit, um still und effektiv ein kleines Problem zu lösen, das sie in der schon zitierten Karte an Ernst Fischer vom 10. April kurz angerissen hatte.

    Hilbert schreibt, hieß es auf dieser Karte, nach der oben wiedergegebenen kurzen Beschreibung ihrer Reisepläne, daß er weiß, daß man für endliche Gruppen den Endlichkeitssatz elementar beweisen kann; nicht weiß, ob ein solcher Beweis publiziert ist – vermutlich hat er sich selbst den Beweis einmal überlegt. Er hat Toeplitz¹⁹ beauftragt nach einem gedruckten Beweis zu suchen.²⁰

    Mit dem „Endlichkeitssatz" ist Hilberts bahnbrechende Veröffentlichung Ueber die Theorie der algebraischen Formen aus dem Jahr 1890 gemeint, in dem dieser durch einen reinen Existenzbeweis gezeigt hatte, dass sich die aus einer algebraischen Form mit beliebig vielen Variablen entstehenden Kovarianten und Invarianten immer als ganze rationale Funktionen eines endlichen Basissystems solcher Kovarianten darstellen lassen.²¹

    Die Karte Emmy Noethers an Ernst Fischer vom 10. April 1915 (Akademie der Wissenschaften Wien, Nachlass Auguste Dick 12/15) beginnt mit einer Bemerkung Emmy Noethers zu Fischers Cremonadeutung, die präzise ausspreche, was ihr nur unklar vorgeschwebt habe. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang auch Kleins 1884 erschienenes Ikosaederbuch.²³ Schon 1913 während der gemeinsamen Arbeit an Gordans Nachruf²⁴ hatte sie diesbezüglich Kleins Hochachtung gewonnen, als dieser feststellen konnte, dass sie die „Theorie der Gleichungen fünften Grades, nicht nur vollständig beherrschte, sondern mir darüber noch manche Einzelbemerkungen mitteilen konnte, die mir neu waren und mich sehr befriedigten."²⁵

    Hilbert hatte damit den bis dahin unangefochten als „König der Invarianten geltenden späteren Doktorvater Emmy Noethers Paul Gordan, der die Frage der Endlichkeit der Invarianten „seinerzeit nur mit umfangreichen Rechnungen für binäre Formen hatte erledigen können,²² von seinem Thron gestoßen, was diesen nachhaltig kränkte. Auf Emmy Noethers Karte folgte dann der schon zitierte Absatz über ihre Reise mit ihrem Vater nach Mannheim und Karlsruhe und schließlich die Aussage über den elementaren Beweis des Endlichkeitssatzes für endliche Gruppen. Statt nun, wie Hilbert dies veranlasst hatte, nach einem vielleicht irgendwo bereits veröffentlichten elementaren Beweis des „Endlichkeitssatzes für endliche Gruppen zu suchen, machte Emmy Noether diesen einfach selbst. Sie entwickelte einen „nur auf der Theorie der symmetrischen Funktionen basierenden Beweis und lieferte zugleich auch noch eine „wirkliche Angabe des vollen Systems, während, wie sie selbst bemerkte, „der gewöhnliche auf das Hilbertsche Theorem von der Modulbasis (Ann[alen] 36) sich stützende Beweis nur Existenzbeweis ist.²⁶

    Abschließend wies sie in dieser kleinen erst 1916 erschienenen, aber bereits im Mai 1915 in Erlangen abgeschlossenen, nur vier Seiten umfassenden Arbeit darauf hin, „daß die hier abgeleiteten Resultate implizit enthalten sind in meiner Arbeit ‚Körper und Systeme rationaler Funktionen‘", die sie Hilbert im Mai 1914 geschickt hatte und mit der sie an dessen Veröffentlichung Über die vollen Invariantensysteme angeknüpft hatte. In Fortführung seiner Arbeit aus dem Jahr 1890 hatte Hilbert in dieser bedeutenden Arbeit aus dem Jahr 1893 die Theorie der algebraischen Invarianten der allgemeinen Theorie der algebraischen Funktionenkörper untergeordnet und damit nicht nur die Invariantentheorie, sondern das algebraische Denken insgesamt grundlegend verändert.²⁷

    Beweisgang und Resultat, so Emmy Noether im Schlussabsatz ihrer, vereinfachen sich aber in dem hier vorliegenden Fall erheblich gegenüber der allgemeinen Theorie. Darauf die allgemeinen Untersuchungen auf die Invarianten endlicher Gruppen anzuwenden, kam ich durch Gespräche mit Herrn E. Fischer, von dem auch dem Inhalt nach der unter 2. gegebene Beweis²⁸ – im allgemeinen Fall ist das dort auftretende volle System nicht rational definierbar²⁹ – und die Anmerkung zu 3.³⁰ herrührt.³¹

    Dies ist ein schönes Beispiel für das, was alle Arbeiten Emmy Noethers auszeichnete und was Mechthild Koreuber in ihrer Veröffentlichung über die Noether-Schule als das diesen innewohnende dialogische Prinzip bezeichnet hat.³² Gemeint ist damit nicht nur, dass Emmy Noether ihre Leser gelegentlich direkt ansprach, sondern auch und vor allem, dass sie ihre eigenen Arbeiten immer in einen Zusammenhang mit den Arbeiten früherer oder – wie in diesem Fall – auch zeitgenössischer Mathematiker stellte. Niemals gab Emmy Noether die Ergebnisse anderer als ihre eigenen aus und niemals verschwieg sie die Anregungen, die sie von anderen erhalten hatte.³³ Ihre Veröffentlichungen waren daher in gewissem Sinne immer auch Gespräche, wobei diesem besonderen Fall ein persönliches Gespräch mit Ernst Fischer zugrunde lag, das sie nun hier in ihrer Veröffentlichung fortsetzte.

    Ernst Fischer und Emmy Noether gemeinsam auf einer Seite des Fotoalbums, das Hilbert zu seinem 60. Geburtstag im Januar 1922 dediziert wurde. Beide Fotos sind wahrscheinlich früheren Datums; das Foto Emmy Noethers wurde vermutlich um 1915 aufgenommen. Dieses Foto Emmy Noethers ist übrigens die Vorlage zu dem unten entfleckt und als Ausschnitt auf S. 45 abgebildeten Foto (NStuUB Gö Cod. Ms. Hilbert 754).

    Die Anregung zu dem hier von Emmy Noether behandelten kleinen Spezialfall zu ihrer Arbeit Körper und Systeme rationaler Funktionen kam also nicht, wie man nach ihrer Karte an Fischer vom 10. April 1915 zunächst hätte vermuten können, von Hilbert, sondern von Fischer, dem sie, wie sie in der Rückschau in ihrem Lebenslauf zur ihrer Habilitation 1919 bemerkte, den „entscheidenden Anstoß zu der Beschäftigung mit abstrakter Algebra in arithmetischer Auffassung" verdankte.³⁴ Es ist also zu vermuten, dass Emmy Noether nach Fischers Anregung, noch bevor sie Ende April 1915 zum ersten Mal nach Göttingen fuhr, Hilbert in einem nicht erhalten Brief gefragt hat, ob ein solcher Beweis für endliche Gruppen schon veröffentlicht sei, worauf dieser ihr, wie sie Fischer auf ihrer Karte vom 10. April mitteilte, geschrieben hatte, dass er Toeplitz beauftragt habe, danach zu suchen. Durch den Tod ihrer Mutter zwangsweise wieder in Erlangen, erbrachte nun Emmy Noether diesen Beweis in Zusammenarbeit mit Ernst Fischer, mit dem sie dort ihre früheren, von ihr sicher vermissten Gespräche zumindest vorübergehend wieder im direkten Kontakt fortsetzen konnte. Mehr als diese kleine Arbeit aber war in der angespannten und sicher mit zeitraubenden Organisationsanforderungen gefüllten Zeit nach dem Tod der Mutter nicht zu schaffen.

    Am 16. Juni 1915 kehrte Emmy Noether nach Göttingen zurück, wenige Tage vor dem Besuch Einsteins in Göttingen, der dort auf Einladung Hilberts sechs Vorlesungen zur Gravitationstheorie halten sollte und den sie aus diesem Anlass nun tatsächlich persönlich kennenlernte, nachdem sie ihn zuvor schon zweimal, nämlich 1909 in Salzburg und 1913 in Wien, als Vortragenden erlebt hatte.

    Salzburg 1909: Invariantentheorie im Stil Gordans / Über die Natur des Lichts

    Zum ersten Mal war Emmy Noether Albert Einstein (1879-1955) im September 1909 auf der Salzburger Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte begegnet, auf der außer Emmy Noether nicht nur Lise Meitner (1878-1968) wissenschaftlich „debütierte",³⁵ sondern auch der mit beiden Frauen fast gleich alte Albert Einstein sich und seine Ergebnisse erstmals persönlich einem größerem akademischen Publikum präsentierte.

    Emmy Noether war im April 1909 Mitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) geworden,³⁶ deren Jahresversammlungen damals noch unter dem Dach der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) stattfanden. An der Gründung der 1890 auf deren Bremer Tagung als eigenständige Sektion der Gesellschaft ins Lebens gerufenen DMV war im Vorfeld auch Emmys Vater Max Noether aktiv beteiligt gewesen und er gehörte zu deren ersten Mitgliedern.³⁷ Nun etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Promotion, die sie im Dezember 1907 abgeschlossen hatte, war auch Emmy Noether in diesen illustren, damals um die 750 Mitglieder aus dem In- und Ausland umfassenden Kreis aufgenommen worden, der sich unter anderem zum Ziel gesetzt hatte, den „Vertretern und Jüngern der Mathematik „Gelegenheit zu ungezwungenem collegialischen Verkehr und zum Austausch von Ideen, Erfahrungen und Wünschen zu bieten.³⁸

    Nun, so ganz ungezwungen wird der Austausch für die einzige Frau unter den Mathematikern bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt vor immerhin 56 Zuhörern nicht gewesen sein, obwohl Emmy Noether von ihrem Bruder Fritz begleitet wurde. Fritz Noether, der zwar gerade seit ein paar Monaten frisch promoviert, aber damals noch nicht Mitglied der DMV war, stand also auch diesmal wie schon oft in ihrem Leben seiner Schwester unterstützend zur Seite.³⁹

    Merkwürdigerweise wurde Emmy Noether in der Teilnehmerliste der Salzburger Versammlung als „Frau und nicht, wie damals üblich und richtig, als „Frl. (Fräulein) aufgeführt, so dass einiges dafür spricht, dass sie zumindest bei der Anmeldung unter die mitreisenden Ehefrauen subsumiert und Fritz für ihren Ehemann gehalten wurde. Auch dass in dieser Liste die ansonsten streng eingehaltene alphabetische Ordnung durchbrochen und Fritz vor Emmy aufgeführt wurde, weist in dieselbe Richtung.⁴⁰ Doch dieses Missverständnis wird sich wohl zumindest bei denjenigen, die ihren Vortrag hörten, schnell aufgeklärt haben.

    Der Vater Max Noether, der ein Jahr zuvor noch gemeinsam mit seiner Tochter zum Internationalen Mathematikerkongress in Rom gefahren war,⁴¹ war nicht in Salzburg. Doch hat mit einiger Wahrscheinlichkeit Felix Klein Emmy Noethers Vortrag gehört, denn er nahm an der Geschäftssitzung der DMV teil, mit der die Tagung in Salzburg beschlossen wurde, und war daher in Salzburg anwesend.⁴²

    Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 19 (1910), S. 101-104

    In direkter Fortführung ihrer Dissertation⁴³ trug Emmy Noether in Salzburg eine kleine Arbeit aus dem Gebiet der formalen Invariantentheorie vor, die, wie sie später in ihrem Lebenslauf aus dem Jahr 1919 schrieb, „mir als Schülerin Gordans nahe lag".⁴⁴ Doch sei hier nebenbei bemerkt, dass ihre schon oben faksimilierte kurze Zusammenfassung dieses Vortrags deutlich macht, dass sie sich des Endlichkeitsbeweises Hilberts aus dem Jahr 1890, mit dem die moderne Invariantentheorie eingeleitet worden war,⁴⁵ natürlich sehr wohl bewusst war.

    In der sich ihrem Vortrag anschließenden Diskussion wurde Emmy Noether von Emil Müller (1861-1927), dem Begründer der Wiener Schule der Darstellenden Geometrie, darauf aufmerksam gemacht, dass die von ihr „erwähnten Produktbildungen von Matrizen sich schon bei GRASSMANN finden, und daß diese Bildungen mehr Beachtung verdienen."⁴⁶ Nun war dies insofern kein Zufall, als sich Müller schon in seiner Dissertation mit Hermann Graßmann (1809-1877) beschäftigt hatte⁴⁷ und daher ein ausgemachter Graßmann-Experte war. Der Autodidakt Graßmann, zu Lebezeiten aufgrund seiner unorthodoxen Methoden und Begrifflichkeit weitestgehend verkannt, gilt heute als genialer Mathematiker, dessen 1844 erstmals erschienene und 1862 umfangreich überarbeitet erneut veröffentlichte Ausdehnungslehre⁴⁸ spätere Ansätze etwa von Bernhard Riemanns (1826-1866) Theorie n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten oder des von William Hamilton (1805-1865) entwickelten Konzepts der Quaternionen vorwegnahmen.⁴⁹

    Zufällig traf es sich dann auch noch, dass die DMV anlässlich von Graßmanns 100. Geburtstag ihre erste Sitzung auf der Tagung am 20. September 1909 um 3 Uhr nachmittags, in der Emmy Noether an vierter Stelle vortrug, mit einer ausführlichen biografischen Würdigung Graßmanns durch den Kleinschüler und Herausgeber der Werke Graßmanns Friedrich Engel (1861-1941) eröffnete.⁵⁰ Emmy Noether wurde also sozusagen doppelt auf Graßmann verwiesen. Doch hätte es dieser Doppelung sicher nicht bedurft, um sie zu veranlassen, die Anregung von Müller in der ihr eigenen produktiven Weise aufzunehmen. So beschäftigte sie sich, wie man der ausgearbeiteten Fassung ihres Vortrags entnehmen kann, sowohl intensiv mit Graßmanns Ausdehnungslehre als auch mit Müllers Arbeiten zu Graßmann und widmete beiden nicht etwa nur eine Fußnote, sondern – bevor sie ihre Bezeichnungen und Definitionen erläuterte und bereits bekannte Resultate zum Thema zusammenfasste – in ihrer ausführlichen Einleitung fast eine ganze Seite.⁵¹ Darüber hinaus verwies Emmy Noether nicht nur auf ihren Lehrer Paul Gordan, sondern auch auf dessen Lehrer Alfred Clebsch (1833-1872) und natürlich auf die von Eduard Study (1862-1930) 1889 formulierten Fundamentalsätze der symbolischen Methode, die den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildeten:

    Diese Fundamentalsätze Studys, so Hilbert später in seinem Gutachten zu Noethers Arbeit, waren bis dahin nur bekannt, wenn in den Grundformen lediglich contravariante Variabelreihen auftreten, während die Verfasserin sie in dem allgemeinen Falle aufstellt, dass die Reihen von verschiedenen Stufen als Variable auftreten.⁵²

    Auch eine frühe Arbeit des Studienfreundes ihres Vaters Alexander Brill (1842-1935) erwähnte Emmy Noether zumindest in einer Fußnote, und einen besonders prominenten Platz in ihrer Einleitung nehmen die Arbeiten des Wiener Mathematikers Franz Mertens (1840-1927) ein, dessen Schüler Ernst Fischer war.⁵³ Emmy Noether entwickelte hier also ein ganzes Geflecht von Quer- und Längsverweisen, das sowohl die verschiedenen jeweils aufeinander aufbauenden Mathematikergenerationen umfasste als auch deren Bezüge unter- und aufeinander. Das entsprach, wie oben schon gesagt, Noethers Arbeits- und Denkweise, die – wie hier noch einmal eindrücklich deutlich wird – dadurch gekennzeichnet war, dass sie sich immer in der Gemeinschaft früherer oder zeitgenössischer Mathematiker verortete und das mathematische Gespräch mit ihnen auch in ihren schriftlichen Arbeiten suchte oder vielleicht besser gesagt nachbildete. Zudem zeichnete sie ein ausgeprägter Sinn für wissenschaftliche Fairness aus, die ihr gebot, den Leistungen anderer immer den ihnen gebührenden Raum einzuräumen.

    Einen Tag nach Emmy Noether, am 21. September wieder nachmittags um 3 Uhr, sprach Einstein in einer gemeinsamen Sitzung der Physiker und Mathematiker unter der Leitung des Göttinger Physikers Woldemar Voigt (1850-1919)⁵⁴Über die neueren Umwandlungen, welche unsere Anschauungen über die Natur des Lichtes erfahren haben.⁵⁵ Da ihr Vortrag ja schon hinter ihr lag, war Emmy Noether an dem Nachmittag von Einsteins Vortrag völlig unbeschwert von eigenen Verpflichtungen und – da die Sitzung der Physiker mit der der Mathematiker zusammengelegt worden war – musste sie auch keinen sie vielleicht interessierenden mathematischen Vortrag ausfallen lassen. Sie hätte also gut und gern an Einsteins Vortrag teilnehmen können, zumal die beiden Tagungsorte nur etwa zehn Minuten voneinander entfernt lagen.⁵⁶ Ich persönlich halte es daher für wahrscheinlich, dass sie diesen kleinen Fußweg auf sich genommen hat, da Einstein zwar damals noch nicht wirklich berühmt war, aber durch seine 1905 erschienen Arbeiten zur Speziellen Relativitätstheorie doch schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte.

    Sicher wissen wir jedoch lediglich, dass Lise Meitner, die selbst einen Tag später über Strahlen und Zerfallsprodukte des Radiums vorzutragen hatte,⁵⁷ Einsteins Vortrag gehört hat und dass sie davon so beeindruckt war, dass ihr dieser und die damit verbundenen neuen Erkenntnisse noch Jahrzehnte später genau vor Augen standen – obwohl sie, wie sie selbst einräumte, zu jener Zeit „die ganzen Konsequenzen seiner Relativitätstheorie noch nicht voll begriffen hatte, „und auch das Ausmaß, in dem sie zu einer revolutionären Umformung unserer Begriffe von Raum und Zeit beitragen würden.⁵⁸

    Die Noethergeschwister und Einstein waren während der Tagung in demselben Hotel untergebracht⁵⁹ (Postkartensammlung C. Tollmien).

    Fraglich ist, ob Einstein die beiden Frauen wahrgenommen hat⁶⁰ – wenn schon nicht Emmy Noether (die er, wenn er ihr denn in dem Hotel begegnet sein sollte, in dem sie gemeinsam untergebracht waren, wahrscheinlich auch nur für eine mitreisende Ehefrau gehalten hat), so doch wenigstens Lise Meitner. Gesprochen haben Meitner und Einstein jedenfalls nicht miteinander; das hätte Lise Meitner sonst sicher in ihren Erinnerungen erwähnt.

    Ganz so begeistert wie Lise Meitner wird Emmy Noether wohl nicht von Einstein gewesen sein. Aber – wenn sie denn tatsächlich Einsteins Vortrag gehört hat – dann ist ihr hier zum ersten Mal der damals für viele noch neue Zusammenhang zwischen Energie, Masse und Lichtgeschwindigkeit begegnet, den Einstein erstmals 1905 (wenn auch noch nicht in Form der uns heute geläufigen berühmten Gleichung E = mc²) veröffentlicht hatte,⁶¹ und den er nun in seinen Salzburger Vortrag zur Untermauerung seiner Thesen noch einmal wiederholte.

    Im Verlauf seines Vortrags nahm [Einstein], so Lise Meitner in ihren Erinnerungen, sich die Relativitätstheorie vor und leitete daraus die Gleichung ab: Energie = Masse multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit im Quadrat, und zeigte, daß zu jeder Strahlung eine träge Masse gehört. Diese zwei Fakten waren so überwältigend neu und erstaunlich, dass ich mich an diesem Vortrag bis heute sehr gut erinnere.⁶²

    Meitner hatte also Einsteins im September 1905 in den Annalen der Physik erschienene kleine Arbeit mit dem Titel Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig? damals noch nicht gelesen, umso weniger wird dies Emmy Noether getan haben. Ganz sicher aber war für beide Einsteins Hauptthese neu, die allen seinen Zuhörern im voll besetzten Turnsaal I der Andräschule so unglaublich erschien, dass sie in der Diskussion nach dem Vortrag heftigen Widerspruch hervorrief. Denn Einstein mutete seinen Zuhörern nichts weniger zu, als dass sie die gängige Vorstellung von der Natur des Lichts über Bord werfen und akzeptieren sollten, dass Licht sowohl Teilchen als auch Welle sein könne.⁶³

    Gleich zu Beginn seines Vortrags konfrontierte Einstein seine Zuhörer mit dieser radikalen These, indem er zunächst einmal die bereits experimentell widerlegte Vorstellung, dass der uns umgebende Raum mit einem ruhenden Äther gefüllt sei, der die Ausbreitung von Licht und anderer elektromagnetischer Wellen erkläre,⁶⁴ als „überwunden" bezeichnete, um dann fortzufahren:

    Es ist sogar unleugbar, daß es eine ausgedehnte Gruppe von die Strahlung betreffenden Tatsachen gibt, welche zeigen, daß dem Lichte gewisse fundamentale Eigenschaften zukommen, die sich weit eher vom Standpunkte der Newtonschen Emissionstheorie des Lichtes als vom Standpunkte der Undulationstheorie begreifen lassen. Deshalb ist es meine Meinung, daß die nächste Phase der Entwickelung der theoretischen Physik uns eine Theorie des Lichtes bringen wird, welche sich als eine Art Verschmelzung von Undulations- und Emissionstheorie des Lichtes auffassen läßt.⁶⁵

    Bevor er nach Salzburg reiste, hatte Einstein den ganzen Sommer über ohne greifbares Ergebnis an seiner Strahlungstheorie gearbeitet:

    Mit Planck, schrieb er am 31. Juli 1909 seinem Kollegen Johannes Stark (1874-1957), der gerade einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem er dargelegt hatte, dass Röntgenstrahlen aus räumlich lokalisierbaren Lichtquanten bestehen, habe ich über diesen Gegenstand eine lebhafte Korrespondenz; er sträubt sich noch hartnäckig gegen die körperlichen (lokalisierten) Quanten. Sie können sich kaum vorstellen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, eine befriedigende Durchführung der Quantentheorie zu ersinnen. Bisher hatte ich aber keinen Erfolg damit.⁶⁶

    Die Andräschule in Salzburg, in der 1909 die Physiker tagten und an der heute mit einer Tafel (links neben dem Eingang) an Einsteins aufsehenerregenden Vortrag vom 21.9.1909 erinnert wird. Allerdings ist der Text der Tafel insofern irreführend als Einstein in Salzburg nicht erstmals seine Spezielle Relativitätstheorie öffentlich präsentierte, sondern seine Überlegungen zur Quantentheorie (Foto Andräschule von Ewald Ehtreiber und Foto Tafel Ferdinand Österreicher, jeweils ein Ausschnitt aus den ursprünglich farbigen Fotos).

    Deshalb und angesichts des zu erwartenden kompetenten und äußerst kritischen Publikums, zu dem natürlich auch Max Planck (1858-1947) gehören würde, wäre es verständlich gewesen, wenn Einstein für seinen Vortrag ein weniger angreifbares Thema gewählt und sich bei seinem ersten Auftritt vor der versammelten Gelehrtenwelt einfach mit einem Übersichtsvortrag über seine Spezielle Relativitätstheorie präsentiert hätte. Das aber war nicht Einsteins Art. Bekanntes vorzutragen hätte wohl weniger sein Publikum als vor allem ihn selbst gelangweilt. So offerierte er denn seine vorläufigen Ergebnisse bescheiden als „persönliche Meinung":

    Es ist jedoch meine Meinung, daß wir in bezug auf diese Seite der Frage am Anfange einer noch nicht übersehbaren, jedoch zweifellos höchst bedeutsamen Entwickelung stehen. Was ich im folgenden vorbringen werde, ist großenteils bloße persönliche Meinung bzw. Ergebnis von Überlegungen, welche eine genügende Nachprüfung durch andere noch nicht erfahren haben. Wenn ich dieselben trotzdem hier vorbringe, so ist dies nicht auf übermäßiges Vertrauen in die eigenen Ansichten zurückzuführen, sondern auf die Hoffnung, den einen oder anderen von Ihnen dazu veranlassen zu können, sich mit den in Betracht kommenden Fragen abzugeben.⁶⁷

    Aus der Äquivalenz von Energie und Masse, deren Beziehung Einstein, wie oben gesagt, für seine Hörer noch einmal hergeleitet hatte und die, wie er ausführte, die „Korpuskulartheorie" stützte, folgerte er,

    der elementare Strahlungsprozeß scheint derart zu verlaufen, daß er nicht, wie die Undulationstheorie verlangt, die Energie des primären Elektrons durch eine nach allen Seiten sich fortpflanzende Kugelwelle verteilt und zerstreut [wie dies die Maxwellsche Theorie verlangte⁶⁸], sondern […:] Der Elementarvorgang der Strahlungsemission scheint gerichtet zu sein.⁶⁹

    Des Weiteren setzte sich Einstein mit der Planckschen Strahlungsformel auseinander und zeigte nicht nur, dass man diese mit dem Begriff der Energiequanten herleiten könne, sondern auch, dass aus der Gültigkeit dieser Formel notwendig die Quantenstruktur der Strahlung folge. Er machte also ausgerechnet Planck, von dem er wusste, dass er seine Ansichten nicht teilte, zum Kronzeugen seiner Theorie:

    Die PLANCKsche Theorie annehmen heißt nach meiner Meinung geradezu die Grundlagen unserer Strahlungstheorie [gemeint sind die Maxwellschen Gleichungen] verwerfen.⁷⁰

    Und seine eigenen Anstrengungen des vergangenen Sommers zusammenfassend:

    Soviel mir bekannt ist, ist die Aufstellung einer mathematischen Theorie der Strahlung, welche der Undulationsstruktur und der aus dem ersten Glied der obigen Formel zu folgernden Struktur (Quantenstruktur) zusammen gerecht wird, noch nicht gelungen. ⁷¹

    Abschließend versuchte er eine Veranschaulichung durch ein von ihm selbst sogenanntes vorläufigen Bild, was die Einstein eigene tastende Herangehens- und Argumentationsweise veranschaulicht, die er später auch bei der Aufstellung der Gravitationsgleichungen an den Tag legen sollte, deren Anfänge im nächsten Abschnitt und deren Vollendung im nächsten Kapitel geschildert werden:

    Immerhin erscheint mir vor der Hand die Auffassung die natürlichste, daß das Auftreten der elektromagnetischen Felder des Lichtes ebenso an singuläre Punkte gebunden sei wie das Auftreten elektrostatischer Felder nach der Elektronentheorie. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in einer solchen Theorie die ganze Energie des elektromagnetischen Feldes als in diesen Singularitäten lokalisiert angesehen werden kann […]. Ich denke mir etwa jeden solchen singulären Punkt von einem Kraftfeld umgeben, das im wesentlichen den Charakter einer ebenen Welle besitzt, und dessen Amplitude mit der Entfernung vom singulären Punkte abnimmt. Sind solcher Singularitäten viele in Abständen vorhanden, die klein sind gegenüber den Abmessungen des Kraftfeldes eines singulären Punktes, so werden die Kraftfelder sich übereinanderlagern und in ihrer Gesamtheit ein undulatorisches Kraftfeld ergeben, das sich von einem undulatorischen Felde im Sinne der gegenwärtigen elektromagnetischen Lichttheorie vielleicht nur wenig unterscheidet. Daß einem derartigen Bilde, solange dasselbe nicht zu einer exakten Theorie führt, kein Wert beizumessen ist, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Ich wollte durch dasselbe nur kurz veranschaulichen, daß die beiden Struktureigenschaften (Undulationsstruktur und Quantenstruktur), welche gemäß der PLANCKschen Formel beide der Strahlung zukommen sollen, nicht als miteinander unvereinbar anzusehen sind.⁷²

    In der Diskussion ergriff wie zu erwarten Max Planck als erster das Wort, bedankte sich bei Einstein für seine Anregung zum Nachdenken und sprach dann wahrscheinlich vielen Anwesenden aus der Seele, wenn er ausführte:

    Das meiste, was der Vortragende ausgeführt hat, wird ja nicht auf Widerspruch stoßen. Auch ich betone die Notwendigkeit der Einführung von gewissen Quanten. Wir kommen mit der ganzen Strahlungstheorie nicht weiter, ohne daß wir die Energie in gewissem Sinne in Quanten teilen, die als Wirkungsatome zu denken sind. Es fragt sich nun, wo man diese Quanten suchen soll. Nach den letzten Ausführungen von Herrn Einstein wäre es notwendig, die freie Strahlung im Vakuum, also die Lichtwellen selber, als atomistisch konstituiert anzunehmen, mithin die Maxwellschen Gleichungen aufzugeben. Das scheint mir ein Schritt, der in meiner Auffassung noch nicht als notwendig geboten ist.⁷³

    Ebenfalls erwartungsgemäß sprang Johannes Stark Einstein bei:

    Herr Planck hat darauf hingewiesen, daß wir vorläufig keinen Anlaß haben, zu der Einsteinschen Konsequenz überzugehen, die Strahlung im Raume, wo sie losgelöst von Materie auftritt, als konzentriert anzusehen. Ursprünglich war ich auch der Ansicht, daß man sich vorderhand darauf beschränken könnte, das Elementargesetz zurückzuführen auf eine bestimmte Wirkungsweise der Resonatoren. Aber ich glaube doch, daß es eine Erscheinung gibt, die dazu führt, die elektromagnetische Strahlung losgelöst von Materie, im Raum als konzentriert sich vorstellen zu müssen. Das ist nämlich die Erscheinung, daß die elektromagnetische Strahlung, die von einer Röntgenröhre in den umgebenden Raum weggeht, selbst in großen Distanzen, bis zu 10 m, noch konzentriert zur Wirkung kommen kann an einem einzelnen Elektron.⁷⁴

    Planck widersprach auch Stark, indem er die „Interferenzen bei den kolossalen Gangunterschieden von Hundertausenden von Wellenlängen anführte. Stark drückte dementgegen die Hoffnung aus, dass man bei „größerem Wohlwollen für die Quantenhypothese auch dafür eine Erklärung finden könne, und Einstein stellte abschließend fest, dass er eine „prinzipielle Schwierigkeit in den Interferenzerscheinungen" nicht sehe.⁷⁵

    Das Gros des Salzburger Publikums werden weder Stark noch Einstein überzeugt haben. Ihren Abschluss fand diese Grundsatzdiskussion erst in der von Niels Bohr (1885-1962) und Werner Heisenberg (1901-1976) Ende 1927 formulierten sogenannten Kopenhagener Deutung, nach der der Wahrscheinlichkeitscharakter quantentheoretischer Vorhersagen nicht Ausdruck der Unvollkommenheit der Theorie ist, sondern des prinzipiell indeterministischen Charakters von quantenphysikalischen Naturvorgängen, was allerdings wiederum kontroverse, diesmal vor allem philosophisch grundierte Diskussionen zur Folge hatte. Unbestritten ist jedoch, dass Einsteins Vortrag in Salzburg, wie Wolfgang Pauli (1900-1958) es ausdrückte, „als einer der Wendepunkte in der theoretischen Physik angesprochen werden" kann.⁷⁶ Und Arnold Sommerfeld, den Einstein in Salzburg kennen- und schätzen gelernt hatte (von Johannes Stark war er dagegen menschlich enttäuscht)⁷⁷ und der später eingestand, dass er so lange wie irgend möglich an der Wellentheorie des Lichtes festgehalten habe, nannte 1922 in seinem Lehrbuch Atombau und Spektrallinien das durch Einstein begründete Dualitätsprinzip des Lichts „eines der tiefsten, aber auch zugleich eines der rätselhaftesten Naturgesetze".⁷⁸

    Wien 1913: Invariantentheorie im Sinne Hilberts / Zum Stand des Gravitationsproblems

    1913 traf Emmy Noether auf einer Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, die diesmal in Wien stattfand, erneut auf Einstein. Beide hatten in den vergangenen vier Jahren einen großen wissenschaftlichen Entwicklungssprung gemacht: Einstein von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie bzw. zu deren Fragestellungen und Emmy Noether von der formalen zu einer ihr eigenen modernen Form der Invariantentheorie. Beiden war nicht bewusst, dass dies die Basis ihrer späteren Zusammenarbeit werden sollte. Zwar kam es, wenn man von dem Zusammentreffen in Göttingen Ende Juni 1915 absieht, bei dem Hilbert Emmy Noether und Einstein miteinander bekannt machte,⁷⁹ niemals zu einer direkten Zusammenarbeit zwischen Einstein und Noether – der Kontakt lief immer vermittelt über Hilbert und Klein. Dennoch standen an deren Ende wichtige Ergebnisse im Kontext der Allgemeinen Relativitätstheorie, die als die Noether-Theoreme in die Geschichte der Physik eingegangen sind und Einstein tief beeindruckten.⁸⁰

    350 Zuhörer hatten sich im großen Hörsaal des I. Physikalischen Instituts der Wiener Universität versammelt, als Einstein dort seinen Vortrag Zum gegenwärtigen Stande des Gravitationsproblems hielt, der schon im Titel deutlich machte, dass Einstein wieder Unfertiges, Diskussionswürdiges vortragen würde.⁸¹

    Immerhin 60 Teilnehmer wollten am nächsten Tag Emmy Noethers Vortrag Über rationale Funktionenkörper hören, der in den Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (wahrscheinlich von Emmy Noether selbst formuliert) folgendermaßen zusammengefasst wurde:

    Es handelt sich um Körper, deren Elemente rationale Funktonen von n Unbestimmten sind. Für diese wird die Existenz einer Rationalbasis bewiesen. Ferner wird die Minimalbasis definiert und auf die Konstruktion der Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe angewandt. Endlich wird noch die Integritätsbasis definiert, und Klassen von Körpern angegeben, für die eine solche existiert.⁸²

    Wieder waren übrigens Schwester und Bruder Noether gemeinsam nach Wien gereist. Fritz war nach einem einjährigen Göttinger Intermezzo, in dem er bei dem Strömungsforscher Ludwig Prandtl (1875-1953) gearbeitet hatte, im Dezember 1911 in Karlsruhe habilitiert worden, wo er sich wie in den Zwanziger Jahren dann auch seine Schwester in Göttingen mit Lehraufträgen über Wasser zu halten versuchte.⁸³ Seit Mai 1911 war er ebenfalls DMV-Mitglied und trat nun in Wien nicht mehr nur als Begleiter seiner Schwester auf, sondern trug dort selbst vor und zwar über die Theorie der Turbulenz – ein sehr komplexes, bisher weitgehend ungelöstes Problem, mit dem sich in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Mathematikern und Physikern beschäftigt hatten und mit dem sich auf Anregung von Sommerfeld nun auch Fritz Noether abmühte. Seine 1913 erschienene Arbeit Über die Entstehung einer turbulenten Flüssigkeitsbewegung erregte immerhin so viel Aufsehen, dass der ehemalige Assistent Prandtls und später weltberühmte Strömungsforscher Theodore von Kármán (1881-1963), der damals in Aachen lehrte, diese zur Grundlage eines Vortrags über die Frage der Turbulenz machte, den er am 30. Juli 1913 in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft hielt.⁸⁴

    Eine Diskussion oder Anmerkungen wie in Salzburg gab es nach Emmy Noethers Vortrag diesmal nicht, jedenfalls sind diese nicht in den Wiener Tagungsprotokollen abgedruckt. Dafür stellte Emmy Noether ihren Vortrag in bekannter Weise wieder selbst in den Diskussionszusammenhang ihres Fachgebietes, indem sie schon in ihrem ersten Satz darauf verwies, dass die darin behandelten Fragestellungen auf Gespräche mit Ernst Fischer zurückgingen und auch nicht vergaß zu erwähnen (das ist der zweite Satz ihrer Veröffentlichung), dass einige der von ihr behandelten Fragen, und zwar „für den speziellen Fall einer Unbestimmten bereits von Ernst Steinitz (1871-1928) „aufgeworfen und erledigt worden seien.⁸⁵ Außerdem bezog sie sich auf eine frühe Arbeit über rationale Kurven des bereits verstorbenen, engen Freundes ihres Vaters Jacob Lüroth (1844-1910), auf die ebenfalls eng mit ihrem Vater verbundene italienische Schule der algebraischen Geometrie, vertreten hier durch Guido Castelnuovo (1865-1953) und Frederico Enriques (1871-1946), und natürlich auch auf Hilbert:

    Die Frage nach der Existenz der Integritätsbasis – die z. B. als Spezialfall die Endlichkeit des Invariantensystems in sich schließt – ist in etwas anderer Fassung von Hilbert in seinen „Mathematischen Problemen" als Problem der relativ ganzen Zahlen aufgeworfen.⁸⁶

    Gemeint ist hier das Problem 14 aus Hilberts berühmtem Pariser Vortrag aus dem Jahr 1900, in dem dieser in 23 ungelösten mathematischen Problemen ein Bild von der Zukunft der Mathematik entworfen hatte.⁸⁷ Problem 14 stellte die Frage nach der Endlichkeit gewisser voller Funktionensysteme oder modern ausgedrückt nach der endlichen Erzeugbarkeit eines speziellen Polynomrings über einem Körper. Und Emmy Noether bezog in diese Diskussion Hilbert auch direkt ein, indem sie, wie oben schon erwähnt, diesem im Mai 1914, ohne dazu aufgefordert zu sein, das Manuskript ihres ausgearbeiteten Körper und Systeme betitelten Wiener Vortrags für eine Veröffentlichung in den Annalen zuschickte⁸⁸ und in ihrem Begleitbrief nicht nur auf das obengenannte Problem 14 hinwies, sondern auch darauf, dass ihre Arbeit an Kapitel I von Hilberts Veröffentlichung Über die vollen Invariantensysteme anknüpfe.⁸⁹ Dieser, ein weiterer Brief⁹⁰ und natürlich vor allem ihre Arbeit über Körper und Systeme, die er wenig später als Habilitationsarbeit akzeptieren würde, waren es, die Hilbert davon überzeugten, dass er in Emmy Noether genau die Mitarbeiterin gefunden hatte, nach der er gesucht hatte. Denn anders als die meisten anderen Mathematiker beherrschte Emmy Noether, wie ihre Vorträge in Salzburg und Wien gezeigt hatten, sowohl die klassische im Stile Gordans als auch die moderne von Hilbert geprägte Invariantentheorie und wusste zudem, wie der amerikanische Wissenschaftshistoriker Colin McLarty hervorgehoben hat, beide miteinander zu verbinden.⁹¹

    Dies war es, was Carathéodory (1873-1950) in seinem Gutachten zu Emmy Noethers Habilitationsantrag zu der diesem Buch als Motto vorangestellten, ein wenig pathetisch formulierten, aber dem Grunde nach richtigen Aussage verleitete:

    Emmy Noether um 1915

    (NStuUB Gö Cod. Ms. Hilbert 754, digital bearbeiteter Ausschnitt)

    Es ist m. E. nicht anzunehmen, daß in der ganzen Welt irgend jemand anders heute existiert, der für uns erreichbar wäre und uns Fräulein Noether ersetzen könnte.⁹²

    Dies war offensichtlich auch Hilbert bewusst,⁹³ so dass er nicht nur die Einladung an Emmy Noether aussprach, sondern auch bereit war, die Mühe auf sich zu nehmen, ihre Habilitation gegen den absehbar großen Widerstand in der Fakultät durchzusetzen.⁹⁴

    Nun hatte sich Hilbert, seit er im Jahr 1900 in seinen 23 ungelösten Problemen der Mathematik als Problem 6 auch die Frage gestellt hatte, wie die Physik axiomatisiert werden kann, immer wieder mit physikalischen Themen beschäftigt, anfänglich in enger Zusammenarbeit mit seinem Freund und Kollegen Hermann Minkowski (1864-1909):

    Hermann Minkowski, undatiert

    (NStuUB Gö Cod. Ms. Hilbert 754, beschnitten)

    Mit dem Feuereifer und der rücksichtslosen Anspannung eines jungen Studenten stürzte er sich auf eine Wissenschaft, von der ihm bis dahin nur die großen Linien, Einzelheiten wenig bekannt waren. […] Hilberts Ziel ist die Axiomatik der Physik, d. h. die Aufstellung eines Komplexes von Grunderscheinungen, auf den sich alle beobachteten physikalischen Tatsachen durch lückenlose mathematische Deduktion zurückführen lassen,⁹⁵

    so Hilberts Schüler und erster Doktorand Otto Blumenthal (1876-1944) über Hilberts „Eroberung der Physik" 1922 in einer Laudatio zu Hilberts 60. Geburtstag.

    David Hilbert um 1912

    (NStuUB Gö Sammlung Voit 4, beschnitten)

    Minkowski seinerseits hatte 1908 in einem aufsehenerregenden Vortrag erstmals seine „vierdimensionale Raumzeit präsentiert,⁹⁶ ohne die, wie auch Albert Einstein trotz anfänglicher Skepsis gegen die Mathematisierung der Physik später einräumte, die Allgemeine Relativitätstheorie „vielleicht in den Windeln stecken geblieben wäre. Minkowskis für die „formale Entwicklung der Relativitätstheorie wichtige Entdeckung", so Einstein später in einer populären Darstellung der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie, liege

    in der Erkenntnis, daß das vierdimensionale zeiträumliche Kontinuum der Relativitätstheorie in seinen maßgebenden formalen Eigenschaften die weitgehendste Verwandtschaft zeigt zu dem dreidimensionalen Kontinuum des Euklidischen geometrischen Raumes. Um diese Verwandtschaft ganz hervortreten zu lassen, muß man allerdings statt der üblichen Zeitkoordinate t die ihr proportionale imaginäre Größe √-1 ct einführen.⁹⁷ Dann aber nehmen die den Forderungen der (speziellen) Relativitätstheorie genügenden Naturgesetze mathematische Formen an, in denen die Zeitkoordinate genau dieselbe Rolle spielt wie die drei räumlichen Koordinaten. […] Es muß auch dem Nichtmathematiker einleuchten, daß durch diese rein formale Erkenntnis die Theorie außerordentlich an Übersichtlichkeit gewinnen mußte.⁹⁸

    Nach Minkowskis überraschendem frühen Tod im Januar 1909, durch den Hilbert nicht nur seinen engsten Freund verlor, sondern auch seinen damals wichtigsten wissenschaftlichen Diskussionspartner, kühlte sich, der Trauer geschuldet, der ursprüngliche „Feuereifer" Hilberts, mit dem er sich der Physik gewidmet hatte, zumindest vorübergehend deutlich ab, wenn er auch niemals ganz erlosch. Als Teil seines Programms einer Grundlegung der Physik trat Hilbert dann 1912 zunächst mit einer Veröffentlichung zur kinetischen Gastheorie hervor, beschäftigte sich also, allgemein gesprochen, mit atomistischen Fragen und der Aufstellung von Gesetzen über die Bewegung vieler Einzelteile:

    Hier, so betonte Blumenthal, ist bei den wichtigsten Behauptungen noch unklar, wie, oder ob überhaupt, sie mathematisch auseinander und den zugrunde liegenden Hypothesen folgen. Auf diese ungeklärten Sachverhalte, deren Aufhellung ein schwierigstes, eigentlich mathematisches Problem ist, bezieht sich Hilberts Paradox: „Die Physik ist ja für die Physiker viel zu schwer. Es war seine erste Aufgabe, in einfachster Form die mathematischen Sätze herauszupräparieren, an deren Beweisen es noch fehlt, die Beweise selbst der Zukunft überlassend, und in dieser Weise systematisch alle Gebiete der Physik durchzumustern. Weniges von der geleisteten Arbeit ist an die Öffentlichkeit gedrungen. In Vorlesungen vorgetragen, wird es nur in den Ausarbeitungen in wenigen Exemplaren aufbewahrt. Die einzigen gedruckten Ergebnisse dieser ordnenden Tätigkeit sind die „Begründung der kinetischen Gastheorie und die „Begründung der elementaren Strahlungstheorie", die beweisen, welche starken mathematischen Hilfsmittel Hilbert in den Dienst der Physik gestellt hat. Vor allem aber eines, was nicht genug hervorgehoben werden kann: es galt und gilt für Hilbert, fortdauernd in der Physik zu lernen, alle neuen Linien ihres jetzt wechselvollen Antlitzes in sich aufzunehmen.⁹⁹

    Angesichts dieser fortdauernden Neugier auf alle physikalischen Entwicklungen verwundert es nicht, dass Hilbert Einsteins nach dessen eigenen Worten mit „unendlicher Mühe und quälendem Zweifel[n]" verbundenen Anstrengungen, eine relativistische Theorie der Gravitation und die dazugehörigen Feldgleichungen aufzustellen,¹⁰⁰ interessiert beobachtete. Und dieses fortdauernde Interesse hatte nicht nur die (wenn auch erst zwei Jahre später realisierte) Einladung Einsteins nach Göttingen zur Folge, sondern – da diese zeitlich mit dem Eintreffen Emmy Noethers in Göttingen zusammenfiel – auch, dass Emmy Noether sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigte.

    Marcel Grossmann 1909

    (Bildarchiv ETH Zürich, Portr_01239, beschnitten)

    Albert Einstein aufgenommen 1912 in Prag

    (Bildarchiv ETH Zürich, Portr_05936, geringfügig beschnitten)

    An der Wiener Tagung nahm Hilbert meines Wissens nicht teil.¹⁰¹ Doch ließ er wenige Wochen nach der Tagung, am 9. Dezember 1913 Friedrich Böhm (1885-1965), der eigentlich ein in München habilitierter Versicherungsmathematiker war, aber regelmäßig Göttingen besuchte, in der Mathematischen Gesellschaft einen ersten kurzen Bericht über die Arbeit von Einstein und Großmann über Gravitationstheorie präsentieren.¹⁰² Gemeint war der Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation, den Einstein und sein Studienfreund und Kollege an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Marcel Grossmann (1878-1936) im Sommer 1913, noch vor dem Kongress in Wien veröffentlicht hatten und der die Basis für Einsteins Wiener Vortrag bildete.¹⁰³ In dieser sogenannten Entwurfsarbeit zeichnete Einstein für den physikalischen und Grossmann für den mathematischen Teil verantwortlich.¹⁰⁴ Sie bemühten sich darin um die Aufstellung einer Feldgleichung, die beschreiben sollte, wie die Geometrie der Raumzeit und damit das Gravitationsfeld durch die Wirkung von Masse und Energie erzeugt wird. Dabei formulierten sie zugleich eine Reihe von physikalischen Forderungen: so sollte die Feldgleichung als Näherung die Gleichungen der Speziellen Relativitätstheorie liefern, für kleine Geschwindigkeiten das klassische Newtonsche Gravitationsgesetz als Grenzfall einschließen und natürlich auch mit den Prinzipien der Energie- und Impulserhaltung verträglich sein. Grossmann und Einstein mussten also die neue Mathematik der Raumzeit mit dem bekannten physikalischen Wissen in Übereinstimmung bringen – ein Balanceakt, der ihnen zunächst nicht gelang.¹⁰⁵

    Einstein hatte seinen physikalischen Teil mit dem sogenannten Äquivalenzprinzip begonnen, nach dem Gravitations- und Trägheitskräfte wesensgleich seien, was der Ausgangspunkt seiner Allgemeinen Relativitätstheorie war:

    Die im folgenden dargelegte Theorie ist aus der Überzeugung hervorgegangen, daß die Proportionalität zwischen der trägen und der schweren Masse der Körper ein exakt gültiges Naturgesetz sei,¹⁰⁶ das bereits in dem Fundamente der theoretischen Physik einen Ausdruck finden müsse. Schon in einigen früheren Arbeiten suchte ich dieser Überzeugung dadurch Ausdruck zu verleihen, daß ich die schwere auf die träge Masse zurückzuführen suchte; dieses Bestreben führte mich zu der Hypothese, daß ein (unendlich wenig ausgedehntes homogenes) Schwerefeld sich durch einen Beschleunigungszustand des Bezugssystems physikalisch vollkommen ersetzen lasse. Anschaulich läßt sich diese Hypothese so aussprechen: Ein in einem Kasten eingeschlossener Beobachter kann auf keine Weise entscheiden, ob der Kasten sich ruhend in einem statischen Gravitationsfelde befindet, oder ob sich der Kasten in einem von Gravitationsfeldern freien Raume in beschleunigter Bewegung befindet, die durch an dem Kasten angreifende Kräfte aufrecht erhalten wird (Äquivalenz-Hypothese).¹⁰⁷

    Mathematisch griffen Einstein und Grossmann auf das damals sogenannte absolute Differentialkalkül zurück, ein auf der Grundlage der Riemannschen Geometrie von dem italienischen Mathematiker Gregorio Ricci-Curbastro (1853-1925) entwickeltes, bisher von den Physikern kaum bis gar nicht genutztes mathematisches Instrument.¹⁰⁸ Im Wesentlichen, so Tilman Sauer und David Rowe in einer kurzen, aber instruktiven Zusammenfassung von Einsteins Bemühungen um die Aufstellung der Feld- oder Gravitationsgleichungen enthielt dieser Entwurf bereits

    alle Elemente der vollendeten allgemeinen Relativitätstheorie […]: die zentrale Rolle des metrischen Tensors zur Repräsentation des Gravito-Inertialfeldes,¹⁰⁹ die Repräsentation der felderzeugenden Quellen durch einen symmetrischen Energie-Impuls-Spannungstensor¹¹⁰ und die Aufstellung allgemein kovarianter Bewegungsgleichungen.¹¹¹

    „Was noch fehlte", so Sauer und Rowe abschließend über Einsteins Entwurfsarbeit von 1913, „waren allgemein kovariante Feldgleichungen."¹¹²

    Oder in Einsteins eigenen Worten:

    Bei der Verfolgung dieser allgemeinen Aufgaben stoßen wir aber zunächst auf eine prinzipielle Schwierigkeit. Wir wissen nicht, bezüglich welcher Gruppe von Transformationen die gesuchten Gleichungen kovariant sein müssen. Am natürlichsten erscheint es zunächst, zu verlangen, daß die Gleichungssysteme beliebigen Transformationen gegenüber kovariant sein sollen. Dem steht aber entgegen, daß die von uns aufgestellten Gleichungen des Gravitationsfeldes diese Eigenschaft nicht besitzen. Wir haben für die Gravitationsgleichungen nur beweisen

    können, daß sie beliebigen linearen Transformationen gegenüber kovariant sind; wir wissen aber nicht, ob es eine allgemeine Transformationsgruppe gibt, der gegenüber die Gleichungen kovariant sind.¹¹³

    Und abschließend selbstkritisch zu von ihm für „unannehmbar" gehaltenen Konsequenzen seiner noch vorläufigen Theorie:

    Ich muß freilich zugeben, daß für mich das wirksamste Argument dafür, daß eine derartige Theorie zu verwerfen sei, auf der Überzeugung beruht, daß die Relativität nicht nur orthogonalen linearen Substitutionen gegenüber besteht, sondern einer viel weiteren Substitutionsgruppe gegenüber. Aber wir sind schon deshalb nicht berechtigt, dieses Argument geltend zu machen, weil wir nicht imstande waren, die (allgemeinste) Substitutionsgruppe ausfindig zu machen, welche zu unseren Gravitationsgleichungen gehört.¹¹⁴

    Nun hatte Einsteins und Grossmanns Entwurf aufgrund seiner unerhört neuen, für die meisten Physiker zunächst inakzeptablen Schlussfolgerungen eine Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen, die mit teilweise abstrusen, teilweise aber auch durchaus begründeten Einwänden versuchten, Einstein zu widerlegen.¹¹⁵ Die wenigsten seiner Fachkollegen hatten sich jedoch mit dem mathematisch sehr anspruchsvollen Entwurf genauer beschäftigt; die meisten hatten nur gerüchteweise gehört, dass Einstein eine neue Theorie entwickelt habe, die kein Mensch verstehen könne und die jeder Erfahrung widerspreche. So verwundert es nicht, dass zu Einsteins Wiener Vortrag Zum gegenwärtigen Stande des Gravitationsproblems die Massen strömten – diesmal hatte man ihm die Ehre erwiesen, den allen Teilnehmern offenstehenden Einleitungsvortrag der Tagung zu halten – und der Große Hörsaal des Wiener Physikalischen Instituts am 23. September 1913 morgens um 9 Uhr voll besetzt war. Und wir können wohl mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass auch Emmy und Fritz Noether unter den Zuhörern waren. Denn auch wenn Emmy kein natürliches physikalisches Interesse hatte, so doch ganz sicher Fritz Noether, und von den aufsehenerregenden Thesen Einsteins wird auch Emmy Noether damals schon gehört haben.

    Einstein begann in Wien ganz elementar mit Newton und Maxwell:

    Das Erscheinungsgebiet der Physik, dessen theoretische Durchleuchtung zuerst gelang, war dasjenige der allgemeinen Massenanziehung. Die Gesetze der Schwere und der Bewegungen der Himmelskörper wurden von Newton auf ein einfaches Gesetz der Bewegung des Massenpunktes und auf ein Gesetz der Wechselwirkung zweier gravitierender Massenpunkte reduziert. Diese Gesetze haben sich als derart exakt zutreffend erwiesen, daß vom Standpunkte der Erfahrung aus kein entscheidender Grund vorliegt, an der strengen Gültigkeit derselben zu zweifeln.¹¹⁶

    Durch die Theorie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1