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Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850-1914
Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850-1914
Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850-1914
eBook593 Seiten6 Stunden

Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850-1914

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Über dieses E-Book

Welche Geräusche prägten einst den Alltag der Großstadt? Wie wurde die zunehmende Vielfalt der urbanen Lautsphäre von den Menschen wahrgenommen und beurteilt? Am Beispiel der Stadt Wien wird erstmals die auditive Kultur einer der wichtigsten europäischen Metropolen der Zeit um 1900 vorgestellt. Im Zentrum steht jene historische Periode, in der Wien sich zur modernen Großstadt entwickelte. Die ungeheure Dynamik dieser Zeit veränderte nicht nur das Stadtbild nachhaltig, sie ließ auch eine neuen Hör-Diskurs entstehen. Immer intensiver wandte sich die öffentliche und private Aufmerksamkeit dem Lärm zu. Und dies durchaus mit Ambivalenz. Denn der Lärm stellt sich als komplexes Phänomen dar, an dem – paradigmatisch und bis heute – Fragen der Stadtentwicklung, der Kultur- und Zivilisationskritik, aber auch ökonomische Konflikte abgehandelt werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum16. Juli 2018
ISBN9783205231530
Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850-1914
Autor

Peter Payer

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Publizist. Er führt ein Büro für Stadtgeschichte und arbeitet als Kurator im Technischen Museum Wien. Vorstandsmitglied des Vereins für Geschichte der Stadt Wien und des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Zahlreiche Publikationen und Preise. www.stadt-forschung.at.

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    Buchvorschau

    Der Klang der Großstadt - Peter Payer

    Vorwort

    Vorneweg ein Aviso: Die Lektüre dieses Buches erfordert ein Ablegen vertrauter Hörgewohnheiten, eine Bereitschaft, sich auf neue Hörerlebnisse einzulassen. Dabei kann es zu einer vorübergehenden Stimulierung Ihrer akustischen Fantasie kommen, bis hin zu einer gesteigerten, möglicherweise nicht immer angenehmen Sensibilität gegenüber akustischen Reizen. Ich selbst befand mich bisweilen in der paradoxen Situation, beim Schreiben über Lärm gleich mehreren störenden Geräuschen ausgesetzt zu sein, die ich zuvor keineswegs derart intensiv wahrgenommen hatte. Das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz wird gerade bei der Erforschung dieses Themas zu einer der wichtigsten Voraussetzungen. Der »belauschte Lärm« (Ulrich Holbein) gibt – so scheint es – seine Geheimnisse nicht ohne Opfer preis.

    Dass nicht nur die individuelle, sondern auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für unsere akustische Umgebung Veränderungen unterliegt, soll mit dem vorliegenden Buch gezeigt und insbesondere anhand des komplexen Verhältnisses von Stadt und Lärm näher untersucht werden. Meine Beschäftigung damit begann bereits im Jahr 2000 und wurde seither sukzessive vertieft und erweitert. Sie versteht sich als Fortsetzung meiner bisherigen Arbeiten im Schnittbereich von Sinnes- und Stadtgeschichte – exemplarisch dargestellt anhand der Großstadtwerdung Wiens.

    Die flüchtige Welt der akustischen Erscheinungen erweist sich allerdings als nicht gerade leicht zu fassender Forschungsgegenstand. Nur allzu gut haben wir uns mittlerweile an die weitgehende Lautlosigkeit der Geschichte gewöhnt. Zudem haben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Geräusche unserer urbanen Umwelt und parallel dazu unsere Hörgewohnheiten auf zum Teil dramatische, jedenfalls nachhaltige Weise zu wandeln begonnen.

    Kurzum: Wir alle sind erst dabei zu lernen, was die Geschichte der auralen Kultur uns über die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu sagen hat. Und dies auch im Bewusstsein der Gefahr, dass es sich dabei um die künstliche Isolierung eines Sinns handelt und dabei die stets vorhandene Interdependenz aller Sinne aus analytischen Gründen weitgehend außer Acht gelassen werden muss. Ziel und Hoffnung der folgenden Seiten ist es, eine bewusstere Beschäftigung mit unserer akustischen Umwelt zu stimulieren – für vergangene Zeiten genauso wie für die aktuelle Befindlichkeit.

    Für zur Verfügung gestellte Materialien, wertvolle Hinweise und Anregungen bedanke ich mich herzlich bei Wolfram Aichinger, Peter Androsch, Christoph Bernhardt, Karin Bijsterveld, Julia Danielczyk, Helga Dirlinger, Peter Donhauser, Anne Ebert, Ernst Gerhard Eder, Julia Encke, Brigitte Felderer, Gerhard Fürnweger, Gerhard Geissler, John Goodyear, Marcus Gräser, Sibylle Grün, Hans Christian Heintschel, Mirko Herzog, Thomas Hofmann, Christian Klösch, Heinrich Kren, Helmut Lackner, Matthias Lenzt, Lutz Muster, Lisa Noggler-Gürtler, Martina Nußbaumer, Hannes Payer, Gerd Pichler, Susanne Pils, Ingrid Prucha, Alexander Reisenleitner, Petra Schneider, August Schick, Gabriele Schuster-Klackl, Christian Stadelmann, Hannes Steil, Georg Vasold, Hubert Weitensfelder, Verena Winiwarter, Susana Zapke und Chris Zintzen-Bader.

    Ein ganz besonderer Dank gebührt schließlich meiner Familie, Barbara und Lena, als stets präsente Begleiterinnen auf meinem Weg des Forschens und Schreibens. Sie sind der Resonanzboden, der auch dieses Buch zum Erklingen brachte. Möge das Ergebnis wohlwollend Gehör finden!

    Peter Payer

    Wien und Küb, Frühjahr 2018

    Einleitung

    An einem schönen Sommertag des Jahres 1907 unternahm der renommierte Dramaturg und spätere Direktor des Wiener Burgtheaters Alfred Freiherr von Berger (1853–1912) ein ebenso bemerkenswertes wie simples Experiment. Er begab sich in den Garten seines Hauses in Unter St. Veit, einem Wiener Stadtteil, der – wie er betonte – gemeinhin als ruhig galt,¹ und begann die ihn umgebende »Stille« akustisch zu analysieren. Minutiös registrierte er die Geräusche der Großstadt, ganz so, »wie man gelegentlich das Trinkwasser, das man täglich genießt, chemisch und bakteriologisch untersuchen lässt«. Dabei nahm Berger folgende »Hauptgeräusche als teils gleichzeitig, teils in rascher Aufeinanderfolge sich ereignend« wahr:

    Drei Musikkapellen, eine sehr nahe, eine etwas weiter, eine ganz fern; zwei bellende Hunde, einer in tiefer, einer in hoher Stimmlage; einen winselnden Hund; Wagengerassel; Glockengeläute; das Schwirren und Tuten zweier Automobile; das Zwitschern vieler Spatzen; zwei Klaviere; eine singende Dame; ein Mikrophon, das abwechselnd ein Orchesterstück und ein gesungenes englisches Lied vorführte; den Schrei eines Pfaus; das entfernte Gebrüll der wilden Tiere in der Schönbrunner Menagerie; die Sirenen aus mindestens drei verschieden entfernten Fabriken; das heulende Wimmern eines elektrischen Motorwagens; das Rädergerassel und Bremsengekreisch eines Stadtbahnzuges; das Pfeifen und Pusten der Rangierlokomotiven der Westbahn; das Metallgeräusch der aneinanderstoßenden Puffer; das Rauschen des Windes in den Bäumen; einen Papagei; das wüste Geschrei der die Gäule eines Lastwagens antreibenden Kutscher; das Dengeln einer Sense; Trompetensignale aus einer Kaserne; Ausklopfen von Teppichen und Möbeln; das Pfeifen eines Vorübergehenden; das Zischen des Wasserstrahls, mit dem der Nachbargarten begossen wird; eine Drehorgel; die Glockenschläge und das dumpfe Rollen der Dampftramway.²

    Das Erlauschen einer derartigen Vielzahl an unterschiedlichen akustischen Eindrücken kann als unmittelbarer Ausdruck der zunehmenden Dichte und Komplexität großstädtischen Lebens gelesen werden. Das Nebeneinander von modernen und vormodernen Arbeits- und Lebensrhythmen zeichnet sich ebenso deutlich ab wie die sukzessive Ausbreitung einer zunehmend technisierten Stadtzivilisation in ihr immer weniger naturbelassenes Umland. Ein typischer »Großstadtwirbel« war entstanden, wie der Journalist und Schriftsteller Felix Salten (1869–1945) die neue urbane Geräuschkulisse nannte.³ Die penibel durchgeführte Hörprobe verweist aber auch paradigmatisch auf die gestiegene Aufmerksamkeit, die die Großstadtmenschen zur Jahrhundertwende ihrer akustischen Umgebung entgegenbrachten. Die rasanten sozialen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen, denen Wien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war, hatten eine Fülle an neuen Geräuschen entstehen lassen, die von der Bevölkerung erst adaptiert werden mussten. Neue Modalitäten der Aufmerksamkeit bildeten sich heraus, die gesamte auditive Kultur der Stadt veränderte sich.

    Bergers Sensibilität für Fragen der akustischen Reizung spiegelt den zeitgenössischen Lärm-Diskurs wider, der – zumindest in bürgerlich-liberalen Kreisen – relativ heftig geführt wurde. In Europa wie in Amerika waren Lärmschutzbewegungen entstanden, die auf die gesundheitlichen Folgen des Lärms aufmerksam machten. Medizinische Fachblätter und führende Tageszeitungen brachten ausführliche Berichte über die neuen akustischen Verhältnisse in den Großstädten. Ärzte und Psychiater sahen sich mit den Auswirkungen der Lärmüberflutung ebenso konfrontiert wie städtische Gesundheitsbeamte und Hygieneinspektoren, die eine deutliche Zunahme an diesbezüglichen Beschwerden registrierten. Ingenieure, Architekten und Städtebauer suchten nach Möglichkeiten der Lärmreduktion, in Vorträgen und auf Tagungen über Hygiene und Gesundheitspflege wurde der Lärm bzw. dessen Vermeidung zum wichtigen Thema.

    Die vorliegende Arbeit will die gesellschaftlichen Hintergründe dieser Entwicklung erhellen und am Beispiel der Stadt Wien untersuchen, wie sich die Geräuschkulisse des öffentlichen Raumes und parallel dazu die akustische Wahrnehmung der Bevölkerung veränderte. Das Hauptinteresse richtet sich dabei auf jene unerwünschten Geräusche, die unter dem Begriff »Lärm« zusammengefasst werden. Der Untersuchungszeitraum von 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs umfasst jene historische Periode, in der Wien sich zur modernen Großstadt und letztlich viertgrößten Metropole Europas mit über zwei Millionen Einwohnern entwickelte. Die ungeheure Dynamik dieser Jahrzehnte, die mit der Demolierung der Basteien ihren visuell wie akustisch eindrucksvollen Anfang nahm, veränderte nicht nur das Stadtbild nachhaltig, sie ließ auch eine neue Gesundheitsorientierung entstehen, die nicht ohne Auswirkungen auf die Rezeption des Lärms bleiben sollte. Die Modernisierung und Großstadtwerdung Wiens verlangte neue Strategien im Umgang mit dem Lärm, die – so meine These – im Wesentlichen bis heute aktuell sind. Wohl hat es bereits früher einzelne Klagen über Lärm und auch Maßnahmen zu seiner Verminderung gegeben,⁴ erstmalig wurde nun jedoch der Lärm von einem individuellen zu einem gesellschaftlichen Problem, das von führenden sozialen Klassen und hier insbesondere dem Bürgertum auf breiter Basis diskutiert wurde.

    Die Geschichtswissenschaft betritt bei der Erforschung des Lärms noch immer Neuland. Als Pioniere auf diesem Gebiet können die US-amerikanischen Umwelthistoriker Raymond W. Smilor und Lawrence Baron angesehen werden, die sich um 1980 erstmals mit historischen Formen des Kampfes gegen den Lärm beschäftigten⁵ und deren Forschungen inzwischen von Kollegen wie Warren Bareiss oder Peter A. Coates fortgeschrieben wurden.⁶

    Abb. 1: »Biedermeiers Klage«, Karikatur, 1891

    Im deutschen Sprachraum war es zu jener Zeit lediglich die Medizingeschichte, die sich dieses Themas annahm (Siegfried Krömer, Erich Neisius).⁷ Die deutsche historische Umweltforschung konzentrierte sich lange Zeit auf die klassischen Problemfelder der Luft- und Gewässerverunreinigung. Erst seit Mitte der 1990er-Jahre entstanden erste größere Publikationen. So analysierte der Sozialhistoriker Klaus Saul in einer grundlegenden Studie den Kampf gegen die »Lärmpest« im Deutschen Kaiserreich,⁸ Hans-Joachim Braun gab einen kurzen Überblick über die Lärmbekämpfung in der Zwischenkriegszeit.⁹ Matthias Lentz, Richard Birkefeld und Martina Jung, Michael Toyka-Seid sowie jüngst John Goodyear und vor allem Daniel Morat stellten Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und Lärm in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen.¹⁰ Sie alle ermöglichen interessante Vergleiche von Wien mit deutschen Städten, insbesondere mit Berlin, und auch zu einigen französischen Städten liegen mittlerweile relevante Studien von Olivier Balay, Olivier Faure und Jean-Pierre Gutton vor.¹¹

    Einen wertvollen Vergleich bieten auch die Arbeiten der niederländischen Technikhistorikerin Karin Bijsterveld, die sich seit einigen Jahren intensiv mit symbolischen Aspekten des Sounds beschäftigt, mit dessen Bedeutung für die zentrale Narration und Identität von Städten sowie mit der europäischen und nordamerikanischen Lärmschutzbewegung.¹² Letzterer widmete sich auch Emily Thompson in ihrem Buch »The Soundscape of Modernity«, einer vor allem technisch-architektonische Aspekte behandelnden Studie zur amerikanischen Hör-Kultur zwischen 1900 und 1933.¹³ Eine kurze, an den »cultural studies« orientierte Geschichte des Lärms, seiner Definition, Wahrnehmung und Bedeutung für die verschiedenen Gesellschaftsschichten präsentierte schließlich Peter Bailey, der vehement für eine stärkere Beachtung dieser »sozialen Energie« plädiert, denn

    noise is a specific historic phenomenon that can signify more than outrage. It is an expressive and communicative resource that registers collective and individual identities, including those of nation, race and ethnicity (…); it is a ready form of social energy, with the power to appropriate, reconfigure or transgress boundaries; it converts space into territory, often against the social odds.¹⁴

    Diese Anregung aufgreifend, werden im Folgenden nicht – wie bisher zumeist – die sozialen Bewegungen gegen den Lärm im Mittelpunkt stehen, vielmehr soll eine breite kulturwissenschaftliche, die akustische Produktion mit der Rezeption verknüpfende Analyse geboten werden. Neben den oben genannten Autoren wird dabei von einer Akustikforschung ausgegangen, wie sie bereits Ende der 1960er-Jahre vom kanadischen Komponisten Murray R. Schafer in seinem Soundscape-Projekt über die Veränderung von Klanglandschaften entwickelt¹⁵ wurde – ein Ansatz, der in Europa zunächst vor allem aufseiten der Sozialgeschichte und der historischen Anthropologie vorangetrieben wurde (Alain Corbin, Max Ackermann, Dietmar Kampfer, Christoph Wulf, Monika Dommann).¹⁶ Im anglo-amerikanischen Sprachraum entstanden parallel dazu zahlreiche kulturwissenschaftlich fundierte »Sound Studies«¹⁷, denen mittlerweile auch im deutschen Sprachraum einschlägige Publikationen folgten.¹⁸ Als durchaus wegweisend kann die im Jahr 2013 erschienene, von Gerhard Paul und Ralph Schock initiierte Großstudie zur Soundgeschichte des 20. Jahrhunderts gelten. Der darin von den Herausgebern formulierte Grundsatz liegt auch dem vorliegenden Werk zugrunde: »Töne, Klänge und Geräusche sind uns (…) nicht nur Quellen für etwas; vielmehr sehen wir in ihnen eigenständige Themen der Betrachtung.«¹⁹

    Gleichsam als Ergänzung dazu sollen nunmehr erstmals Sound- und Stadtgeschichte umfassend verschränkt werden. Am Beispiel der Großstadt Wien wird gezeigt, wie sich die urbane Geräusch- bzw. Lärmkulisse veränderte, wie diese Veränderungen von der Bevölkerung wahrgenommen und bewertet wurden und welche Auswirkungen sie auf die Stadtentwicklung und die Gestaltung des öffentlichen Raumes hatten. Eine zentrale, auch zivilisationshistorisch bedeutsame Frage, die es dabei zu beantworten gilt, ist jene nach der Art der akustischen Sensibilitätsveränderung: Haben sich die Toleranzschwellen tendenziell eher mehr in Richtung Abstumpfung und Gewöhnung verschoben, wie dies etwa Corbin vermutet?²⁰ Oder ist im Gegenteil eine gesteigerte Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegenüber Lärm zu verzeichnen?

    Entsprechend der Komplexität des Phänomens Lärm wird eine möglichst vielfältige, interdisziplinär orientierte Quellengrundlage herangezogen, die uns zumindest indirekt Aufschluss über die affektive Dimension des Auralen erlaubt: Beiträge in Tageszeitungen und Fachzeitschriften, Stadtschilderungen und Reiseberichte, Autobiografien und andere Selbstzeugnisse aufmerksamer »Ohrenzeugen«, Anstands- und Benimmbücher, Verwaltungsberichte, Gesetzestexte sowie Hand- und Lehrbücher der Psychologie, Medizin, Hygiene, Physik, Architektur und des Städtebaus.

    Besonderes Augenmerk gilt dabei den Stadtbeobachtungen und Erfahrungsberichten der Journalisten. Rolf Lindner hat darauf hingewiesen, dass gerade deren Erzeugnisse eine überaus ergiebige Quelle für urbanistische Fragestellungen darstellen: Keine andere zeitgenössische Berufsgruppe verfügt über ein vergleichbares Spektrum an Anschauungswissen über die Großstadt; keine andere Gruppe ist sich des ungleichzeitigen Nebeneinanders von Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft derart bewusst; und keine andere Gruppe ist gleichsam schon von Berufs wegen in die Großstadt als Urbanitätslabor eingebunden. Journalisten sind, so Lindner, ein exemplarisches Produkt dieses Labors, als Reflektoren ebenso wie als Protagonisten.²¹

    Ergänzt um die Analyse von Quellenbeständen aus dem Stadtarchiv Hannover, wo sich u. a. zahlreiche Wien betreffende Dokumente der frühen Antilärmbewegung befinden, galt es, den Versuch einer Stadtgeschichte aus akustischer Perspektive zu unternehmen und die vielschichtigen Transformationsprozesse der Moderne und ihre Auswirkungen auf den Alltag aus einer neuen Sicht zu analysieren. Nicht zuletzt soll damit auch die österreichische Stadtgeschichtsforschung, die sich im letzten Jahrzehnt in eine breite, kulturwissenschaftlich und interdisziplinär orientierte Richtung entwickelt hat, um eine wesentliche Facette bereichert werden.²² Wobei gerade die »Musikstadt Wien« ein überaus lohnendes Objekt für eine historische Untersuchung von »noise scapes« darstellt, wie bereits Roman Horak und Siegfried Mattl feststellten.²³

    Am Beginn stehen zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur Problematik der Erforschung vergangener Hörgewohnheiten. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass es in diesem Bereich der Sinnesgeschichte stets nur um eine – kontextbezogene – Annäherung, nie aber um eine objektive Rekonstruktion gehen kann. Gerade die Frage, ab wann ein Geräusch als Lärm wahrgenommen wird, setzt spezielle soziale und psychische Dispositionen voraus. Des Weiteren werden die beträchtlichen Umwälzungen der Lautsphäre im 19. Jahrhundert dargelegt, ebenso wie das leidenschaftliche Interesse der Zeit an Fragen des Hörens, das sich nicht zuletzt in der Entstehung der Akustik als eigener Wissenschaft widerspiegelt.

    Abb. 2: Musikstadt Wien: Ansichtskarte, um 1900

    Im Anschluss daran werden die Grundzüge des Wandels der Wiener Geräuschkulisse skizziert. Welche Geräusche verschwanden allmählich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Stadt, welche neuen kamen hinzu, wie breiteten sich diese aus? Was waren die physisch-materiellen Voraussetzungen für diese Veränderungen? Die Großstadtwerdung Wiens wird insbesondere in ihren baulichen und infrastrukturellen Aspekten beleuchtet; deren Auswirkungen auf die akustischen Verhältnisse werden dargelegt, sodass damit auch einige wichtige quantitative Eckdaten vorliegen.

    Vor diesem Hintergrund wird in einem zentralen Kapitel der soziale Aspekt der Lärmfrage untersucht. Zu einem unüberhörbaren Kennzeichen großstädtischen Lebens geworden, wird die Auseinandersetzung mit dem Lärm als gesellschaftlich-kulturelle Konstruktion begriffen, als Teil jenes mächtigen Diskurses, in dem sich Momente der Kultur- und Zivilisationskritik mit jenen des Klassenkampfes und der vielfach empfundenen Überreizung der Sinne trafen. Bürgerliche Hygiene- und Gesundheitsbewegungen sowie die Entdeckung der »Nervosität« als der Krankheit des modernen Stadtmenschen ließen eine auditive Wahrnehmungskultur entstehen, in der Ruhe zur obersten Bürgerpflicht erhoben wurde. Am Beispiel des Verschwindens von Straßenhändlern und Straßenmusikern wird gezeigt, wie das Verhalten im öffentlichen Raum reglementiert und diszipliniert wurde, bis sich schließlich weite Bereiche der Stadt gleichermaßen akustisch wie sozial gereinigt präsentierten. Den gereizten Nerven des Großstädters, der dem Lärm und der Hektik in seiner Sommerfrische – im Reisegepäck stets eine beträchtliche Portion Zivilisationskritik – zu entkommen suchte, werden die Apologeten der modernen Zeit (Künstler, Literaten, Musiker) gegenübergestellt, denen der Lärm zum Inbegriff der Urbanität geworden war.

    In einem weiteren Kapitel werden die Auswirkungen der internationalen, insbesondere der deutschen Lärmschutzbewegung auf Wien analysiert, wobei deren Initiator, dem Publizisten und Kulturphilosophen Theodor Lessing (1872–1933), besondere Aufmerksamkeit gilt. Er entfaltete auch in Wien eine breite Agitationstätigkeit und fand in den beiden Schriftstellern Hugo von Hofmannsthal und Alfred Hermann Fried prominente Befürworter seines Kampfes. Die hier getroffenen Maßnahmen zur Verminderung der Lärmbelästigung werden beschrieben und ihre Auswirkungen auf die (sozial)räumliche Entwicklung der Stadt untersucht. Mehrmals aufgegriffen wird das Verhältnis von Musik und Lärm, eingedenk der Tatsache, dass gerade Musiker und Komponisten zu den sensibelsten »Ohrenzeugen« ihrer Zeit gehören. Abschließend wird ein Ausblick auf das 20. und frühe 21. Jahrhundert unternommen, indem die entstandenen akustischen Sensibilitäten auf ihre Nachhaltigkeit untersucht und wichtige neue Entwicklungstendenzen dargelegt werden.

    Dass die akustische Umweltverschmutzung ein virulentes Problem darstellt, steht außer Zweifel. Lärm ist zu einer der wichtigsten Krankheitsursachen unserer Zeit geworden, zu einem der häufigsten Auslöser für Stress, Schlaflosigkeit und Bluthochdruck und zum – nach dem Rauchen – zweitgrößten Risikofaktor für Herzinfarkt. In ganz Europa sind heute geschätzte 125 Millionen Menschen andauerndem Verkehrslärm ausgesetzt.²⁴ Besonders dramatisch stellt sich die Situation in den Ballungsräumen dar, wo der Kfz-Verkehr längst zum allerorts wahrnehmbaren »Grundrauschen« gehört.

    Jede größere Stadt hat mittlerweile ein eigenes Amt für Lärmbekämpfung eingerichtet; Lärmkataster werden erstellt und eigene Lärmschutzzonen verordnet; verschiedenste technische Maßnahmen werden erprobt, bis hin zur Einführung von so verheißungsvoll klingenden Neuerungen wie »Flüsterasphalt«. Experten warnen vor der »Verlärmung« ganzer Stadtteile und der Ausbreitung von »Lärmghettos«, Gebieten also, in denen der Lärm eine derartige Dominanz erreicht, dass er zum hemmenden sozioökonomischen Entwicklungsfaktor wird. Nicht zuletzt verdeutlicht auch die steigende Anzahl der Menschen, die am Wochenende der Stadt entfliehen, die Dringlichkeit des Problems.

    Neben den gesundheitlichen Faktoren wird zunehmend auch die ökonomische Dimension des Lärms deutlich: Im Jahr 2003 berechnete der »Verkehrsclub Österreich«, dass der Wertverlust von Häusern, Wohnungen und Grundstücken durch Lärmbelastung allein in Österreich rund 1,14 Milliarden Euro pro Jahr beträgt. Pro Dezibel Lärmbelastung sinkt der Wert von Immobilien um ein Prozent.²⁵

    Auf internationaler Ebene ist seit Ende der 1990er-Jahre eine verstärkte Sensibilisierung für Fragen der Lärmbelästigung festzustellen. So verabschiedete die EU im November 1996 die Richtlinie »Future Noise Policy«. Seit 1998 wird jährlich ein internationaler »Tag gegen Lärm« (Noise Awareness Day) ausgerufen – ein Vorhaben, das zumindest einmal im Jahr die mediale Aufmerksamkeit für Lärm zu bündeln versucht. Bisheriger Höhepunkt waren zweifellos die Aktivitäten der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz. Als »Europäische Kulturhauptstadt« des Jahres 2009 stellte sie mit ihrem Projekt »Hörstadt« erstmals die Akustik der Stadt in den Mittelpunkt zahlreicher kultureller und politischer Veranstaltungen – mit großem Erfolg und auch international positivem Feedback. Im Jahr 2013 schließlich wurden in Umsetzung einer EU-weiten Richtlinie und als weitere Innovation strategische Umgebungslärmkarten veröffentlicht, die österreichweit der Bewertung und Bekämpfung von Lärm dienen.

    Wie konstatierte die Hamburger Wochenzeitschrift »Die Zeit« unmissverständlich: »Der Lärm kriecht in die letzten Winkel, zerstört Oasen der Ruhe, verkürzt Schlaf und Regenerationszeiten. Gleichsam gottgegeben wird er von vielen als eine unabänderliche Begleitmusik der modernen Industriegesellschaft hingenommen. Früher waren Schwefeldioxid oder Ruß nicht hinwegzudenken, heute ist es Lärm. (…) Die Gesellschaft ist auf dem besten Wege, vor einem Phänomen zu kapitulieren, das sie selbst geschaffen und zum Teil auch selbst gewollt hat. Ein Leben ohne Lärm gibt es nicht mehr: Er ist überall.«²⁶

    Annäherung

    Vergangenes Hören

    Mit dem allgemeinen Trend zur Sinnlichkeit, der seit den 1990er-Jahren immer mehr Bereiche unserer »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze) erfasst – von Theatern und Museen bis hin zu Shopping- und Wellness-Zentren –, begann auch aufseiten der historischen Wissenschaften eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sinne. Autoren wie Diane Ackerman, David Howes, Constance Classen, Robert Jütte oder Waltraud Naumann-Beyer legten umfassende Überblicksstudien über europäische und außereuropäische Kulturen vor, zahlreiche Monografien untersuchen die sich wandelnden Gebrauchsweisen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens, Ausstellungen und Symposien vermitteln das Thema einer breiten Öffentlichkeit.²⁷ Angesichts der Erkenntnis, dass Sinneserfahrungen zu den frühesten und elementarsten Welterfahrungen des Menschen gehören, findet mittlerweile eine mehr ganzheitlich orientierte Forschung statt, die deutlich weniger von der verbreiteten Dominanz des Sehsinns geprägt ist. Die visuellen Vergangenheitsbilder werden um akustische, olfaktorische, geschmackliche und haptische Bilder ergänzt und erweitert, die neue Aufschlüsse über historische Lebenswelten, Wertvorstellungen oder auch soziale und kulturelle Verbindungs- und Grenzlinien versprechen. Die Gesamtheit der von einer Gesellschaft gemachten Sinneserfahrung wird als konstitutiv für die Herausbildung homogener Gefühlslagen und sozialer Verhaltensformen erkannt.²⁸

    Ausgegangen wird dabei von einer grundsätzlichen Historizität menschlicher Sinneswahrnehmungen. Sie werden nicht mehr ausschließlich als biologisch determiniert begriffen, sondern zu einem wesentlichen Teil auch als Produkt unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse – eine Einsicht, die bereits Walter Benjamin (1892–1940) in seinem berühmten Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« formulierte:

    Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt –, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.²⁹

    Der aktuelle historische Forschungsstand ist allerdings durchaus unterschiedlich, wie Robert Jütte in seiner grundlegenden »Geschichte der Sinne« betont. So überwiegen bislang eindeutig historische Studien über den Seh, Gehör- und Geruchssinn, während der Tast- und der Geschmackssinn eher selten die Aufmerksamkeit der Historiker gefunden haben.³⁰

    Für die in den letzten Jahren deutlich zunehmende Beschäftigung mit der Genese des Hörens, die mittlerweile als »Acoustic Turn« bzw. »Aural Turn« bezeichnet wird,³¹ erweist sich rückblickend das 19. Jahrhundert als besonders ergiebig. Das Wissen über die Funktionsweise des Ohres nahm in dieser Epoche rapide zu, während gleichzeitig die bisherigen Hörgewohnheiten im Zuge der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Urbanisierung zutiefst irritiert und erschüttert wurden. Es war vor allem die Großstadt, dieses große Labor der Moderne, in der die gewohnten Formen der Aufmerksamkeit auf den Prüfstand kamen. Hier begannen sich die tradierten Wahrnehmungsmuster am frühesten aufzulösen und umzuformen. Die von Gottfried Korff benannte »innere« Urbanisierung, also das »Handeln, Denken und Fühlen im Urbanisierungsprozess«, modifizierte die psychosoziale Befindlichkeit des modernen Stadtmenschen nachhaltig.³² Ein neues Regime der Sinne entstand.³³

    Der Literaturwissenschaftler Heinz Brüggemann hat die in zahlreichen zeitgenössischen Texten beschriebenen Wahrnehmungskollisionen in den Metropolen untersucht und dabei u. a. auf den Schock hingewiesen, den der ohrenbetäubende Lärm bei vielen Stadtbesuchern auslöste. Erst allmählich bildete sich ein neues, der urbanen Situation angepasstes Wahrnehmungsvermögen heraus, das seinen Niederschlag schließlich auch in neuen literarischen Darstellungsformen fand.³⁴

    Deutlicher und rascher als an anderen Orten der Gesellschaft manifestierten sich in der Großstadt die Entwicklungstendenzen, aber auch die Probleme einer Zivilisation, deren kollektive Affekte und Mentalitäten sich erkennbar zu verschieben begannen. Die Analyse dieses Prozesses aus akustischer Sicht birgt ein beträchtliches, noch weitgehend unerforschtes Erkenntnispotenzial, betont der Kulturwissenschaftler Christoph Wulf: »Das Klappern von Pferdehufen und das Scheppern von Milchkannen gehören für die Städter unserer Tage zu einer vergangenen Welt. Mit der industriellen, der elektromechanischen und der elektronischen Revolution entstehen bis dahin unbekannte Geräusche (…), deren Analyse im Zusammenhang mit einer historischanthropologischen Erforschung des Zivilisationsprozesses interessante Erkenntnisse verspricht.«³⁵

    Auf einer etwas konkreteren Ebene ist zu erwarten, dass sich in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Ausbreitung der neuen Geräusche zentrale Konflikte und Bruchlinien des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts widerspiegeln: die soziale Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse, der damit verbundene Kampf um politische und symbolische Macht, der Diskurs über zunehmende Verfeinerung oder Abstumpfung der Sinne, über Fortschrittsoptimismus und Technikeuphorie versus Kulturpessimismus und Zivilisationskritik, aber auch über die vielfältigen Reize der anonymen Großstadt versus die Sehnsucht nach überschaubarer ländlicher Idylle.

    Abb. 3: Großstadt-Feeling: Wien-Praterstern, um 1910

    Dabei stellt die Erforschung der Historizität der akustischen Wahrnehmung ein Vorhaben dar, das es von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen aus durchzuführen gilt. Bereits Theodor Lessing wies in seiner 1908 erschienenen Kampfschrift gegen den Lärm auf die verschiedenen Zugangsweisen zu dieser Thematik hin, für die sich, wie er meinte, neben der Physiologie und der Psychologie notwendigerweise auch die Tonpsychologie, die Musikwissenschaft, die Otologie (Ohrenheilkunde), die Psychophysik, die Hygiene, die Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Philosophie interessieren.³⁶ Auch Lessings Zeitgenossen Walter Benjamin, Siegfried Kracauer oder Georg Simmel machten die offensichtlichen Veränderungen der Wahrnehmung im Kontext der modernen Großstadt zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Die Bemühungen dieser Pioniere der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung können als ein frühes Phänomen der reflexiven Moderne (Ulrich Beck) verstanden werden, die sich über die Bedingungen und Risiken ihrer eigenen Herkunft, Ausdifferenzierung und Dynamik ein Bewusstsein zu verschaffen suchte. Die eine konkrete Stadt konstituierenden Töne, Bilder oder Zeichen werden dabei als Artikulationen ihrer Repräsentation verstanden, die uns über soziale Schichtungen, Macht- und Geschlechterverhältnisse oder ökonomische Ungleichheiten Aufschluss geben. Und nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch Auskunft darüber zu erwarten, welche Bedeutung der akustischen Wahrnehmungskultur in der urbanen Lebenswelt für die Herausbildung von Identität und kulturellem Zusammenhalt zukommt.³⁷

    Der geschilderten Fülle an interessanten Fragestellungen an die Wahrnehmung der akustischen Welt von gestern steht aufseiten des überlieferten Quellenkorpus eine relativ schwierige Situation gegenüber. So ist zunächst und vor allem zu bedenken, dass jedes akustische Ereignis unmittelbarste Gegenwart ist, also ein extrem flüchtiges Phänomen, das bis zur Erfindung von technischen Aufnahmegeräten keine Spuren hinterließ. Oder, um es mit den Worten von David Lowenthal, einem frühen Erforscher der Geschichte der Umweltwahrnehmung, zu sagen: »Nichts von dem, was unser menschliches Ohr vernimmt, ist alt.«³⁸ Zwar gibt es eine lange Tradition der Beschreibung und Weitergabe bestimmter Töne mithilfe der menschlichen Sprache und des bis ins Mittelalter zurückreichenden Systems der Notenschrift, die Entwicklung von Techniken zur Konservierung und Reproduktion von Schallwellen erfolgte allerdings erst im 19. Jahrhundert. Es war der französische Forscher Edouard-Leon Scott de Martinville (1817–1879), der im Jahr 1860 die erste Tonaufzeichnung auf einem von ihm entwickelten »Phonautographen« durchführte.³⁹ 1877 konstruierte der Multi-Erfinder Thomas Alva Edison (1847–1931) einen »Phonographen«, mit dem Töne aufgezeichnet und wiedergegeben werden konnten. Danach folgten noch Jahrzehnte der technischen Weiterentwicklung, bis um 1900 ausgereiftere Aufnahme- und Wiedergabeapparate in größerer Zahl zur Verfügung standen.⁴⁰ (Eine der ältesten erhaltenen Tonaufnahmen stammt übrigens von Kaiser Franz Joseph, aufgenommen im August 1903 in Bad Ischl. Sie befindet sich im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem 1899 gegründeten, ältesten Schallarchiv der Welt.)

    Die Möglichkeit, Töne zu konservieren und anschließend wiederzuerwecken, ist – Lowenthal zufolge – auch ein häufiges Thema in der fantastischen Literatur. Zumeist wird dabei auf die treffende Metapher vom Einfrieren vergangener Töne und von ihrem späteren Auftauen zurückgegriffen. So staunt bereits Rabelais’ Figur Pantagruel auf einer Segelfahrt am Rande des Eismeers über einen großen Lärm, ohne dass irgendetwas zu sehen wäre: Kanonendonner, Kugelpfeifen, Ächzen und Geschrei, Geklirr von Streitäxten und Pferdewiehern – die Geräusche einer großen Schlacht, die im vorigen Winter hier stattfand, waren in der eisigen Luft erstarrt und tauten erst jetzt zu Hörbarkeit auf. Und auch der Baron von Münchhausen erzählt von einem Winter, der so kalt war, dass die Töne im Horn eines Jägers einfroren und erst im Tauwetter des Frühlings wieder zu vernehmen waren.⁴¹

    Generell gilt somit: Bei der historischen Analyse akustischer Phänomene ist man in der Regel auf indirekte Quellen angewiesen, wobei sich neben normativen Texten (Gesetze und Verordnungen, Anstands- und Benimmbücher, Gesundheitsratgeber etc.) vor allem medizinische, hygienische und philosophisch-ästhetische Abhandlungen, literarische Beschreibungen (v. a. Stadtschilderungen und Reiseberichte) sowie sogenannte Ego-Dokumente (Briefe, Tagebücher, Autobiografien) als besonders ergiebig erweisen. Sie alle liefern zwar nur bruchstückhafte, kaum quantifizierbare Informationen, stellen letztlich aber wertvolle Hinweise dar, die zumindest Annäherungen an eine vergangene Kultur des Hörens ermöglichen. Bei der konkreten Interpretation der Quellen sind nach Alain Corbin »strenge Vorsichtsmaßnahmen« zu beachten:⁴² Die Aufstellung eines Inventars vergangener Geräusche allein, wie dies etwa Guy Thuillier für ein französisches Dorf im Nivernais Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte,⁴³ scheint wenig zielführend, gibt sie doch noch keinen Aufschluss über den damaligen Gebrauch des Gehörsinns, der sich jedenfalls ganz wesentlich von unserem heutigen Gebrauch unterscheidet. Unverzichtbar ist es, mit zu berücksichtigen, welche kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung dem Hören zu bestimmten Zeiten im Vergleich mit den übrigen Sinnen zukommt, wie sich das Hören in die geltenden Vorstellungen über die Rangordnung der Sinne einfügt und welcher wissenschaftliche Kenntnisstand über die Funktionsweise des Hörens existiert. Weiters ist zu bedenken, dass die überlieferten Quellen oft gerade nicht von den alltäglichen Geräuschen sprechen, die bereits zur Gewohnheit geworden sind. Es gilt, die Normen aufzuspüren und geltende Toleranzschwellen auszuloten, nach denen die Trennung zwischen dem Gesagten und Ungesagten festgelegt wurde, wobei das Ungesagte keineswegs immer auch das Unbemerkte bedeuten muss.

    Nachdrücklich ist bei der Erkundung der komplexen Welt des Akustischen an die Worte des französischen Historikers und Erforschers der europäischen Mentalitäten, Georges Duby (1919–1996), zu erinnern: »Und vor allem muss man in Rechnung stellen, was niemals geschrieben wurde, das Nichtgesagte aufspüren, das Schweigen ausdeuten und noch anderen, flüchtig-geheimen Spuren nachgehen, die Bedeutung von Zeichen im weitesten Sinn entdecken, die geringfügigsten Hinweise aufnehmen.«⁴⁴

    Einen von der Umweltschutzbewegung her kommenden Zugang beschreitet Murray R. Schafer (geb. 1933), Begründer des »Akustikdesigns« und der »Klangökologie« (Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Mensch und akustischer Umwelt)⁴⁵. Wenngleich sein Ansatz – am ausführlichsten dargelegt in seiner kulturhistorischen Studie »Klang und Krach« – aus heutiger Sicht als allzu konservativ und modernitätsskeptisch bezeichnet werden muss,⁴⁶ so führte er doch ein begriffliches Instrumentarium in die Klangforschung ein, das sich für die historische Analyse als recht brauchbar erweist. So prägte er u. a. den Begriff der »Lautsphäre« als einer Schallumwelt, die die spezifischen Geräusche eines Ortes charakterisiert, wobei er generell zwischen drei Arten von Geräuschen unterscheidet: Grundtöne, die von Geografie, Klima und Fauna bestimmt werden und als ständig präsentes Hintergrundgeräusch vielfach nicht mehr bewusst wahrgenommen werden; Signallaute, die klar konturierte Übermittler bestimmter Botschaften, insbesondere auch Warnzeichen darstellen (Glockenläuten, Sirenenton); Orientierungslaute, die als charakteristische Geräusche besondere Beachtung finden und Erkennbarkeit vermitteln.⁴⁷

    Schafers Beschreibung der Veränderungen der einzelnen Lautsphären (er unterscheidet eine natürliche, ländliche, städtische, vor- und nachindustrielle Lautsphäre) berücksichtigt allerdings, wie der Schweizer Sozialpsychologe Alexander M. Lorenz zu Recht anmerkt, zu wenig den sozialhistorischen Kontext und lässt die Rezeptionsseite weitgehend außer Acht.⁴⁸ Daran anknüpfend kann festgestellt werden, dass eine fundierte Analyse des historischen Umgangs mit Geräuschen idealerweise aus zwei Richtungen erfolgt: Zum einen gilt es, die jeweils herrschenden akustischen Rahmenbedingungen abzustecken. Der Historiker nimmt dabei die Rolle eines »Ohrenzeugen« ein, der – in Anlehnung an eine Formulierung Elias Canettis⁴⁹ – hört, was es zu hören gibt, alles gut einsteckt und nichts vergisst. Dieser Rekonstruktionsversuch muss nicht immer anhand von Zeitzeugenberichten geschehen. So kann man sich beispielsweise der Ausbreitung des Straßenbahngeräusches in der Stadt auch über die zunehmende Verdichtung des Streckennetzes annähern. Zum anderen ist anhand der oben beschriebenen Quellen jenen Diskursen nachzugehen, die zu bestimmten Zeiten über das Hören auftauchen. Die daraus ableitbaren Wahrnehmungs- und Sensibilitätsveränderungen, nach Lucien Febvre eines der lohnendsten Felder der Geschichtsforschung,⁵⁰ sind sodann kritisch zu interpretieren. Wobei stets auch mitbedacht werden muss, dass sich akustische Eindrücke mit den Mitteln der Sprache von vornherein nur näherungsweise beschreiben lassen.

    Der Gehörsinn und seine Stellung in der Hierarchie der Sinne

    »Mit der Zeit ward das Gehör mein liebster Sinn.«

    Sören Kierkegaard, 1843

    Aus anthropologischer Sicht weist der Gehörsinn zahlreiche Besonderheiten auf, die ihn von den anderen Sinnen unterscheiden.⁵¹ So ist das mit rund 18.000 Sinneszellen ausgestattete Ohr das weitaus sensibelste aller Sinnesorgane. Der menschliche Hörbereich reicht bei jungen Erwachsenen von 16 bis 20.000 Schwingungen pro Sekunde (Hertz), beträgt also mehr als zehn Oktaven. Insgesamt können damit je nach Lautstärke und Frequenz bis zu 300.000 Töne unterschieden werden, womit das akustische Wahrnehmungsfeld um ein Vielfaches größer ist als beispielsweise das visuelle, das lediglich eine Oktave beträgt.⁵²

    In der menschlichen Entwicklung stellt das Ohr jenes Sinnesorgan dar, das als erstes voll ausgebildet und funktionsfähig ist. Bereits viereinhalb Monate nach der Befruchtung der weiblichen Eizelle hat das innere Hörorgan, die Cochlea (Schnecke), ihre endgültige Größe erreicht, während alle anderen Teile des Körpers noch bis zum 17. oder 18. Lebensjahr wachsen. Der Fötus hört die Stimme der Mutter, ihr Atmen, ihren Blutkreislauf, ihre Darmtätigkeit. Von ferne hört er die Stimme anderer Personen, vernimmt er angenehme und unangenehme Geräusche, auf die er zu reagieren in der Lage ist. Über den Gehörsinn treten wir als Erstes mit unserer Umwelt in Kontakt; über ihn werden wir angesprochen, bevor wir geboren werden; mit ihm hören wir andere, bevor wir sie sehen, riechen oder berühren.

    Und dies andauernd und ununterbrochen. Denn im Gegensatz zu anderen Sinnesorganen ist das Ohr jederzeit empfänglich und nicht willkürlich verschließbar. Eine ständig aktivierte Alarmanlage: Akustisch sind wir immer wach, auch während des Schlafes, und selbst wenn wir die Ohren mit künstlichen Hilfsmitteln verstopfen, ist noch das Rauschen unseres Blutes vernehmbar. Erst mit dem Tod endet auch die Fähigkeit zu hören, wobei das Ohr zumeist jener Sinn ist, der als letzter verlöscht. Die Wahrnehmung von Geräuschen und Tönen begleitet den Menschen somit über die längste Zeitspanne seines Lebens hinweg.

    Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel (1858–1918) spricht in diesem Zusammenhang vom Ohr als dem »schlechthin egoistischen Organ, das nur nimmt, aber nicht gibt«, diesen Egoismus allerdings damit büße, dass es dazu verurteilt sei, alles zu nehmen, was in seine Nähe kommt. Erst mit dem Mund, mit der Sprache, zusammen erzeuge das Ohr den innerlich einheitlichen Akt des Nehmens und Gebens.⁵³ Damit wird der Gehörsinn zu dem sozialen Sinn. Wir hören einander zu, lernen dadurch selber sprechen und letztlich auch verstehen. Wir vernehmen Wörter und lernen ihre Bedeutungen. Wir sind der Stimme und ihrem Ausdruck zutiefst affektiv verbunden, nehmen im Zuhören bewusst oder unbewusst etwas vom innersten Wesen des Gegenübers wahr. Schon für Johann Gottfried Herder (1744–1803), der sich in seiner berühmten, 1772 veröffentlichten »Abhandlung über den Ursprung der Sprache« intensiv mit dem Wesen und der Wirkung des Hörens auseinandersetzte, war das Ohr die eigentliche Tür zur Seele:

    Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne. Nicht so deutlich, wie das Auge ist es auch nicht so kalt; nicht so gründlich wie das Gefühl ist

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